Mittwoch, 14. Juli 2021

Um unsrer Sünden willen zerschlagen – das Passionskreuz in St. Maria im Kapitol (Köln)


Passionskruzifix, unbekannter Meister (um 1300); Köln, St. Maria im Kapitol
In St. Maria im Kapitol, der schönsten unter den zwölf romanischen Kirchen in Köln, findet sich eines der bewegendsten gotischen Kruzifixe, die ich kenne. Es handelt sich um ein Crucifixus dolorosus, ein Passions- bzw. Gabelkruzifix aus Nussbaumholz vom Beginn des 14. Jahrhunderts. Die von einem unbekannten Bildhauer modellierte Figur Christi kann als einer der drastischsten mittelalterlichen Darstellungen des Gekreuzigten gelten.
Der ausgezehrte Körper Jesu, etwas unterlebensgroß, zeigt deutlich die Spuren, die Geißelung und Dornenkrone hinterlassen haben. Er hängt mit weit zurückgespannten Armen an einem Gabelkreuz; die Nagelwunden sind grausam aufgerissen, unter der dünnen Haut zeichnen sich die Knochen ab. Der Bauch ist tief eingesunken, der Brustkorb, in dem sich alles gestaut hat, wölbt sich stark geweitet hervor, ebenso die in grausamer Reihung zählbaren Rippen. Wir sehen Christus in dem Augenblick, in dem der Tod eintritt. Das Haupt ist so tief auf die rechte Brusthälfte gesunken, dass man nur ganz von unten her in das blutüberströmte, schmerzverzerrte Antlitz blicken kann. Die Arme sind nach oben und gleichzeitig etwas nach hinten gedreht, sodass die Schulter- und Ellbogengelenke weit hervortreten. Außerdem wurden die Hände in Richtung des Kreuzstammes gebogen, sodass sie fast senkrecht nach oben weisen.
Die Marter ist beendet
Die Todesqualen sind im Gesicht genau herausgearbeitet. Der Mund steht leicht offen, sodass die Zahnreihen oben und unten sichtbar werden. Neben der Nasenwurzel gibt es an beiden Seiten markante Hautfalten, durch die das Antlitz wie zerfurcht erscheint. Das Barthaar ist ornamental angeordnet und strahlt inmitten der Leidensmerkmale eine gewisse Vornehmheit aus. Das Haupthaar wiederum ist von Schweiß und Blut durchtränkt und deshalb zu dicken Strähnen verklebt, die bis auf die Brust herabfallen. „Sie sind teilweise angesetzt und noch alle erhalten, was bei Crucifixi dolorosi selten der Fall ist, weil solch filigrane Teile schnell abbrechen“ (Hoffmann 2006, S. 21). Die Dornenkrone ist aus Tau zu einem dichten Flechtband gedreht; zahlreiche hölzerne Dorne ragen aus ihr heraus und verletzen den Schädel.
Die Nagelwunden in den Händen zeigen drastisch, was es bedeutet, mit dem ganzen Gewicht des eigenen Körpers an einem solchen Kreuz zu hängen. Die Haut ist weit aufgerissen, darunter werden die Knochen und Sehnen sichtbar. Aus den Nagelwunden fließen dicke Bluttropfen die Handgelenke und Unterarme herab. Um die Blutläufe deutlich sichtbar zu machen, sind sie mit dicker Grundierung plastisch aufgetragen worden. Ebenfalls mit Grundierung aufgetragen (auf ein Stück Leinwand) ist der breite Blutstrom, der unterhalb der Seitenwunde hinabfließt. Mit zusätzlichen Materialien sind auch die Adern und Sehnen aufgebracht: Sie bestehen aus Bindfäden, die dem Holz aufgelegt und mit Grundierungsmasse in die Figur eingebunden sind. Der ganze Körper ist mit Bluttropfen übersät.
Auch wenn sich die Nagelwunden durch einen krassen Realismus auszeichnen – historisch korrekt sind sie nicht. Denn bei einer Nagelung durch die Handflächen und die Füße würde tatsächlich die Haut reißen und der Körper nach kurzer Zeit vom Kreuz stürzen. Deswegen sind die von der römischen Justiz zum Tode Verurteilten durch die Gelenke an Kreuze genagelt worden, oder sie wurden mit Stricken an den Querbalken gebunden. So war es möglich, dass der Körper stundenlang am Kreuz hängen blieb, bis der Tod auf qualvolle Weise durch Ersticken und Erschöpfung eintrat – manchmal erst nach sieben Tagen. Der Tod Christi ist demgegenüber überraschend schnell eingetreten, wie die Evangelien übereinstimmend berichten (Markus 15,21-41). Die Kreuznägel sowie die Seitenwunde werden allerdings nur im Johannes-Evangelium erwähnt (19,34; 20,25).
