Passionskruzifix, unbekannter Meister (um 1300); Köln, St. Maria im Kapitol |
Der ausgezehrte Körper Jesu, etwas
unterlebensgroß, zeigt deutlich die Spuren, die Geißelung und Dornenkrone
hinterlassen haben. Er hängt mit weit zurückgespannten Armen an einem Gabelkreuz;
die Nagelwunden sind grausam aufgerissen, unter der dünnen Haut zeichnen sich
die Knochen ab. Der Bauch ist tief eingesunken, der Brustkorb, in dem sich
alles gestaut hat, wölbt sich stark geweitet hervor, ebenso die in grausamer
Reihung zählbaren Rippen. Wir sehen Christus in dem Augenblick, in dem der Tod
eintritt. Das Haupt ist so tief auf die rechte Brusthälfte gesunken, dass man nur ganz von unten
her in das blutüberströmte, schmerzverzerrte Antlitz blicken kann. Die Arme sind nach
oben und gleichzeitig etwas nach hinten gedreht, sodass die Schulter- und
Ellbogengelenke weit hervortreten. Außerdem wurden die Hände in Richtung des
Kreuzstammes gebogen, sodass sie fast senkrecht nach oben weisen.
Die Marter ist beendet |
Die Nagelwunden in den Händen zeigen drastisch,
was es bedeutet, mit dem ganzen Gewicht des eigenen Körpers an einem solchen
Kreuz zu hängen. Die Haut ist weit aufgerissen, darunter werden die Knochen und
Sehnen sichtbar. Aus den Nagelwunden fließen dicke Bluttropfen die Handgelenke und
Unterarme herab. Um die Blutläufe deutlich sichtbar zu machen, sind sie mit
dicker Grundierung plastisch aufgetragen worden. Ebenfalls mit Grundierung
aufgetragen (auf ein Stück Leinwand) ist der breite Blutstrom, der unterhalb
der Seitenwunde hinabfließt. Mit zusätzlichen Materialien sind auch die Adern
und Sehnen aufgebracht: Sie bestehen aus Bindfäden, die dem Holz aufgelegt und mit
Grundierungsmasse in die Figur eingebunden sind. Der ganze Körper ist mit
Bluttropfen übersät.
Auch wenn sich die Nagelwunden durch einen
krassen Realismus auszeichnen – historisch korrekt sind sie nicht. Denn bei
einer Nagelung durch die Handflächen und die Füße würde tatsächlich die Haut
reißen und der Körper nach kurzer Zeit vom Kreuz stürzen. Deswegen sind die von
der römischen Justiz zum Tode Verurteilten durch die Gelenke an Kreuze genagelt
worden, oder sie wurden mit Stricken an den Querbalken gebunden. So war es
möglich, dass der Körper stundenlang am Kreuz hängen blieb, bis der Tod auf
qualvolle Weise durch Ersticken und Erschöpfung eintrat – manchmal erst nach
sieben Tagen. Der Tod Christi ist demgegenüber überraschend schnell
eingetreten, wie die Evangelien übereinstimmend berichten (Markus 15,21-41).
Die Kreuznägel sowie die Seitenwunde werden allerdings nur im
Johannes-Evangelium erwähnt (19,34; 20,25).
Gottes Sohn, qualvoll als Mensch gestorben |
Äußerst charakteristisch für sie
mittelalterlichen Passionskreuze sind die Geißelmale auf dem Körper Christi;
das Crucifixus dolorosus aus St.
Maria im Kapitol zeigt sie vor allem auf dem Brustkorb, an Armen und Beinen
dagegen fehlen sie. Die Geißelmale sind rund, innen flach und haben einen plastischen Rand. Stets laufen nach unten ein, zwei oder drei Bluttropfen heraus.
Technisch bestehen die Geißelmale aus schmalen Leinwandstreifen, die zu einem
Kreis geformt und mit Grundierung aufgebracht wurden. Überdeutlich verweisen die Crucifixi dolorosi auf die Worte des Propheten
Jesaja, die die Exegeten schon immer auf den leidenden Christus bezogen haben: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit.
Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er
war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er
war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn
für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre
Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen
und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um
unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden
hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jesaja 53,2-5; LUT).
Das Lendentuch Christi ist von bemerkenswerter
Eleganz. Der Stoff fällt mit breiten, scharfkantigen waagrechten
Faltenumbrüchen über den linken Oberschenkel und das Knie Jesu, während sein
rechtes Knie frei bleibt. Vor dem Bauch ist das Tuch zu einer breiten
waagrechten Bahn mit feinen Falten umgeschlagen, die um die ganze Hüfte
herumreicht. Blutmalerei in den Faltentiefen weist auf die Qualen der
Kreuzigung hin. Ein markantes Detail ist die Falte vor dem vorderen
Oberschenkel, die oberhalb des Knies zusammensinkt: Es handelt sich dabei um
ein Motiv, das aus der Romanik stammt. Als bekanntes Beispiel sei hier auf das
Gerokreuz aus dem späten 10. Jahrhundert im Kölner Dom verwiesen (siehe meinen Post „Vom Christus victor zum Christus patiens“).
Gerokreuz (spätes 10. Jh.); Kön, Dom; der Strahlenkranz wurde erst 1683 gefertigt |
Der Korpus des Kruzifixes ist vom Hals bis zu
den Füßen aus einem Stamm herausgearbeitet. Der Brustraum wurde ausgehöhlt und
mit einem Holzbrett verschlossen. Der aus mehreren Teilen bestehende Kopf ist
separat aufgesetzt und mittels eines Keiles im Nacken in seine stark geneigte
Position gebracht worden. Verloren und nachgeschnitzt sind lediglich einige
Zehen. Eine fast zehnjährige Restaurierung hat Erstaunliches zutage gebracht:
Im ausgehöhlten Brustraum der Skulptur wurden mit Hilfe einer Endoskopie über 50
in Seide gehüllte Reliquien nachgewiesen.
Welchen Zwecken die Crucifixi dolorosi im religiösen Leben des Mittelalters dienten,
ist nicht genau bekannt. Manche wurden bei Prozessionen mitgeführt, andere
zeugen vom Brauch der Grablegung am Karfreitag, wenn sie über bewegliche Arme
verfügen, die zu diesem Anlaß an den Körper geklappt werden konnten. Das
Kapitolskruzifix wiederum ist bis in die Details so minutiös ausgearbeitet,
dass es sicherlich auch für eine nahsichtige Betrachtung gedacht war. Es eignete sich bestens, so Godehard Hoffmann, für die seit dem 12. Jahrhundert
bekannte Gebetspraxis des „Abtastens mit dem Blick“. Der Beter sollte
dabei nacheinander das Haupt, die Brust und die Wundmale betrachten. Anschließend
sollte er Christus in die Augen blicken, um ihm sein Anliegen vorzutragen.
Dafür war er bei den spätmittelalterlichen Passionskruzifixen wegen des weit
vorgeneigten Kopfes gezwungen, sich in eine Position tief unterhalb der Figur
zu begeben, um von dort steil nach oben zu sehen. Christus wurde dabei als „im Bildwerk präsent, die Skulptur als lebendig verstanden“ (Bienert 2019, S. 97).
Bockhorster Triumphkreuz (um 1200); Münster, LWL-Museum für Kunst und Kultur |
In der Kunst wirkte sich diese emotionale
Annäherung an den Gekreuzigten allerdings erst mit einer Verzögerung von ein
bis zwei Generationen aus. Die stark auf ihren Ordensgründer Franz von Assisi
(1181–1226) ausgerichtete Kreuzverehrung der Franziskaner förderte schließlich
den detailintensiven Blick auf das Passionsgeschehen. Um 1200 wird das Leiden
Christi am Kreuz immer deutlicher herausgestellt, der „Dreinageltypus“
erscheint. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird weitgehend nur noch
der von Schmerzen gequälte Gottessohn am Kreuz dargestellt, zugleich
verschwindet spätestens um 1300 das Triumphkreuz der Romanik. „Die Beziehung
zwischen Betrachter und Kruzifix war intimer geworden und das hoch im
Kirchenraum angebrachte Triumphkreuz eignete sich nicht für die nahsichtige
Betrachtung“ (Hoffmann 2006, S. 141).
