Der Farnesische Stier (Ansicht von links); Neapel, Museo Archeologico Nazionale (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der antike Historiker
Plinius d.Ä. berichtet in seiner Naturalis historia von einer aus Rhodos
verschleppten Marmorgruppe der Künstler Apollonius und Tauriskos. Sie zeige
die Zwillingsbrüder Zethos und Amphion, die Königin Dirke und einen Stier. Da
Rhodos 42 v.Chr. nur ein einziges Mal von den Römern geplündert wurde, wird der Farnesische Stier bei diesem Anlass nach Rom gelangt sein und
dort als Vorbild für spätere Kopien gedient haben.
Vorderansicht des Farnesischen Stiers; die rechte Arme des Zethos und der Dirke verdecken ihre Gesichter (für die Großansicht einfach anklicken) |
Worum geht es? Thema
der Gruppe ist ein wenig geläufiger griechischer Mythos, der in der Antike
hauptsächlich durch ein erfolgreiches Drama des Euripides eine gewisse,
vorwiegend literarische Bekanntheit erlangte. Der Mythos handelt von der Rache
der Zwillingsbrüder Zethos und Amphion an der thebanischen Königin Dirke, die deren leibliche Mutter Antiope qualvoll erniedrigt hatte. Die thebanische
Königstochter Antiope, von Zeus verführt, bringt auf der Flucht vor ihrem
erzürnten Vater Nykteus in der Wildnis ihre beiden Söhne zur Welt. Die Brüder
werden von einem Hirten aufgezogen. Der thebanische Thronfolger Lykos holt die
nach Sikyon geflohene Antiope an den Königshof zurück, wo sie von dessen Gemahlin
Dirke als Sklavin gehalten wird. Bei einem rauschenden dionysischen Fest
befiehlt Dirke den Hirten Zethos und Amphion, Antiope zur Strafe für ihre
Verfehlung an einen Stier zu binden und zu Tode zu schleifen. In diesem Moment
erscheint der alte Hirte, der die Brüder zu sich genommen hatte, und offenbart
ihnen ihre wahre Abkunft. Daraufhin ergreifen die Söhne die grausame Dirke und
binden sie statt der unglücklichen Antiope an die Hörner des Stiers, der sie
über Felsen in den Tod reißt.
Ansicht von rechts: Es sieht gar nicht gut aus für Dirke (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Marmorgruppe
zeigt den Moment kurz vor der Schleifung der Dirke. Die nur knapp mit einem
kurzen Mantel (der Chlamys) bekleideten Zwillingsbrüder versuchen, den sich
aufbäumenden Stier in ihrer Mitte für einen Augenblick zu bändigen. Für einen
Stier ist das keineswegs eine natürliche Haltung, seine typische Drohgebärde
wäre ein gebückter Gang mit gesenktem Kopf. Links hat Zethos ein Seil um die Hörner
geschlungen und zerrt das wilde Tier zu der vor ihm auf dem Felsen
sitzenden Dirke, während Amphion von der anderen Seite den Kopf des Stieres mit beiden Händen ergreift. Mit der Rechten umklammert er das nach oben stoßende Horn, die Linke wiederum umfasst das Flotzmaul, und mit der Kraft beider Arme dreht Amphion dem Stier den Kopf zur Seite, sodass der Blick seiner rollenden Augen auf die Frau unter ihm fallen muss. „Der Stier ist offenbar unwillig und wird von den jungen Männern mit Brachialgewalt gezwungen, die Hinrichtung zu vollziehen“ (Andreae 1996, S. 30). Nun drohen dessen Vorderhufe die
entsetzte und mit der erhobenen linken Hand um Gnade flehende Königin im
nächsten Augenblick zu zertrampeln.
Dirke sucht mit ihrem abgewinkelten rechten Bein Halt auf dem Felsen, während das linke bereits über die Felskante herabbaumelt. Ihr Oberkörper dreht sich zu Amphion hin, dessen Bein sie mit einer Hand umklammert. Ihr rutschendes Gewand ist nur noch um Beine und Schultern geschlungen und entblößt den größten Teil ihres Körpers. Bernard Andreae ist der Ansicht, dass einige Körperteile der Hauptakteure bei den wiederholten Restaurierungen falsch ergänzt wurden: Ursprünglich habe Zethos überkreuz mit seiner Linken in die Haare der Dirke gegriffen und sie mit einem Ruck nach hinten gerissen, um sie rücklings unter den Stier zu werfen.