Gottes Sohn, qualvoll als Mensch gestorben
Äußerst charakteristisch für sie mittelalterlichen Passionskreuze sind die Geißelmale auf dem Körper Christi; das Crucifixus dolorosus aus St. Maria im Kapitol zeigt sie vor allem auf dem Brustkorb, an Armen und Beinen dagegen fehlen sie. Die Geißelmale sind rund, innen flach und haben einen plastischen Rand. Stets laufen nach unten ein, zwei oder drei Bluttropfen heraus. Technisch bestehen die Geißelmale aus schmalen Leinwandstreifen, die zu einem Kreis geformt und mit Grundierung aufgebracht wurden. Überdeutlich verweisen die Crucifixi dolorosi auf die Worte des Propheten Jesaja, die die Exegeten schon immer auf den leidenden Christus bezogen haben: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jesaja 53,2-5; LUT).
Das Lendentuch Christi ist von bemerkenswerter Eleganz. Der Stoff fällt mit breiten, scharfkantigen waagrechten Faltenumbrüchen über den linken Oberschenkel und das Knie Jesu, während sein rechtes Knie frei bleibt. Vor dem Bauch ist das Tuch zu einer breiten waagrechten Bahn mit feinen Falten umgeschlagen, die um die ganze Hüfte herumreicht. Blutmalerei in den Faltentiefen weist auf die Qualen der Kreuzigung hin. Ein markantes Detail ist die Falte vor dem vorderen Oberschenkel, die oberhalb des Knies zusammensinkt: Es handelt sich dabei um ein Motiv, das aus der Romanik stammt. Als bekanntes Beispiel sei hier auf das Gerokreuz aus dem späten 10. Jahrhundert im Kölner Dom verwiesen (siehe meinen Post Vom Christus victor zum Christus patiens“).
Gerokreuz (spätes 10. Jh.); Kön, Dom;
der Strahlenkranz wurde erst 1683 gefertigt
Der Korpus des Kruzifixes ist vom Hals bis zu den Füßen aus einem Stamm herausgearbeitet. Der Brustraum wurde ausgehöhlt und mit einem Holzbrett verschlossen. Der aus mehreren Teilen bestehende Kopf ist separat aufgesetzt und mittels eines Keiles im Nacken in seine stark geneigte Position gebracht worden. Verloren und nachgeschnitzt sind lediglich einige Zehen. Eine fast zehnjährige Restaurierung hat Erstaunliches zutage gebracht: Im ausgehöhlten Brustraum der Skulptur wurden mit Hilfe einer Endoskopie über 50 in Seide gehüllte Reliquien nachgewiesen.
Welchen Zwecken die Crucifixi dolorosi im religiösen Leben des Mittelalters dienten, ist nicht genau bekannt. Manche wurden bei Prozessionen mitgeführt, andere zeugen vom Brauch der Grablegung am Karfreitag, wenn sie über bewegliche Arme verfügen, die zu diesem Anlaß an den Körper geklappt werden konnten. Das Kapitolskruzifix wiederum ist bis in die Details so minutiös ausgearbeitet, dass es sicherlich auch für eine nahsichtige Betrachtung gedacht war. Es eignete sich bestens, so Godehard Hoffmann, für die seit dem 12. Jahrhundert bekannte Gebetspraxis des „Abtastens mit dem Blick“. Der Beter sollte dabei nacheinander das Haupt, die Brust und die Wundmale betrachten. Anschließend sollte er Christus in die Augen blicken, um ihm sein Anliegen vorzutragen. Dafür war er bei den spätmittelalterlichen Passionskruzifixen wegen des weit vorgeneigten Kopfes gezwungen, sich in eine Position tief unterhalb der Figur zu begeben, um von dort steil nach oben zu sehen. Christus wurde dabei als „im Bildwerk präsent, die Skulptur als lebendig verstanden“ (Bienert 2019, S. 97).
