Donnerstag, 5. März 2020

„Ich kann alle meine Gebeine zählen“ – Niclaus Gerhaerts monumentales Steinkruzifix in Baden-Baden (1467)


Der sterbende oder tote Jesus am Kreuz ist das zentrale Thema der christlichen Kunst. Unzählige Male ist es in allen Bildgattungen dargestellt worden, vor allem in den Jahrhunderten des Mittelalters. Am häufigsten haben wohl die gotischen Bildhauer und Bildschnitzer dem gekreuzigten Erlöser plastische Gestalt verliehen.
Die Kruzifixe aus gotischer Zeit (ca. 1150 bis ca. 1500) sind meist lebens- oder leicht überlebensgroß; kleinere wurden für unterschiedliche Zwecke angefertigt, vor allem für Altäre. Viele sind noch erhalten, wenn oft auch in späteren Jahrhunderten verändert, meist durch immer wieder neu aufgetragene Farbfassungen. Einzelne Werkgruppen oder Aspekte gotischer Kruzifixe haben in der Kunstwissenschaft besondere Beachtung gefunden, vor allem die Crucifixi dolorosi des 14. Jahrhunderts, die das Martyrium der Kreuzigung und den entstellten Leichnam Christi sehr drastisch dargestellt haben. Am Anfangs steht hier das Passionskreuz aus der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol: Um 1300 entstanden (siehe meinen Post „Um unsrer Sünden willen zerschlagen“), war dieses Kruzifix in der deutschen Bildschnitzkunst eine Innovation von höchster künstlerischer und handwerklicher Qualität. Es stammt sehr wahrscheinlich aus der Hand eines Wanderkünstlers; unverkennbar waren die Kölner Schnitzer stark beeindruckt von dieser Skulptur des Gekreuzigten, denn ihr Einfluss dauerte fast hundert Jahre an. Eine ähnliche Ausstrahlung hatte im 15. Jahrhundert das große steinerne Kruzifix von Niclaus Gerhaert, dass der in Leiden geborene Bildhauer 1467 für den Friedhof in Baden-Baden anfertigte.
Niclaus Gerhaert: Steinkruzifix (1467), Baden-Baden, Schlosskirche
Niclaus Gerhart (seit 1462 in Straßburg nachweisbar, gest. 1473 in Wiener Neustadt) ist mit dem Ulmer Meister Hans Multscher (1400–1467) der bedeutendste Bildhauer des 15. Jahrhunderts. Seine Werke prägten maßgeblich die gesamte nachfolgende spätgotische Skulptur im süddeutschen Raum, die beiden Kruzifixe von seiner Hand sind von zentraler Bedeutung für die Geschichte der Kreuzigungsdarstellungen. Neben dem signierten und datierten Steinkruzifix von 1467, auf das ich her näher eingehen will, ist noch ein hölzernes Werk im Hochaltar der Nördlinger Georgskirche erhalten. Zwar ist es weder durch Signatur noch historische Quellen als Arbeit des Straßburger Künstlers beglaubigt, doch hat sich die Zuschreibung weitgehend durchgesetzt.
Das seit 1967 in der Stiftskirche von Baden-Baden aufgestellte Steinkruzifix von Gerhaert lässt sich mit Recht als wahrhaft monumentales Werk bezeichnen: Ist schon die Gesamthöhe der Skulptur mit 6,42 Metern gewaltig, so erstaunt umso mehr, dass der knapp überlebensgroße Corpus Christi mitsamt dem Kreuz aus einem einzigen riesigen Sandsteinquader von über viereinhalb Metern Höhe, über zwei Metern Breite und fast neunzig Zentimetern Tiefe herausgemeißelt wurde. Nur der Felshügel mit allerlei Getier, Schädeln und Knochen als Sinnbild für den Hinrichtungsort Golgatha und der stufige Unterbau sind separat gearbeitet und aus mehreren Steinen zusammengefügt. Bis auf die ehemals eingesetzten Dornen gibt es keinerlei Anstückungen, weder an den Haarsträhnen, den in sich verschlungenen Zweigen der extrem durchbrochenen Dornenkrone, noch an Zehen und Fingern oder den auf wenige Millimeter gedünnten Enden des Lendentuches. Nicht weniger verblüfft, wie weit Gerhaert das Steinmaterial zwischen Figur und Kreuz reduziert. Wo möglich, hat der Künstler den Körper vom Stamm gelöst und ihn nur wenn unabdingbar mit Stegen stabilisiert.
Der Leib Christi, mit weit ausgestreckten, leicht erhobenen Armen und stark nach unten gezogenen Füßen ans Kreuz geschlagen, hängt gerade vor dem Kreuzbalken, ohne seitliches Ausbiegen und Abknicken der Knie nach vorn. Der ausgemergelte Körper mit dünnen Beinen und schmächtigem Thorax ist aufs Äußerste gespannt. Das Haupt mit ehemals riesiger Dornenkrone neigt sich nur wenig nach vorn und nach links; das schulterlange Haar fällt in größtenteils durchbrochenen, in sich leicht gewellten Strähnen bewegt herab und umhüllt das Gesicht. Während alle älteren gotischen Kruzifixe geprägt sind von dem Gegensatz zwischen Thorax und den vergleichsweise dünnen ausgebreiteten Armen Christi, hat Gerhaert den Corpus des Gekreuzigten in hohem Maß als geschlossene und künstlerisch einheitliche Form gestaltet.
Gerhaerts Kruzifix in der Gesamtansicht
