Sonntag, 22. März 2020

Doppelkreuz mit Glöckchen – Albrecht Dürers „Heiliger Antonius vor der Stadt“ (1519)

Albrecht Dürer: Der heilige Antonius vor der Stadt (1519); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Der hl. Antonius (um 250–356 n.Chr., auch Antonius der Große genannt) war ein ägyptischer Eremit, der das erste christliche Mönchskloster gründete. In völliger persönlicher Armut lebend, widmeten sich die Angehörigen des Antoniterordens neben dem Gebet insbesondere der Krankenpflege. Eine von Athanasius von Alexandria um 360 verfasste Biografie des Heiligen wurde bereits 373 aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt und damit einem westlichen Publikum zugänglich gemacht. Der damals bekannteste Leser der Vita Antonii war Augustinus von Hippo (354–430), der durch diese Lektüre endgültig zum christlichen Glauben bekehrt worden sein soll (Bekenntnisse; VIII, 6,14-16).
Spätmittelalterliche Darstellungen des hl. Antonius zeigen meist seine Versuchungen und Peinigungen in der Wüste – berühmte Beispiele sind Martin Schongauers Kupferstich von 1470/75 und eine der Tafeln aus dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Albrecht Dürers Kupferstich von 1519 ist dagegen frei von Dämonen und Mischwesen, die den asketischen Einsiedler ansonsten bedrängen. Einsam am Wegesrand sitzend, hat er sich in die Lektüre eines Buches vertieft. Das faltenreiche Gewand, dessen Kapuze er bis zu den Augen über die Stirn gezogen hat, verrät kaum etwas von seiner Gestalt. Nur Nase, Bart, Hände und die bewegten Zehen der nackten Füße lassen den Menschen unter der zu einem Dreieck geformten Mönchskutte erkennen.
Anstelle des sonst für ihn typischen T-Stocks hat Antonius einen langen schlanken Stab neben sich in den Boden gesteckt, an dessen Ende ein Doppelkreuz mit Kruzifix sowie ein kleines Glöckchen befestigt sind. Letzteres diente den Antoniter-Mönchen vor allem dazu, Spenden für die am „Antoniusfeuer“ (Mutterkornvergiftung) Erkrankten zu sammeln, deren Pflege sie sich in ihren Spitälern in ganz Europa sie sich zur Aufgabe gemacht hatten. Rechts neben Antonius liegt ein Pilgerhut mit hochgeschlagener Krempe, der wie das Doppelkreuz nicht zu seinen traditionellen Attributen gehört.
Die Figur wird umschlossen von dem Panorama einer mächtigen befestigten Stadt, die auf einem Hügel im Hintergrund in den Himmel strebt und in ihrer Anlage, als „Echo und Vergrößerung“ (Panofsky 1977, S. 268), den Umriss des Eremiten aufgreift. Die Komposition zeigt eine diagonale Struktur, die vom Fluss unten links ausgeht und sich bis zu einer burgartigen Anlage rechts oben erstreckt. Die mit Türmen und Zinnen verzierten Gebäude zeichnen sich durch kubische Formen aus. Dürer hatte diese Ansicht sehr viel früher in einer Zeichnung aus Studien verschiedener Städte zusammengesetzt (darunter Nürnberg, Trient und Innsbruck), die vermutlich im Verlauf seiner ersten Italienreise entstanden waren. Der Nürnberger Meister verwendete diese Zeichnung gleich zweimal als Versatzstück in späteren Kompositionen – neben dem Heiligen Antonius auch in seinem 1506 ausgeführten Gemälde Das Rosenkranzfest (Prag, Nationalgalerie), wenn auch noch weiter in die Ferne gerückt.
Albrecht Dürer: Das Rosenkranzfest (1506); Prag, Nationalgalerie (für die Großansicht einfach anklicken)
Als Sinnbild der „Vita contemplativa“, dem mönchischen Ideal eines zurückgezogenen Lebens, hat sich der Eremit außerhalb der Stadt niedergelassen, „die gleichzeitig nah und unendlich fern wirkt“ (Sonnabend 2007, S. 212). Die kompakte Gestalt des Heiligen vermittelt ebenso wie Dürers Darstellung des Hieronymus im Gehäus (siehe meinen Post „Der gelassene Gelehrte“) einen Ausdruck völligen Insichgekehrtseins und tiefer innerer Sammlung. Während seiner Reise in die Niederlande 1520/21 verschenkte er den Heiligen Antonius zu verschiedenen Anlässen zusammen mit seiner Darstellung des Hieronymus im Gehäus von 1514. Beide Kupferstiche zeichnen sich durch eine große Detailfreude aus und richteten sich an ein humanistisch gebildetes Publikum, das die „Vita contemplativa“ als Leitbild ihrer weltabgewandten Gelehrsamkeit betrachtete. „Es sind die intellektuellen Tätigkeiten der beiden Heiligen, die hier in den Mittelpunkt gerückt werden, und nicht ihr Potenzial als Objekt der Heiligenverehrung“ (Eichberger 2023, S. 138).
Albrecht Dürer: Hieronymus im Gehäus (1514); Kupferstich
(für die Großansicht einfach anklicken)
Die Bodenwelle, auf der Antonius sitzt, ist deutlich von den zusammengeballten, verschachtelten Häusern im Hintergrund abgegrenzt. Sein in die Erde gerammter Kreuzstab jedoch überragt die Stadtkulisse und kündet, eingesetzt in die Freifläche des Himmels, vom Wirken seines Ordens über deren Grenzen hinaus. 
Albrecht Dürer: PVPILA AUGUSTA (Zeichnung, um 1498); London,
Royal Trust Collection (für die Großansicht einfach anklicken)
Für die Stadtansicht im Hintergrund des lesenden Eremiten gibt es eine Vorlage von Dürer: Es handelt sich um eine in London aufbewahrte Zeichnung mit der Aufschrift
PVPILA AUGUSTA. Jedes einzelne Haus, der Fluss und auch der Weg vom Stadttor zum Heiligen wurde minutiös von dieser Zeichnung auf die Kupferplatte übertragen; dabei erscheinen die verschiedenen Motive im Kupferstich – bedingt durch den Herstellungsprozess – seitenverkehrt. Dürer hat nur die Landschaft mit Stadtansicht übernommen, während die rätselhafte Darstellung der nackten Frauen im Vordergrund keine Verwendung fand.

Literaturhinweise
Eichberger, Dagmar: Albrecht Dürers Kupferstich Der heilige Antonius vor der Stadt. In: Berit Wagner u.a. (Hrsg.), Das Werk im Zentrum. Kunstgeschichte mit Objekten aus dem Städel Museum und der Liebieghaus Skulpturensammlung. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2023, S. 132-139;
Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Rogner & Bernhard, München 1977 (zuerst erschienen 1943), S. 268-269;
Reuße, Felix: Albrecht Dürer und die europäische Druckgraphik. Die Schätze des Sammlers Ernst Riecker. Wienand Verlag, Köln 2002, S. 74;
Scherbaum, Anna: Der heilige Antonius vor der Stadt. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 214-215;
Schneider, Erich (Hrsg.): Dürer als Erzähler. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung-Otto–Schäfer-II. Ludwig & Höhne, Schweinfurt 1995, S. 126;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 212.
 
(zuletzt bearbeitet am 4. Oktober 2023)

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