Sonntag, 1. November 2015

Wellenfahrt ins Glück – „Auf dem Segler“ von Caspar David Friedrich


Caspar David Friedrich: Auf dem Segler (1818); St. Petersburg, Eremitage
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Ein Paar sitzt bei untergehender Sonne Hand in Hand im Bug eines Segelschiffes. Das Boot ist mit zwei Vorsegeln und einem großen Gaffsegel am Mast getakelt; im von links kommenden Wind neigt es sich nach rechts. Es handelt sich um einen Schiffstyp, wie er an der Ostseeküste für Fischerei, kleinere Warentransporte und zur Personenbeförderung verwendet wurde. Der Mann trägt ein dunkelblaues Samtkostüm und ein altdeutsches Barett, die Frau ein rotes Kleid mit weißem Spitzenkragen. Die beiden Figuren sind in Rückenansicht und kleinem Maßstab wiedergegeben, wodurch sich der greifbar nahe hölzerne Mast und die geblähten Segel in der rechten Bildhälfte beinahe dramatisch vergrößern. 
Caspar David Friedrich (1777–1840) hat sein Gemälde an allen vier Seiten ungewöhnlich beschnitten: Das Boot wird dadurch in einer Weise verkürzt, dass wir als Betrachter den Eindruck gewinnen, selbst an Bord zu sein; die Schräglage des Mastes vermittelt uns zusätzlich das Gefühl, das Auf und Ab der Wellen zu verspüren, der aufgerichtete Bug und die windgefüllten Segel wecken die Empfindung von starker, frischer Brise, die das Schiff vorwärts treibt. Friedrich nimmt mit einer solchen ausschnitthaften, für seine Zeit ungewöhnlichen Darstellung des Seglers Kompositionen der Impressionisten vorweg, wie wir sie z. B. von Gustave Caillebotte kennen. 
Gustave Caillebotte: Ruderer mit Zylinder (1877/78); Paris, Courtesy Comité Gustave Caillebotte
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Mann und Frau blicken gemeinsam zum Ufer hin, zu einer Stadt, deren Kirchen und Häuser aus nebligem Dunst auftauchen. Es sind Türme und Gebäude, die sich in Dresden, Greifswald und Stralsund befinden. Der Himmel über der Stadt nimmt einen hellen, weißlich-gelben Schein an, der in leichtes Gewölk übergeht, in dem noch ein Abglanz der Sonne gelb-rötliche Farbtöne mit dem Grau der Wolken mischt.
Die besondere Verbundenheit des Paares wird nicht nur durch die gemeinsame Blickrichtung, die spiegelbildliche Sitzhaltung und die ineinandergelegten Hände betont.
Werner Busch hat darauf hingewiesen, dass Friedrich darüber hinaus in der Komposition seines Bildes zwei Linien des Goldenen Schnitts nutzt, um die Zusammengehörigkeit der beiden Figuren hervorzuheben: Die untere Waagerechte des Goldenen Schnitts verläuft exakt in Augenhöhe von Mann und Frau, und die linke Senkrechte kreuzt wiederum exakt in der Mitte zwischen den beiden Köpfen. ,,So ist das Paar auf ewig aneinandergebunden, was die Hände darunter versinnbildlichen“ (Busch 2003, S. 107).
Bei dem Paar handelt es sich wahrscheinlich um den Künstler selbst und seine junge Frau Caroline Bommer. Friedrich galt zeit seines Lebens als ,,menschenscheuer Melancholiker“. Umso größer war das Erstaunen seiner Freunde und Bekannten, als der 44-Jährige am 21. Januar 1818 die 19 Jahre jüngere Caroline Bommer heiratete. Solch einen Entschluss hatte man dem Maler nicht zugetraut. 1816 war Friedrich die Mitgliedschaft der Dresdener Akademie angetragen worden, was für ihn bedeutete, zum ersten Mal über laufende Bezüge von 150 Talern jährlich verfügen zu können. Erst das regelmäßige, gesicherte Einkommen erlaubte wohl die Gründung eines Hausstandes. Drei Kinder wurden dieser Ehe geboren, zwei Töchter und ein Sohn. Im Sommer 1818 unternahm das junge Paar seine Hochzeitsreise in Friedrichs heimatliche Umgebung. Es besuchte dabei auch die Insel Rügen – wenig später entstanden die berühmten Kreidefelsen auf Rügen (Winterthur, Stiftung Oskar Reinhart; siehe meinen Post ,,Hochzeitsbild oder religiöse Meditation?“).
Caspar David Friedrich: Frau vor der auf-/untergehenden Sonne (um 1818); Essen, Museum Folkwang
