Dienstag, 2. Juli 2019

Passion mit Ausstrahlung – „Crucifixi dolorosi“ in Bocholt (St. Georg) und Köln (St. Georg)

Passionskruzifix (um 1310/1350); Bocholt, St. Georg
(für die Großansicht einfach anklicken)
Das gotische Passionskruzifix in der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol, um 1300 entstanden (siehe meinen Post „Um unsrer Sünden willen zerschlagen“), bedeutete in der deutschen Bildschnitzkunst eine Innovation von höchster künstlerischer und handwerklicher Qualität. „Nichts hatte auf dieses Meisterwerk hingedeutet“ (Hoffmann 2006, S. 75). Es stammt sehr wahrscheinlich aus der Hand eines Wanderkünstlers; unverkennbar waren die Kölner Schnitzer stark beeindruckt von dieser Skulptur des Gekreuzigten, deren Einfluss fast hundert Jahre andauerte. In Köln und im Rheinland (mit eng benachbarten Regionen) gibt es eine zusammenhängende Gruppe von Nachfolgewerken, die durch gemeinsame Merkmale verbunden sind: dünne Extremitäten, deutliches Absetzen des Brustkorbes vom eingefallenen Bauch, der weit nach vorne geneigte Kopf (wodurch der Nacken in eine fast waagerechte Position gerät), aufgerissene Nagelwunden und bogenförmige Falten neben der Nasenwurzel.
Die Mutter aller rheinischen Passionskreuze:
das Kruzifix in der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol
Jedes einzelne Werk der rheinischen Crucifixi dolorosi zeigt, welch tiefen Eindruck das Kapitolskruzifix hinterlassen hat. Aber keines reicht nur annähernd an das Vorbild heran, was die Feinheit der Holzbehandlung und die Plastizität vieler Details anbelangt. Zwei dieser Nachfolgewerke sollen hier vorgestellt werden: In der Pfarrkirche St. Georg in Bocholt (Westfalen) ist eines der am besten erhaltenen rheinischen Leidenskruzifixe anzutreffen, ein weiteres findet sich im Westbau der romanischen Kirche St. Georg in Köln. Ich verzichte an dieser Stelle darauf, den theologischen bzw. sozialgeschichtlichen Hintergrund der Crucifix dolorosi auszuführen, da ich bereits in meinem Post über das Kapitolskruzifix auf die mittelalterliche Passionsmystik eingegangen bin.
Das Bocholter Kruzifix wird seit mehreren Jahrhunderten mit einem Blutwunder des Jahres 1315 in Verbindung gebracht. Eine zwölfeckige Tafel, die unterhalb des Kreuzes angebracht ist, erzählt von dem legendenhaften Ereignis. 1945 geriet die Pfarrkirche durch einen Bombenangriff in Brand; den überstand das Kruzifix zwar in einem eigens errichteten Betonbunker, jedoch wurden durch die Hitzeentwicklung seine Hände verkohlt. Der aus Nussbaumholz geschnitzte Korpus ist mit einer Höhe von 102 cm vergleichsweise klein; die Spannlänge der Arme beträgt 97 cm. Arme und Kopf sind an- bzw. aufgesetzt.
1966 wurde das Bocholter Kruzifix umfassend restauriert. Dabei konnten alle späteren Übermalungen entfernt werden, sodass die darunter erhaltene weitgehend erhaltene Originalfassung nun wieder fast vollständig sichtbar ist. Während der Restaurierung sind auch die Hände ergänzt worden (nach dem Vorbild anderer Leidenskruzifixe in Paderborn und Köln). Zuvor hatte man erkannt, dass beide Hände bei einer Restaurierung im Jahr 1907 hinzugefügt worden waren. Auch neun Zehen mussten 1966 neu geschnitzt werden.
Der Bart Christi ist ornamental aus dem Holz geschnitzt. Die hölzerne Dornenkrone lässt sich abnehmen; es ist allerdings nicht sicher, ob sie zum originalen Bestand gehört. Das Gabelkreuz besteht aus Nadelholz, seine äußeren Enden sind zu unbekannter Zeit verkürzt worden. Der Brustraum des Korpus wurde ausgehöhlt und mit dem Rückenbrett verschlossen. Durch die Seitenwunde ist der vergleichsweise große Hohlraum zugänglich und konnte endoskopisch untersucht werden; er erstreckt sich von den Schultern bis etwa zur Oberkante des Lendentuches. In ihm ruhen vier Reliquien.
Die Fassung des Bocholter Kruzifix ist ganz eng an das Kapitolskruzifix angelehnt
Das Inkarnat Christi ist ockergelb und zeigt aufgemalte Geißelmale mit schwarzer Innenfläche, rotem Rand und drei unten ansetzenden Bluttropfen. Hinzu kommen plastische Geißelmale, die aus Grundierungsmasse kreisförmig aufgetragen sind. Auch an ihnen sind jeweils drei gemalte Blutläufe angesetzt. Das Inkarnat ist im Übrigen übersät mit zahllosen kleinen Blutstropfen. Mit Grundierungsmasse sind außerdem auf Armen und Beinen Adern aufgetragen. Das Lendentuch ist innen und außen hellgrau-weiß gefasst sowie mit zwei Begleitstrichen am äußeren Rand in Grün und Rot verziert.
Es ist vor allem die Fassung des Korpus mit seinen zahlreichen Geißelmalen, die das Bocholter Kruzifix ganz nah an das aus St. Maria im Kapitol heranrückt. Auch der stark leidende Gesichtsausdruck mit den kantig hochgezogenen Augenbrauen zeigt die enge Verwandtschaft der beiden Skulpturen. Außerdem ist wie bei dem Kölner Vorbild der Rücken anatomisch gestaltet. Godehard Hoffmann hält es deswegen für wahrscheinlich, dass das Bocholter Kruzifix ebenfalls in Köln entstanden ist. Der Crucifixus dolorosus aus Bocholt dürfte daher „etwa nach 1310 bis spätestens gegen Mitte des 14. Jahrhunderts vollendet“ (Hoffmann 2006, S. 56) worden sein.
Passionskreuz (um 1375/85); Köln, St. Georg (für die Großansicht einfach anklicken)
Das Leidenskruzifix in der romanischen Kirche St. Georg in Köln gehört wiederum zu den letzten und zugleich qualitätsvollsten Crucifixi dolorosi im Rheinland (um 1375/85) entstanden). Christus hängt gerade am Kreuz, auch die Arme sind ohne Beugung ausgestreckt, die Beine voneinander gelöst und im Dreinageltypus übereinandergelegt. Das Lendentuch ist ausgesprochen stofflich gestaltet und wird von einer dicken Kordel zusammengehalten. Der Korpus lässt das Kapitolskruzifix als Vorbild noch erkennen, ist aber dennoch erkennbar anders ausgeführt: Einerseits erinnern der expressive Leidensausdruck, das herabgesunkene Haupt, die dünnen Arme, die hochgezogenen Augenbrauen und die aufgerissenen Nagelwunden an den Gekreuzigten in St. Maria im Kapitol, „andererseits ist der Korpus nicht so stark gebrochen, der Umriß des Körpers ist vielmehr beruhigt“ (Hoffmann 2006, S. 75).
Der Korpus (Nussbaumholz) ist 166 cm hoch und 169 cm breit. Die Dornenkrone wurde aus dem Holz geschnitzt, einige Haarsträhnen sind teilweise abgebrochen. Das Gabelkreuz ist nicht original, es wurde bei einer Restaurierung in den 1950er Jahren hinzugefügt. Das Inkarnat ist in gleichmäßigem Rosa gehalten, das Haar von dunkelbrauner Farbe, die Dornenkrone grün. Es finden sich plastische Geißelmale aus Grundierung mit eingebundenen Hanffasern: „Die eingetiefte Form ist offensichtlich mit einem Stempel eingedrückt“ (Hoffmann 2006, S. 75). Das Lendentuch wird von einer goldenen, einen Zentimeter breiten Kante gesäumt, die mit einem dunklen Begleitstrich sowie einer gemalten Ornamentborte versehen ist.
Hoffmann kommt zu dem Ergebnis, dass die rheinischen Crucifixi dolorosi wie das Bocholter Kruzifix und das Kölner aus St. Georg nicht von dem Schnitzer des Kapitolskruzifix geschaffen wurden: „Die Bildhauer stammen aus der Region, sie haben sich mit dem Vorbild auseinandergesetzt und es in ihrer eigenen Formensprache wiederholt. (…) So wie die Formen der Skulptur inspirierend auf die regionale Schnitzerei eingewirkt haben, so war auch die Fassung eine Innovation, von der eine langanhaltende Wirkung ausging. Ihre wesentlichen Merkmale – der Dreiklang von plastischen Geißelmalen, gemalten Geißelmalen sowie zahlreichen Bluttropfen – sind genau beobachtet und beflissentlich wiederholt worden“ (Hoffmann 2006, S. 76). Dabei zeige keines der nachfolgenden Kreuze alle typischen Merkmale der Skulptur aus St. Maria im Kapitol, stets werde nur eine reduzierte Zahl von markanten Detailmotiven übernommen. Die ganze Gruppe der rheinischen Crucifixi dolorosi habe ihr Zentrum ohne Zweifel in Köln, wo die meisten dieser Leidenskruzifixe auch entstanden sein dürften.