Dirke sucht mit ihrem abgewinkelten rechten Bein Halt auf dem Felsen, während das linke bereits über die Felskante herabbaumelt. Ihr Oberkörper dreht sich zu Amphion hin, dessen Bein sie mit einer Hand umklammert. Ihr rutschendes Gewand ist nur noch um Beine und Schultern geschlungen und entblößt den größten Teil ihres Körpers. Bernard Andreae ist der Ansicht, dass einige Körperteile der Hauptakteure bei den wiederholten Restaurierungen falsch ergänzt wurden: Ursprünglich habe Zethos überkreuz mit seiner Linken in die Haare der Dirke gegriffen und sie mit einem Ruck nach hinten gerissen, um sie rücklings unter den Stier zu werfen.
Antiope: vom römischen Kopisten hinzugefügt |
Die kunsthistorische
Forschung geht davon aus, dass die vierte Figur, die rechts hinter der
dramatischen Szene steht und die zu rächende Antiope darstellt, nicht zur
originalen Gruppe gehört. „Sie wirkt vergleichsweise steif und unbeteiligt und
scheint nur zur Füllung der ansonsten leeren rechten hinteren Ecke der Grundplatte
des Marmorblocks zu dienen“ (Schraudolph 2007, S. 238). Wahrscheinlich endete
das hellenistische Original bereits hinter Amphion und dem Stier und hatte
somit einen dreieckigen Grundriss. Auch der aufspringende Hund, die sitzende
Genrefigur sowie die angelehnte Lyra im Vordergrund wurden vom römischen
Kopisten hinzugefügt. Weiterhin ist der gesamte Tierfries weguzdenken, der sich
unterhalb der Standfläche um die Gruppe herumzieht. Die originale Basis der
Figurengruppe gab wohl den nackten felsigen Grund ohne Details wieder.
Die Komposition der
Gruppe fügt sich in der Vorderansicht zu einem spitzen Dreieck zusammen. Bei
dieser Ansicht entlang der Vorderkante ergeben sich allerdings sowohl bei
Zethos als auch bei Dirke Überschneidungen der Arme mit dem Gesicht. Geht man
um die Gruppe herum zu ihrer rechten Flanke, dann lösen sich die
Überschneidungen auf, und es wird klarer, was Zethos im Begriff ist zu tun. Die
beiden anderen Seiten der Gruppe bieten keine überzeugenden Ansichten.
Offensichtlich gab die Aufstellung der Skulptur dem Betrachter einen Weg von
der rechten Seite zur Vorderfront vor, auf dem er nach und nach die ganze Dramatik
des dargestellten Augenblicks erfassen konnte. Vor der Gruppe stehend, wurde
der Betrachter regelrecht in das Geschehen mit hineingerissen: Die Vorderhufe
des Stieres galoppieren direkt auf ihn zu, „die Distanz zwischen der Realität
des Kunstwerks und der des Betrachters ist aufgehoben“ (Schraudolph 2007, S.
239) – er erlebt die Schrecken der zu erwartenden Bestrafung regelrecht am
eigenen Leib mit.
Dieser Stier wird sich nur einen kurzen Augenblick bändigen lassen (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Skulpturengruppe
zeigt den Kulminationspunkt des Geschehens – in der nächsten Sekunde muss die pyramidale
Komposition auseinanderbrechen: Das Tier kann in dieser Stellung keinen weiteren Augenblick verharren, sein Tonnengewicht stürzt unmittelbar auf die
Frau unter seinen Klauen, ihr üppiger Leib wird von dem wütenden Stier zermalmt
und davongeschleift, die Jünglinge springen zur Seite. „Der Lauf der
Tragödie ist nicht aufzuhalten“ (Andreae 2001, S. 163).