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Nach seiner Hochzeit tauchten in Friedrichs Bildern nun öfter weibliche Rückenfiguren auf, so z. B. in der Frau vor der auf-/untergehenden Sonne (Essen, Museum Folkwang, um 1818; siehe meinen Post „Abenddämmerung oder Morgensonne?“) oder in der Frau am Fenster (Berlin, Nationalgalerie, 1822). Der Mensch begann in Friedrichs Werken eine größere Rolle zu spielen – schon allein durch den Maßstab der Figuren, aber auch dadurch, dass neben der einzelnen, in der Größe gesteigerten Rückenfigur jetzt auch häufiger Paare und Freundesgruppen auftraten, wie z. B. in der 1995 wiederentdeckten Gartenlaube (München, Neue Pinakothek, um 1818) oder dem bekannten Gemälde Zwei Männer in Betrachtung des Mondes (Dresden, Gemäldegalerie, 1819). In den Jahren zuvor hatte Friedrich die Figuren im Bild sehr klein dimensioniert, um die Natur, die sie anschauen, um so mächtiger und erhabener wirken zu lassen – man denke nur an den Mönch am Meer (siehe meinen Post „Eisiges Schweigen“).
Caspar David Friedrich: Gartenlaube (um 1818); München, Neue Pinakothek
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Antonia Isergina, die Friedrichs Auf dem Segler 1956 bekannt machte, bezog das Bild auch inhaltlich ganz auf die Heirat des Künstlers mit Caroline Bommer: Sie interpretierte das Architekturpanorama am Horizont als Verheißung des nahenden Eheglücks und die Tageszeit entsprechend als Morgenstimmung. Der Friedrich-Spezialist Helmut Börsch-Supan wiederum hat das Gemälde religiös gedeutet, als Meditation über das Lebensthema des Künstlers: Diesseits und Jenseits, Zeit und Ewigkeit. Das Bild sei weit mehr als eine Momentaufnahme von der Hochzeitsreise des Paares, es handele sich vielmehr um ein gemaltes Gleichnis. Darauf verweise der erwartungsvolle Blick der beiden auf die sich nähernde Stadt. Sie sei das Ziel für die ihrem Ende zutreibende Lebensfahrt. Am Himmel zeige sich daher nicht das Morgenlicht, sondern die Abenddämmerung; die im Nebelschimmer auftauchende Hafenstadt könne als Sinnbild und Vision des himmlischen Jerusalem verstanden werden. Busch vermittelt zwischen diesen beiden Deutungen: ,,Dies ist ein Bild über das Glück und nicht über den Tod, der allerdings als Ahnung das Leben immer begleitet“ (Busch 2003, S. 107/108).
Im Herbst 1820 kam der Großfürst Nikolai Pavlovitsch (seit 1825 Zar Nikolaus I.) mit seiner Gemahlin Alexandra Fjodorowna (einer Tochter des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II.) zum ersten Mal nach seiner Hochzeit nach Deutschland. Bei einem Besuch in Friedrichs Atelier Ende 1820 fand die Stimmung des Bildes offensichtlich so großen Anklang bei dem Paar, dass der spätere Zar es erwarb. Lange Zeit hing es in Schloss Cottage, der Sommerresidenz der Zarenfamilie in Peterhof bei St. Petersburg; seit 1945 befindet es sich in der Eremitage von St. Petersburg.
Carl Gustav Carus: Kahnfahrt auf der Elbe bei Dresden (1827);
Düsseldorf, Museum Kunstpalast
1827 griff Friedrichs Künstlerfreund Carl Gustav Carus (1789–1869) das Motiv von dessen Gemälde in einem eigenen Bild nochmals auf: Die Kahnfahrt auf der Elbe bei Dresden zeigt wie Auf dem Segler ein als Rückenfiguren gezeigtes Paar in einem Ruderboot, das auf eine eindeutig als Dresden identifizierbare Stadt zuhält. Mann und Frau sind allerdings deutlich größer dargestellt und anders als bei Friedrich auch nicht sofort als Paar erkennbar. Erst der Hut am rechten Bildrand verweist darauf, dass die beiden zusammengehören.

Literaturhinweise
Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Prestel Verlag, München 52005;
Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Seine Gedankengänge. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 2023, S. 209-210;
Busch, Werner: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. C.H. Beck, München 2003;
Ebert-Schifferer, Sybille (Hrsg.): Von Lucas Cranach bis Caspar David Friedrich. Deutsche Malerei aus der Ermitage. Hirmer Verlag, München 1991, S. 184-186;  
Grave, Johannes: Glaubensbild und Bildkritik. diaphanes, Zürich 2011, S. 109-112; 
Hofmann, Werner: Der Kontext hat das letzte Wort. In: IDEA VII (1988), S. 67-74;
Isergina, Antonia: Unbekannte Bilder von C. D. Friedrich. In: Bildende Kunst 5 (1956), S. 263-266 und 275-276. 
 
(zuletzt bearbeitet am 5. Februar 2024) 

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