Das Erscheinungsbild des Kapitolskruzifixes ist stark durch die nach 1400 datierte Zweitfassung geprägt, bei der die Anzahl der Wundmale offenbar vermehrt und die Blutläufe durch die bereits erwähnten Applikationen plastisch aufgetragen wurden. Demgegenüber war die mittelalterliche Erstfassung weniger dramatisch gestaltet. Angebracht ist das Kölner Gabelkruzifix heute an der Ostwand der nördlichen Eckkapelle des Dreikonchenchores von St. Maria im Kapitol.
Bockhorster Triumphkreuz (um 1200); Münster,
LWL-Museum für Kunst und Kultur
Die der Gotik vorausgehende Romanik kannte vor allem den über den Tod triumphierenden Christus. Der Gekreuzigte ist in dieser Epoche meist in einer fast stehenden Haltung am Kreuz befestigt; die Füße stehen nebeneinander. Mimik und Körperhaltung zeigen keinerlei Spuren von Folter oder Schmerz, das Haupt ist in gerader Haltung aufgerichtet, die Augen sind offen, das Antlitz ist das eines Lebenden. Die Romanik sieht Christus auch am Kreuz als den, der lebt und siegt und gebietet. Dennoch war dieser Zeit auch der tote Gottessohn am Kreuz nicht unbekannt, wie das bereits erwähnte Gerokreuz in Köln zeigt. Aber das Mitleiden mit dem am Kreuz gestorbenen Messias begegnet uns erst im Hochmittelalter. Vor allem der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux (1091–1153) hat mit seiner Wortgewalt zur Vermenschlichung des mittelalterlichen Christusbildes beigetragen: Seine Mystik war besonders auf die Versenkung in das Leiden und Sterben Jesu ausgerichtet.
In der Kunst wirkte sich diese emotionale Annäherung an den Gekreuzigten allerdings erst mit einer Verzögerung von ein bis zwei Generationen aus. Die stark auf ihren Ordensgründer Franz von Assisi (1181–1226) ausgerichtete Kreuzverehrung der Franziskaner förderte schließlich den detailintensiven Blick auf das Passionsgeschehen. Um 1200 wird das Leiden Christi am Kreuz immer deutlicher herausgestellt, der „Dreinageltypus“ erscheint. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird weitgehend nur noch der von Schmerzen gequälte Gottessohn am Kreuz dargestellt, zugleich verschwindet spätestens um 1300 das Triumphkreuz der Romanik. „Die Beziehung zwischen Betrachter und Kruzifix war intimer geworden und das hoch im Kirchenraum angebrachte Triumphkreuz eignete sich nicht für die nahsichtige Betrachtung“ (Hoffmann 2006, S. 141).
Passionskruzifix (um 1315); Bocholt, St. Georg
Zu den Gabelkreuzen, die sich eng an das Kölner Passionskruzifix anlehnen, zählt das wohl um 1315 entstandene Exemplar in der Bocholter Pfarrkirche St. Georg: Die Fassung des Corpus mit seinen zahlreichen Geißelwunden ist nahezu identisch. Der aus Nussbaumholz geschnitzte Bocholter Corpus ist allerdings gegenüber dem Vorbild aus Köln vergleichsweise klein – er misst nur 102 cm, der Gekreuzigte aus St. Maria im Kapitol dagegen 175 cm (siehe meinen Post Passion mit Ausstrahlung).
Passionskruzifix (um 1320); Andernach, Liebfrauenkirche
In der romanischen Liebfrauenkirche in Andernach findet sich ein weiteres Crucifixus dolorosus, das dem Kapitolskruzifix sehr nahe kommt: Zu den wesentlichen Merkmalen, die es mit dem diesem und dem Bocholter Werk zu einer
kölnischen Gruppe zusammenschließen, gehören die Haltung des Gekreuzigten mit vorgestrecktem rechten Knie, die ornamental aufgefassten Rippen, der weit vorgeneigte Kopf sowie die aufgerissenen Nagelwunden an den Füßen. Der Gekreuzigte zeigt auch die vom Kapitolskruzifix bekannten, auffälligen Falten neben dem Nasenbein. Es gibt aber auch Unterschiede: Das Andernacher Kruzifix besitzt nicht die differenzierte körperliche Plastizität  des Kapitolskruzifixes, und der gequälte Körpus krümmt sich nicht in gleicher Weise. Das qualitätvolle Lendentuch ist kleinteiliger gefaltet und liegt dem Körper enger an. Die offensichtlichen Zusammenhänge sowie die Unterscheide zwischen dem Kapitolskruzifix und dem Andernacher Crucifixus dolorosus bedeuten aber keinen Werkstattzusammenhang, sondern eine Kenntnis des Kölner Werkes seitens des Andernacher Schnitzers (Hoffmann 2006, S. 64).
