Sonntag, 15. März 2020

Traurige Gelassenheit – Albrecht Dürers Kupferstich „Maria mit dem Kind an der Mauer“ (1514)

Albrecht Dürer: Maria mit dem Kind an der Mauer (1514); Kupferstich
(für die Großansicht einfach anklicken)
Mit ihrem Sohn im Arm sitzt die Mutter Jesu auf einem steinernen Sockel an einer Wand. Ihr kunstvoll drapiertes Übergewand schimmert kostbar; es bedeckt Schulter, Knie und die Hand, mit der sie den Knaben hält. Das Untergewand ist aus anderem, nicht minder wertvollem Gewebe, das von einer Pelzborte umsäumt wird. Eine „natürliche Diesseitigkeit“ (Mende 2000, S. 187) zeichnet Maria aus – Dürer verzichtet darauf, sie mit Strahlen göttlicher Gnade oder einem Heiligenschein zu versehen. In sich gekehrt, blickt Maria mit gesenktem Haupt und Lidern auf ihr Kind. Der Knabe wiederum hält in seiner linken Hand einen Apfel und blickt, obwohl er die Kopfhaltung der Mutter wiederholt, aus dem Bild heraus, dem Betrachter direkt ins Gesicht. Der Apfel verweist auf den Sündenfall, von dessen Folgen Jesus die Menschheit als Erwachsener durch seinen Opfertod erlösen wird.
Hinter der Figurengruppe erstreckt sich ein Flusstal mit Wehrarchitektur – eine Ansicht der Nürnberger Kaiserburg (Südfront), wie sie Dürer wahrscheinlich von einem Fenster seines eigenen Hauses aus sehen konnte. Die Landschaft mit dem Flusslauf im Mittelgrund entspricht allerdings nicht der Wirklichkeit, sie ist erfunden. Der gesamte vordere Bereich um die Gottesmutter besteht aus grauem Stein: die Mauer, die Maria hinterfängt und dem Blatt einen perspektivischen Tiefenzug verleiht (hier hat Dürer Monogramm und Datierung angebracht); der Boden mit den einzelnen Steinchen, von dem sich eine etwas höher gelegte, natürliche Stufe absetzt, und der Sockel auf dieser Stufe, auf dem Maria sich niedergelassen hat. Dieser Sockel umgibt sie und ihren Sohn ganz und trennt sie so von der Vedute im Hintergrund ab. Damit könnte Dürer das Motiv des abgeschlossenenes Gartens („Hortus conclusus“) als Sinnbild für die unbefleckte Empfängnis Mariens modifiziert haben. Der wie ein Eck- oder Grundstein angelegte Sockel ist zudem ein Sinnbild für Christus als Fundament der Kirche, die sich aus lebendigen Steinen, den Gläubigen, bildet: »Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden« (1. Petrus 2,6). Erich Schneider deutet den Blick des Jesusknaben deswegen als Aufforderung, „an dieser Gemeinde teilzuhaben“ (Schneider 1995, S. 46). Würde und Monumentalität gewinnen Maria und das Kind vor allem durch ihre standbildartige geschlossene Form, durch den Verzicht auf lebhafte Aktion und Bewegtheit, die noch Dürers Kupferstich Maria mit der Birne von 1511 auszeichnete, und durch das reiche Gewand, das seine Pracht weniger aus dem üppigen Faltenwurf, sondern mehr aus der Kostbarkeit seines Materials gewinnt.
Albrecht Dürer: Maria mit der Birne (1511); Kupferstich
(für die Großansicht einfach anklicken)
1514 hat Dürer nicht nur diese Maria mit dem Kind an der Mauer geschaffen, sondern daneben oder danach auch seine berühmte Melencolia I. Auf beiden Kupferstichen sind die Gestalten durch eine „lastende Schwere“ (Mende 2000, S. 187) gekennzeichnet. Nah rückt Dürer die Figuren in den Vordergrund; beide sitzen in freier Natur auf hartem Stein vor massiven Wänden, und links von ihnen blickt man in eine tiefe Landschaft. Der Jesusknabe, den Maria fest auf dem Schoß hält, gleicht dem Putto der Melencolia. Die Gewänder, vor allem als Bahnen über dem linken Oberschenkel, entwickeln regelrecht ein Eigenleben. Wie durch von außen kommendes Licht angestrahlt, heben sich grell einzelne Partien ab. Wenn auch die Stimmung der Mutter-Kind-Gruppe nicht frei ist von einer gewissen Traurigkeit, die auf die spätere Passion Christi anspielt, so überwiegt doch, im Gegensatz zur Düsternis der Melencolia, bei der jungen Mutter eine „zugewandte Gelassenheit“ (Sonnabend 2007, S. 200).
Albrecht Dürer: Melencolia I (1514); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Herausragend gelingt es Dürer, die Textur der Steine und des mattsilbernen Stoffes herauszuarbeiten. Seine graphische Technik hebt die Figurengruppe durch eine strahlende, fast gleißende Lichtwirkung von der matter gehaltenen Landschaft ab. „Die Eigenarten unterschiedlicher Materialien sind zur Geltung gebracht; die nach hinten fluchtende düstere Steinwand unterscheidet sich von Mariens Gewand, das widerum nach Wollstoff und glänzender Seide differenziert ist“ (Sonnabend 2007, S. 200).
Albrecht Dürer: Modellstudie (1514, Federzeichnung), Berlin, Kupferstichkabinett
Auffällig an Maria Gewand sind zwei Details, die auch an der Melencolia wiederkehren: der am Gürtel hängende Schlüsselbund und ein Beutel. Sie machen die junge Frau zu einer Person der Dürerzeit. Der Nürnberger Meister hat 1514 auch eine realistische weibliche Modellstudie angefertigt, die vielleicht seine Frau Agnes darstellt und ebenfalls Schlüssel an dieser Stelle zeigt.

Literaturhinweise
Mende, Matthias: Maria mit dem Kind an der Mauer. In: Mende, Matthias/Schoch, Rainer (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 187-188;
Schneider, Erich (Hrsg.): Dürer als Erzähler. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung-Otto–Schäfer-II. Ludwig & Höhne, Schweinfurt 1995, S. 46;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 200;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

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