Christian Kunze
interpretiert die Dirke-Gruppe als Denkmal zu Ehren des pergamenischen Königs
Eumenes II. und seines inoffiziell mitregierenden Bruders Attalos, „was
natürlich letzten Endes nicht streng zu beweisen ist“ (Kunze 2002, S. 30). Indizien
hierfür seien die enge Verbundenheit der Brüder und ihre betont zur Schau
gestellte Mutterverehrung. Vorauszusetzen wären gute Beziehungen zwischen
Rhodos und Pergamon, wie sie zwischen 201 und etwa 180 v.Chr. und dann wieder
nach einem längeren Zerwürfnis seit 164 v.Chr. nachweislich bestanden. Treffen
diese Annahmen zu, dann müsste der Farnesische
Stier in der Herrschaftszeit Eumenes’ II. zwischen 197 und 158 v.Chr.
entstanden sein.
Bernard Andreae meint es noch genauer zu wissen: Bei der Figur der Dirke handele es sich um eine Personifikation der Gallia, des Volkes der Galater bzw. Gallier, das Eumenes II. und sein Bruder Attalos in der Schlacht am Berg Tmolos bei Sardeis in Phrygien 166 v. Chr. besiegt hatten. „Sie behaupteten, der im nicht weit entfernten Nysa aufgezogene Gott Dionysos sei ihnen zu Hilfe gekommen und habe ihnen den Sieg verliehen“ (Andreae 1998, S. 202) Aus der griechischen Mythologie wissen wir, dass sich Dionysos auch in Gestalt eines Stieres zeigt. „Indem dieser Dionysosstier, von Amphion und Zethos (alias Eumenes und Attalos) gedrängt, die mit Dirke gleichgesetzte Personifikation der Gallia niedertrampelt, wird die ganze Gruppe ein mythisches Bild für die historische Vernichtung der Gallier durch Eumenes und Attalos im Jahre 166 v.Chr.“ (Andreae 1998, S. 203). Entsprechend engt sich für Andreae die Entstehung des Farnesisches Stiers auf die Jahre zwischen 166 und 158 v.Chr. ein.
Der niederländische Bildhauer Adriaen de Vries (1556–1626) schuf 1614 seine eigene Version des Farnesischen Stiers – mit dem Ziel, das antike Vorbild nicht einfach zu kopieren, sondern zu übertreffen, auch wenn das Format mit einer Höhe von 103,5 cm deutlich kleiner als das Original angelegt ist. Stolz verkündete er, dass sein „Toro“ nach der Meinung von Experten „so vihl wert sey, alß der Zu Roma von Marmor stehe“. Die Gruppe von de Vries wiederholt die antike Skulptur recht getreu, zeichnet sich jedoch durch einen steileren und kompakteren Aufbau aus. De Vries gestaltet die Seitenansichten wie auch die Rückseite ästhetisch interessanter als das Original, indem er einige Elemente anders anordnet; außerdem variiert er die Figuren in Alter und Charakter und verleiht ihnen stärkere Bewegungen. Während der Hund z. B. in der antiken Marmorgruppe frei im Vordergrund steht, ist er in der Bronzeskulptur zwischen Antiope und dem sitzenden Jüngling platziert. Er stützt sich mit der Vorderpfote auf dessen Knie, die andere hat er auf den höheren Felsvorsprung gestellt. Damit schafft de Vries eine in die Höhe weisende Bewegung, die am linken Fuß des Jünglings einsetzt. Auch Antiope ist bei de Vries nicht mehr isoliert, sondern sinnvoller in die Darstellung eingebunden. „In
der spannungsvolleren Komposition und in den kraftvoll modellierten
Körpern, aber auch in der Detailgestaltung, etwa den naturalistischen
Szenen mit den Tierdarstellungen am Sockelrand, übertraf er das dagegen
gleichförmig und kraftlos erscheinende Vorbild“ (Krahn 1995, S. 32). Ganz ähnlich urteilt Frits Scholten: „Insgesamt ist die Bronzegruppe ausdrucksvoller, aktionszentrierter und allseitiger komponiert als ihr römisches Vorbild aus Marmor“ (Scholten 2000, S. 272).
Der Florentiner Bildhauer Giovanni Francesco Susini (1585–1653) hat im 2. Viertel des 17. Jahrhunderts eine verkleinerte Bronze-Nachahmung der antiken Figurengruppe angefertigt. Die mit rotgoldener Lackpatina überzogene Skulptur hat eine Höhe von 42 cm. Susini war ein Schüler Giambolognas (1529–1608), der vor allem die Nachfrage nach dessen Kleinbronzen befriedigte. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts führte er den Stil Giambolognas weiter – Susinis Werke wurden bereits 50 Jahre später mit jenen seines Meisters verwechselt.