Der Andernacher Korpus ist 102 cm hoch und entspricht damit genau den Maßen des Bocholter Kruzifixes. Die Übereinstimmungen zeigen sich nicht nur in der Größe, sondern auch in der Gesamtgestaltung, zum Beispiel im Brustkorb mit deutlichem Brustbeinzapfen und klarer Abgrenzung zum Bauch. Untereinander sind die Kruzifixe in Andernach und Bocholt dennoch so verschieden, daß wir nicht zwangsläufig mit demselben Bildschnitzer zu rechnen haben (Hoffmann 2006, S. 64). 
Passionskruzifix (Mitte des 14. Jahrhunderts?); Köln, St. Severin
Passionskruzifix (Mitte des 14. Jahrhunderts?); Köln, St. Maria im Frieden
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Crucifixus dolorosus aus der Kölner Kirche St. Severin: Zweifellos hat der Schnitzer das Kreuz aus St. Maria im Kapitol gekannt, von diesem aber lediglich charkteristische Motive übernommen. Details wie etwa die verlängerte Brustbeinspitze, die gebogenen Falten neben der Nase und die aufgerissene Haut an den Nagelwunden sind unschwer wiederzuerkennen. Auf diese Weise wurde erreicht, dass man in diesem Kruzifix sogleich das Vorbild entdeckte.
Daraus kann wiederum geschlossen werden, welch hohe Wertschätzung dem Kapitolskruzifix im 14. Jahrhundert zukam (Hoffmann 2006, S. 49). Dem Kruzifix in St. Severin fehlen gänzlich, so Hoffmann, dessen filigrane Plastiztät und detaillierten Tiefendimensionen (Hoffmann 2006, S. 46). Er schließt daher aus, dass hier derselbe Schnitzer tätig war. Das Kreuz entstamme vielmehr einer Kölner Nachfolge, wobei die zeitliche Distanz mehrere Jahrzehnte zu betragen scheint. Auch das das Crucifixus dolorosus in der Kölner Karmelitinnen-Klosterkirche St. Maria im Frieden lässt den Einfluss des Kapitolskruzifixes erkennen, verarbeitet ihn aber in abgemilderter Form. Konkrete Anhaltspunkte für die Datierung gibt es auch hier nicht; es könnte vor oder um die Mitte des 14. Jahrhunderts geschnitzt worden sein.
Passionskruzifix (1307), Perpignan, Cathedrale Saint-Jean-Baptiste
Passionskruzifix (um 1350); Warschau, Nationalmuseum
Hingewiesen sei noch auf zwei weitere, formal eng verwandte
Crucifixi dolorosi im europäischen Ausland: Als bedeutsam gilt zum einen ein nahezu zeitgleich entstandenes Werk im französischen Perpignan (datiert 1307), das keineswegs vom gleichen Künstler wie das Kapitolskruzifix stammt, im Gesamttypus ihm aber vergleichbar ist. Es soll an anderer Stelle nochmals eingehender vorgestellt werden. Bei dem im Warschauer Nationalmuseum aufbewahrten, ursprünglich aus der Breslauer Corpus-Christi-Kirche stammenden Cruxifixus dolorosus sind ebenfalls sehr ähnliche gestalterische Elemente zu beobachten. So verbindet beide Werke, dass die Wunden der Geißelung und die Adern ein geradezu symmetrisches Dekorationssystem bilden; außerdem wurden in beiden Fällen  Schnüre verwendet, um den Verlauf der Blutbahnen hervorzuheben. Im Gegensatz zum Kapitolskruzifix ist bei dem Warschauer Exemplar das geronnene Blut an der Seitenwunde und an den Nagelungsstellen auffallend als große weinartige Trauben gestaltet.