Glossar
Bis zur Gotik wurde der der gekreuzigte Christus im sogenannten Viernageltypus dargestellt, d. h., die Hände und die nebeneinander befindlichen Füße sind, meist unter Verwendung eines Abstützbretts, mit je einem Nagel befestigt. Danach wurde das Dreinagelkruzifix üblich, bei dem die Füße Jesu übereinanderliegen und mit einem Nagel ans Kreuz geheftet sind.

Literaturhinweise
De Winter, Patrick M.: A Middle-Rhenish Crucifixus Dolorosus of the Late Fourteenth Century. In: The Bulletin of the Cleveland Museum of Art 7 (1982), S. 224-235;
Hoffmann, Godehard: Das Gabelkreuz in St. Maria im Kapitol zu Köln und das Phänomen der Crucifixi dolorosi in Europa. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 2006, S. 50-56;
Lüthgen, G. Eugen: Die Wirkung der Mystik in der Kölner und der niederrheinischen Bildnerei gegen Ende des 14. Jahrhunderts. In: Monatshefte für Kunstwissenschaft 8 (1915), S. 223-237;
Mühlberg, Fried: Crucifixus Dolorosus. Über Bedeutung und Herkunft des gotischen Gabelkruzifixes. In. Wallraf-Richartz-Jahrbuch 22 (1960), S. 69- 86;
Mühlberg, Fried: Das heilige Kreuz von Linn. In: Tilmann Buddensieg/Matthias Winner (Hrsg.), Munuscula Discipulorum. Kunsthistorische Studien. Hans Kauffmann zum 70. Geburtstag 1966. Verlag Bruno Hessling, Berlin 1968, S. 187-206.

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