Bernard Andreae meint es noch genauer zu wissen: Bei der Figur der Dirke handele es sich um eine Personifikation der Gallia, des Volkes der Galater bzw. Gallier, das Eumenes II. und sein Bruder Attalos in der Schlacht am Berg Tmolos bei Sardeis in Phrygien 166 v. Chr. besiegt hatten. „Sie behaupteten, der im nicht weit entfernten Nysa aufgezogene Gott Dionysos sei ihnen zu Hilfe gekommen und habe ihnen den Sieg verliehen“ (Andreae 1998, S. 202) Aus der griechischen Mythologie wissen wir, dass sich Dionysos auch in Gestalt eines Stieres zeigt. „Indem dieser Dionysosstier, von Amphion und Zethos (alias Eumenes und Attalos) gedrängt, die mit Dirke gleichgesetzte Personifikation der Gallia niedertrampelt, wird die ganze Gruppe ein mythisches Bild für die historische Vernichtung der Gallier durch Eumenes und Attalos im Jahre 166 v.Chr.“ (Andreae 1998, S. 203). Entsprechend engt sich für Andreae die Entstehung des Farnesisches Stiers auf die Jahre zwischen 166 und 158 v.Chr. ein.
Adriaen de Vries: Der Farnesische Stier (1614); Gotha, Schlossmuseum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Giovanni Francesco Susini: Der Farnesische Stier (2. Viertel des 17. Jh.); Wien, Gartenpalais Liechtenstein |
Charles Lawes-Wittewronge: Der Tod der Dirke (1906); London, Tate Britain (für die Großansicht einfach anklicken) |
Vom Anfang des 20. Jahrhunderts stammt eine weitere Bronzeskulptur, die sich eng an den Farnesischen Stier anlehnt, diesmal wieder im Großformat: Der Tod der Dirke des britischen Bildhauers Charles Lawes-Wittewronge (1843–1911), 1906 entstanden, lässt sich heute vor dem Eingang der Tate Britain in London bestaunen.
Literaturhinweise
Andreae, Bernard: Der Farnesische Stier. Schicksale eines Meisterwerkes. Rombach Verlag, Freiburg i.Br. 1996;
Andreae, Bernard: Schönheit des Realismus. Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik. Verlag Philip von Zabern, Mainz 1998, S. 194-206;
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001, S. 160-163;
Krahn, Volker: „Von allen Seiten schön“. In: Volker Krahn (Hrsg.), Von allen Seiten schön. Bronzen der Renaissance und des Barock. Edition Braus, Heidelberg 1995, S. 10-33;
Andreae, Bernard: Schönheit des Realismus. Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik. Verlag Philip von Zabern, Mainz 1998, S. 194-206;
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001, S. 160-163;
Krahn, Volker: „Von allen Seiten schön“. In: Volker Krahn (Hrsg.), Von allen Seiten schön. Bronzen der Renaissance und des Barock. Edition Braus, Heidelberg 1995, S. 10-33;
Kunze, Christian: Zum Greifen nah. Stilphänomene
in der hellenistischen Skulptur und ihre inhaltliche Interpretation. Biering
& Bringmann, München 2002, S. 25-38;
Scholten, Frits: Adriaen de Vries, Der Farnesische Stier. In: In: Björn R. Kommer (Hrsg.), Adriaen de Vries: 1556–1626. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. Umschau Braus Verlagsgesellschaft, Heidelberg 2000, S. 272-276;
Schraudolph, Ellen:
Beispiele hellenistischer Plastik der Zeit zwischen 190 und 160 v.Chr. In: Peter C. Bol (Hrsg.), Die Geschichte der antiken
Bildhauerkunst III. Hellenistische Plastik. Verlag Philipp von Zabern, Mainz
2007, S. 237-239.
Scholten, Frits: Adriaen de Vries, Der Farnesische Stier. In: In: Björn R. Kommer (Hrsg.), Adriaen de Vries: 1556–1626. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. Umschau Braus Verlagsgesellschaft, Heidelberg 2000, S. 272-276;
(zuletzt bearbeitet am 7. November 2023)
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