Ludwig Gies: Holzkruzifix (1921),
ausgestellt 1937 in Entartete Kunst
Der deutsche Bildhauer Ludwig Gies (1887–1966) hat die Formensprache der mittelalterlichen Crucifixi dolorosi sieben Jahrhunderte später nochmals aufgegriffen, und zwar in einem 1921 entstandenen expressiven Holzkruzifix, das er zunächst für einen Wettbewerb um ein Krieger-Ehrenmal in der Lübecker Marienkirche anfertigte. Das grandiose Bildwerk löste einen Sturm der Entrüstung aus; während einer Probe-Aufstellung im Lübecker Dom wurde der überlebensgroßen Skulptur nächtens in einem Akt des Vandalismus der Kopf entfernt und dieser anschließend in einem Teich versenkt. Auch ihre Präsentation in der Münchner
Dombauhütte“ 1922 rief wütende Empörung und heftige Verunglimpfungen hervor – bis das Kruzifix  auch hier entfernt wurde. 1937 schließlich musste das Werk als eines der Beispiele degenerierter Kunst in der berüchtigten nationalsozialistischen Wanderausstellung Entartete Kunst herhalten: Es hing am Beginn der Schau im Treppenhaus der Münchner Hofgartenarkaden. Nach München gelangte das Kruzifix bei der Tournee der Entarteten Kunst in weitere deutsche Städte, so nach Berlin, Düsseldorf und Hamburg. Danach verliert sich seine Spur in Berliner Depots, als nicht devisenträchtig und deshalb unverwertbar eingestuft. Möglicherweise wurde es 1944 bei einem Bombenangriff zerstört. 
Johann Friedrich Overbeck: Der Ostermorgen (um 1818),
Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpalast
Dass weite Teile der deutschen Bevölkerung und insbesondere die damaligen Christen mit erbittertem Widerstand auf das Giessche Werk reagierten, hängt sicherlich damit zusammen, dass man überhaupt Probleme mit den veristischen Passionsdarstellungen der mittelalterlichen Crucifixi dolorosi hatte: Denn der um 1920 immer noch vorherrschende Christustypus war der nazarenische geprägte, von stiller Sanftmut und Duldsamkeit beseelte Gottesssohn, weltentrückt, süßlich-glatt, erhaben und edel – und letztlich völlig harmlos. Hinzu kommt: Das Kruzifix von Gies sollte als Ehrenmal auf die Schrecken und entsetzlichen Leiden des Krieges verweisen – doch diese Form der Erinnerung war wohl zu schmerzhaft und konnte nur durch vehemente Ablehnung bewältigt werden.

Literaturhinweise
Bienert, Vivien: „Crux sub odaeo mirculosa“. Leidenskruzifixe in Frauenkonventen: der Gabelkruzifix von St. Maria im Kapitol in Köln. In: Julia von Ditfurth/Adam Stead (Hrsg.), Bildwerke für Kanonissen? Neue Bildwerke und Heiligenverehrung in Frauenstiftskirchen des 13. und 14. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln 2019, S. 63-103;
Engelhardt, Katrin: Ans Kreuz geschlagen. Die Verhöhnung des »Kruzifixus« von Ludwig Gies in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. In: Uwe Fleckner (Hrsg.), Das verfemte Meisterwerk. Schicksalswege moderner Kunst im »Dritten Reich«. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 29-48;
Ernsting, Bernd: Scandalum Crucis – der Lübecker Kruzifixus und sein Schicksal. In: Rolf Wedewer (Hrsg.), Ludwig Gies 1887–1966. Städtisches Museum Leverkusen/Schloss Morsbroich, Leverkusen 1990, S. 57-71;
Hoffmann, Godehard: Das Gabelkreuz in St. Maria im Kapitol zu Köln und das Phänomen der Crucifixi dolorosi in Europa. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 2006;
Klein, Bruno (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Band 3: Gotik. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006, S. 362-363 und 383-384;
Mühlberg, Fried: Crucifixus Dolorosus. Über Bedeutung und Herkunft des gotischen Gabelkruzifixes. In. Wallraf-Richartz-Jahrbuch 22 (1960), S. 69- 86;
Suckale, Robert: Der Kruzifix in St. Maria im Kapitol – Versuch einer Annäherung. In: Jean-Claude Schmitt (Hrsg.), Femmes, art et religion au Moyen Âge. Presses universitaires de Strasbourg-Musée d’Unterlinden, Straßburg/Colmar 2004, S. 87-101;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 22. Oktober 2021)

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