Verblüffend ist nicht nur die handwerkliche Virtuosität Gerhaerts, sondern auch der bis dahin nicht gekannte Verismus seiner Skulptur: An dem hageren, zugleich aber auch wohlgeformten Leib Christi zeichnen sich nicht nur deutlich die sich durchdrückenden Rippen und der zwischen Hüftknochen und Rippenbogen eingefallene Bauch ab; sichtbar sind ebenso die Adern an den Gliedmaßen und das Spiel der Muskeln an Armen, Thorax und Beinen, die an Oberschenkeln und Waden verkrampfen. Gleiches gilt auch für die Falten an Gesicht, Hals, Händen und Füßen.
Eine in der mittelalterlichen Bildhauerkunst unbekannte Naturnähe zeigt sich darüber hinaus in der Wiedergabe des feinen Lendentuchstoffes, den berindeten Zweigen der Dornenkrone oder dem Kreuz, das im Kreuzbalken und im Auszug den Eindruck erweckt, es bestehe aus massiven Stämmen mit dicker Rinde und zahlreichen abgesägten Astansätzen. Diese Suggestion wird noch gesteigert durch die „Verdübelung“ von Horizontal- und Querbalken des Kreuzes und der rückseitig vorgetäuschten Versplintung der Dübel; ebenso durch den „i.n.r.i.“-Titulus über dem Haupt Christi, der als ein auf eine Holztafel gemaltes Pergament geformt ist, und nicht zuletzt beim Stifterwappen, das mit einem Lederriemen über einem Nagel hängend „befestigt“ wurde.
Der Verismus der Darstellung wurzelt zum einen sicherlich in der altniederländischen Malerei etwa eines Jan van Eyck (um 1390–1441). Er ist aber auch theologisch begründet, denn insbesondere der überdehnte Körper, dessen Knochen sich unter der pergamentdünnen Haut abzeichnen, verweisen auf eine alttestmentliche Prophezeiung aus Psalm 22: „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. Denn Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Ich kann alle meine Gebeine zählen; sie aber schauen zu und weiden sich an mir. Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand“ (Psalm 22,15-19; LUT).
Das abgezehrte Gesicht Christi wird von der übergroßen Dornenkrone beinahe erdrückt. Die Augen sind halb geschlossen; eine schmale, leicht gebuckelte Nase liegt zwischen eingefallenenen Wangen, unter denen sich die hochgelegenen Backenknochen abzeichnen. Der Mund ist leicht geöffnet, der Lippenbart nur summarisch angegeben, seine seitlichen Enden sind in kleine Locken aufgelöst. Beim vorragenden Kinnbart wurden noch einzelne Strähnen herausgearbeitet, aber auch sie bleiben eingebunden in die Gesamtoberfläche. Die hohe Stirn, auf der noch ein Blutstropfen hängt, wird fast vollkommen von der raumgreifenden, aus knorrigen Ästen geflochtenen Dornenkrone verdeckt, die mit einem Dorn in die Stirnhaut eindringt.
Das über der linken Hüfte verknotete Lendentuch lässt den Oberschenkel fast ganz frei; auf der rechten Seite fällt es, sich leicht aufbauschend, senkrecht neben dem Oberschenkel herab. Zum ersten Mal in der süddeutschen Skulptur lässt ein Bildhauer – ohne Rücksicht auf den natürlichen Fall des Stoffes – das Tuchende vor dem Leib Christi frei im Raum schweben. Das Ergebnis ist eine kunstvoll arrangierte, weitgehend verselbständigte ornamentalen Form. Das Lendentuch in Bauschungen, Dellen, Umschlägen und mit frei im Raum schwingenden Enden sich entfalten zu lassen und so ein großes dekoratives Gewandmotiv mit der traditionellen Aktdarstellung des Gekreuzigten zu verbinden, ist eine Erfindung und Entwicklung der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Der niederländische Meister Rogier van der Weyden (1400–1464) war einer der ersten, der in der Malerei lange Lendentuchenden in großen Kurven frei um den Leib Christi rotieren ließ (siehe meinen Post Aus eins mach drei“). Der Bildhauer Veit Stoß (um 1447–1533) wird später dieses Motiv in äußerster Kunstfertigkeit und großem Reichtum entfalten (siehe meinen Post „Auf die Trommel gespannt“).
Veit Stoß: Holzkruzifix (um 1516/20); Nürnberg, St. Lorenz
Conrad von Sinsheim: Steinkruzifix (1473); Maulbronn, Kloster Maulbronn
Als Beispiel für den nachhaltigen Einfluss, den Gerhaerts Baden-Badener Werk ausübte, sei auf das überlebensgroße steinerne Kruzifix im Kloster Maulbronn hingewiesen, das 1473 datiert ist und dem Meister Conrad von Sinsheim zugeschrieben wird.

Literaturhinweise
Kahsnitz, Rainer: Veit Stoß, der Meister der Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 123-178;
Ohnmacht, Mechthild: Das Kruzifix des Niclaus Gerhaert von Leyden in Baden-Baden von 1467. Typus – Stil, Herkunft – Nachfolge. Peter Lang, Frankfurt/M. 1973;
Roller, Stefan (Hrsg.): Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des späten Mittelalters. Michael Imhof Verlag, Petersberg: 2011, S. 217-219;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

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