Der sterbende oder tote Jesus am Kreuz
ist das zentrale Thema der christlichen Kunst. Unzählige Male ist es in allen
Bildgattungen dargestellt worden, vor allem in den Jahrhunderten des
Mittelalters. Am häufigsten haben wohl die gotischen Bildhauer und
Bildschnitzer dem gekreuzigten Erlöser plastische Gestalt verliehen.
Die Kruzifixe aus gotischer Zeit (ca.
1150 bis ca. 1500) sind meist lebens- oder leicht überlebensgroß; kleinere
wurden für unterschiedliche Zwecke angefertigt, vor allem für Altäre. Viele
sind noch erhalten, wenn oft auch in späteren Jahrhunderten verändert, meist
durch immer wieder neu aufgetragene Farbfassungen. Einzelne Werkgruppen oder
Aspekte gotischer Kruzifixe haben in der Kunstwissenschaft besondere Beachtung
gefunden, vor allem die Crucifixi
dolorosi des 14. Jahrhunderts, die das Martyrium der Kreuzigung und den
entstellten Leichnam Christi sehr drastisch dargestellt haben. Am Anfangs steht
hier das Passionskreuz aus der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol: Um 1300
entstanden (siehe meinen Post „Um unsrer Sünden willen zerschlagen“), war
dieses Kruzifix in der deutschen Bildschnitzkunst eine Innovation von höchster
künstlerischer und handwerklicher Qualität. Es stammt sehr wahrscheinlich aus
der Hand eines Wanderkünstlers; unverkennbar waren die Kölner Schnitzer stark
beeindruckt von dieser Skulptur des Gekreuzigten, denn ihr Einfluss dauerte
fast hundert Jahre an. Eine ähnliche Ausstrahlung hatte im 15. Jahrhundert das
große steinerne Kruzifix von Niclaus Gerhaert, dass der in Leiden geborene
Bildhauer 1467 für den Friedhof in Baden-Baden anfertigte.
Niclaus Gerhaert: Steinkruzifix (1467), Baden-Baden, Schlosskirche |
Niclaus Gerhart (seit 1462 in Straßburg
nachweisbar, gest. 1473 in Wiener Neustadt) ist mit dem Ulmer Meister Hans
Multscher (1400–1467) der bedeutendste Bildhauer des 15. Jahrhunderts. Seine
Werke prägten maßgeblich die gesamte nachfolgende spätgotische Skulptur im
süddeutschen Raum, die beiden Kruzifixe von seiner Hand sind von zentraler
Bedeutung für die Geschichte der Kreuzigungsdarstellungen. Neben dem signierten
und datierten Steinkruzifix von 1467, auf das ich her näher eingehen will, ist
noch ein hölzernes Werk im Hochaltar der Nördlinger Georgskirche erhalten. Zwar
ist es weder durch Signatur noch historische Quellen als Arbeit des Straßburger
Künstlers beglaubigt, doch hat sich die Zuschreibung weitgehend durchgesetzt.
Das seit 1967 in der Stiftskirche von
Baden-Baden aufgestellte Steinkruzifix von Gerhaert lässt sich mit Recht als
wahrhaft monumentales Werk bezeichnen: Ist schon die Gesamthöhe der Skulptur
mit 6,42 Metern gewaltig, so erstaunt umso mehr, dass der knapp überlebensgroße
Corpus Christi mitsamt dem Kreuz aus einem einzigen riesigen Sandsteinquader
von über viereinhalb Metern Höhe, über zwei Metern Breite und fast neunzig
Zentimetern Tiefe herausgemeißelt wurde. Nur der Felshügel mit allerlei Getier,
Schädeln und Knochen als Sinnbild für den Hinrichtungsort Golgatha und der
stufige Unterbau sind separat gearbeitet und aus mehreren Steinen
zusammengefügt. Bis auf die ehemals eingesetzten Dornen gibt es keinerlei
Anstückungen, weder an den Haarsträhnen, den in sich verschlungenen Zweigen der
extrem durchbrochenen Dornenkrone, noch an Zehen und Fingern oder den auf
wenige Millimeter gedünnten Enden des Lendentuches. Nicht weniger verblüfft,
wie weit Gerhaert das Steinmaterial zwischen Figur und Kreuz reduziert. Wo
möglich, hat der Künstler den Körper vom Stamm gelöst und ihn nur wenn
unabdingbar mit Stegen stabilisiert.
Der Leib Christi, mit weit ausgestreckten,
leicht erhobenen Armen und stark nach unten gezogenen Füßen ans Kreuz geschlagen,
hängt gerade vor dem Kreuzbalken, ohne seitliches Ausbiegen und Abknicken der
Knie nach vorn. Der ausgemergelte Körper mit dünnen Beinen und schmächtigem
Thorax ist aufs Äußerste gespannt. Das Haupt mit ehemals riesiger Dornenkrone
neigt sich nur wenig nach vorn und nach links; das schulterlange Haar fällt in
größtenteils durchbrochenen, in sich leicht gewellten Strähnen bewegt herab und
umhüllt das Gesicht. Während alle älteren gotischen Kruzifixe geprägt sind von
dem Gegensatz zwischen Thorax und den vergleichsweise dünnen ausgebreiteten
Armen Christi, hat Gerhaert den Corpus des Gekreuzigten in hohem Maß als
geschlossene und künstlerisch einheitliche Form gestaltet.