Zu den Gabelkreuzen, die sich eng an das Kölner Passionskruzifix anlehnen, zählt das wohl um 1315 entstandene Exemplar in der Bocholter Pfarrkirche St. Georg: Die Fassung des Corpus mit seinen zahlreichen Geißelwunden ist nahezu identisch. Der aus Nussbaumholz geschnitzte Bocholter Corpus ist allerdings gegenüber dem Vorbild aus Köln vergleichsweise klein – er misst nur 102 cm, der Gekreuzigte aus St. Maria im Kapitol dagegen 175 cm (siehe meinen Post „Passion mit Ausstrahlung “).
Passionskruzifix (um 1315); Bocholt, St. Georg |
Passionskruzifix (um 1320); Andernach, Liebfrauenkirche |
Passionskruzifix (Mitte des 14. Jahrhunderts?); Köln, St. Severin |
Passionskruzifix (Mitte des 14. Jahrhunderts?); Köln, St. Maria im Frieden |
Passionskruzifix (1307), Perpignan, Cathedrale Saint-Jean-Baptiste |
Passionskruzifix (um 1350); Warschau, Nationalmuseum |
Ludwig Gies: Holzkruzifix (1921), ausgestellt 1937 in Entartete Kunst |
Johann Friedrich Overbeck: Der Ostermorgen (um 1818), Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpalast |
Literaturhinweise
Bienert, Vivien: „Crux sub odaeo mirculosa“. Leidenskruzifixe in Frauenkonventen: der Gabelkruzifix von St. Maria im Kapitol in Köln. In: Julia von Ditfurth/Adam Stead (Hrsg.), Bildwerke für Kanonissen? Neue Bildwerke und Heiligenverehrung in Frauenstiftskirchen des 13. und 14. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln 2019, S. 63-103;
Engelhardt, Katrin: Ans Kreuz geschlagen. Die Verhöhnung des »Kruzifixus« von Ludwig Gies in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. In: Uwe Fleckner (Hrsg.), Das verfemte Meisterwerk. Schicksalswege moderner Kunst im »Dritten Reich«. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 29-48;
Ernsting, Bernd: Scandalum Crucis – der Lübecker Kruzifixus und sein Schicksal. In: Rolf Wedewer (Hrsg.), Ludwig Gies 1887–1966. Städtisches Museum Leverkusen/Schloss Morsbroich, Leverkusen 1990, S. 57-71;
Hoffmann, Godehard: Das Gabelkreuz in St. Maria
im Kapitol zu Köln und das Phänomen der Crucifixi dolorosi in Europa.
Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 2006;
Klein, Bruno (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Band 3: Gotik. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006, S. 362-363 und 383-384;
Mühlberg, Fried: Crucifixus Dolorosus. Über Bedeutung und Herkunft des gotischen Gabelkruzifixes. In. Wallraf-Richartz-Jahrbuch 22 (1960), S. 69- 86;
Suckale, Robert: Der Kruzifix in St. Maria im
Kapitol – Versuch einer Annäherung. In: Jean-Claude Schmitt (Hrsg.), Femmes,
art et religion au Moyen Âge.
Presses universitaires de Strasbourg-Musée d’Unterlinden, Straßburg/Colmar 2004,
S. 87-101;Mühlberg, Fried: Crucifixus Dolorosus. Über Bedeutung und Herkunft des gotischen Gabelkruzifixes. In. Wallraf-Richartz-Jahrbuch 22 (1960), S. 69- 86;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 22. Oktober 2021)
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