Gerhaerts Kruzifix in der Gesamtansicht |
Verblüffend ist nicht nur die
handwerkliche Virtuosität Gerhaerts, sondern auch der bis dahin nicht gekannte
Verismus seiner Skulptur: An dem hageren, zugleich aber auch wohlgeformten Leib
Christi zeichnen sich nicht nur deutlich die sich durchdrückenden Rippen und
der zwischen Hüftknochen und Rippenbogen eingefallene Bauch ab; sichtbar sind
ebenso die Adern an den Gliedmaßen und das Spiel der Muskeln an Armen, Thorax
und Beinen, die an Oberschenkeln und Waden verkrampfen. Gleiches gilt auch für
die Falten an Gesicht, Hals, Händen und Füßen.
Eine in der mittelalterlichen
Bildhauerkunst unbekannte Naturnähe zeigt sich darüber hinaus in der Wiedergabe
des feinen Lendentuchstoffes, den berindeten Zweigen der Dornenkrone oder dem
Kreuz, das im Kreuzbalken und im Auszug den Eindruck erweckt, es bestehe aus
massiven Stämmen mit dicker Rinde und zahlreichen abgesägten Astansätzen. Diese
Suggestion wird noch gesteigert durch die „Verdübelung“ von Horizontal- und
Querbalken des Kreuzes und der rückseitig vorgetäuschten Versplintung der
Dübel; ebenso durch den „i.n.r.i.“-Titulus über dem Haupt Christi, der als ein
auf eine Holztafel gemaltes Pergament geformt ist, und nicht zuletzt beim
Stifterwappen, das mit einem Lederriemen über einem Nagel hängend „befestigt“
wurde.
Der Verismus der Darstellung wurzelt
zum einen sicherlich in der altniederländischen Malerei etwa eines Jan van Eyck
(um 1390–1441). Er ist aber auch theologisch begründet, denn insbesondere der
überdehnte Körper, dessen Knochen sich unter der pergamentdünnen Haut
abzeichnen,
verweisen
auf eine alttestmentliche Prophezeiung aus Psalm
22: „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt;
mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind
vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst
mich in des Todes Staub. Denn Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat
mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Ich kann alle meine
Gebeine zählen; sie aber schauen zu und weiden sich an mir. Sie teilen meine
Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand“ (Psalm 22,15-19; LUT).
Das abgezehrte Gesicht Christi wird von
der übergroßen Dornenkrone beinahe erdrückt. Die Augen sind halb geschlossen;
eine schmale, leicht gebuckelte Nase liegt zwischen eingefallenenen Wangen,
unter denen sich die hochgelegenen Backenknochen abzeichnen. Der Mund ist leicht
geöffnet, der Lippenbart nur summarisch angegeben, seine seitlichen Enden sind
in kleine Locken aufgelöst. Beim vorragenden Kinnbart wurden noch einzelne
Strähnen herausgearbeitet, aber auch sie bleiben eingebunden in die
Gesamtoberfläche. Die hohe Stirn, auf der noch ein Blutstropfen hängt, wird
fast vollkommen von der raumgreifenden, aus knorrigen Ästen geflochtenen
Dornenkrone verdeckt, die mit einem Dorn in die Stirnhaut eindringt.
Das über der linken Hüfte verknotete Lendentuch
lässt den Oberschenkel fast ganz frei; auf der rechten Seite fällt es, sich
leicht aufbauschend, senkrecht neben dem Oberschenkel herab. Zum ersten Mal in
der süddeutschen Skulptur lässt ein Bildhauer – ohne Rücksicht auf den
natürlichen Fall des Stoffes – das Tuchende vor dem Leib Christi frei im Raum
schweben. Das Ergebnis ist eine kunstvoll arrangierte, weitgehend verselbständigte
ornamentalen Form. Das Lendentuch in Bauschungen, Dellen, Umschlägen und mit
frei im Raum schwingenden Enden sich entfalten zu lassen und so ein großes
dekoratives Gewandmotiv mit der traditionellen Aktdarstellung des Gekreuzigten
zu verbinden, ist eine Erfindung und Entwicklung der zweiten Hälfte des 15.
Jahrhunderts. Der niederländische Meister Rogier van der Weyden (1400–1464) war
einer der ersten, der in der Malerei lange Lendentuchenden in großen Kurven
frei um den Leib Christi rotieren ließ (siehe meinen Post „Aus eins mach drei“). Der Bildhauer Veit Stoß (um 1447–1533) wird
später dieses Motiv in äußerster Kunstfertigkeit und großem Reichtum entfalten
(siehe meinen Post „Auf die Trommel gespannt“).
Veit Stoß: Holzkruzifix (um 1516/20); Nürnberg, St. Lorenz |
Conrad von Sinsheim: Steinkruzifix (1473); Maulbronn, Kloster Maulbronn |
Als Beispiel für den
nachhaltigen Einfluss, den Gerhaerts Baden-Badener Werk ausübte, sei auf
das überlebensgroße steinerne Kruzifix im Kloster Maulbronn hingewiesen, das
1473 datiert ist und dem Meister Conrad von Sinsheim zugeschrieben wird.
Literaturhinweise
Kahsnitz, Rainer:
Veit Stoß, der Meister der Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für
Kunstwissenschaft 49/50 (1995/1996), S. 123-178;
Ohnmacht, Mechthild:
Das Kruzifix des Niclaus Gerhaert von Leyden in Baden-Baden von 1467. Typus –
Stil, Herkunft – Nachfolge. Peter Lang, Frankfurt/M. 1973;
Roller, Stefan
(Hrsg.): Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des späten Mittelalters. Michael Imhof
Verlag, Petersberg: 2011, S. 217-219;
LUT
= Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche
Bibelgesellschaft, Stuttgart.
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