|
Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1889); Otterlo, Kröller-Müller Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
|
Zwischen Juli 1888 und April 1889 malte Vincent van
Gogh (1853–1890) sechs Bildnisse von Joseph-Étienne Roulin, dem Postmeister am
Bahnhof von Arles. Der „Briefträger“, wie ihn van Gogh in seinen Briefen
nannte, war für den Künstler als enger Freund und „Personifizierung des
gutmütigen und wohlwollenden Menschen der Provence“ (Moffett 1993, S. 168) sehr
wichtig. Wahrscheinlich hatten sich van Gogh und Roulin im Café de la Gare
kennengelernt, wo van Gogh von Mai bis Mitte September 1888 ein gemietetes
Zimmer bewohnte, bevor er in das sogenannte Gelbe Haus nicht weit vom Haus der
Familie Roulin zog. Verglichen mit dem Künstler waren die Roulins arm. Während
van Gogh mit den 250 Francs nicht auskam, die er monatlich von seinem Bruder
Theo aus Paris erhielt (davon musste er nicht einmal sein Malmaterial
bezahlen), ernährte Roulin Frau und Kinder von 135 Francs Lohn, die er als Entreposeur
des Postes verdiente.
|
Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1888); Boston, Museum of Fine Arts (für die Großansicht einfach anklicken)
|
Van Gogh erwähnte Roulin zum ersten Mal in einem
Brief, den er im August 1888 an seine Schwester Wilhelmina schrieb: „Jetzt
arbeite ich am Porträt eines Briefträgers in seiner dunkelblauen Uniform mit
Gelb. Ein Kopf, ein bisschen wie Sokrates, fast keine Nase, eine hohe Stirn,
kahler Schädel, kleine graue Augen, sehr rote, volle Wangen, ein großer,
graumelierter Bart, große Ohren“ (Sämtliche Briefe, Bd. 4, S. 48). Ende Juli
und Anfang August malte van Gogh den zu dieser Zeit 47-jährigen Roulin in einem
Sessel sitzend als Dreiviertelfigur. In der Komposition ähnelt das Bild dem
gerade von ihm fertiggestellten Bildnis La Mousmé: Bei beiden Gemälden
handelt es sich um ein Kniestück, bei dem das Modell auf einem Rohrstuhl mit
geschwungener Arm- und Rückenlehne sitzt.
|
Vincent van Gogh: La Mousmé (1888); Washington D.C., National Gallery of Art (für die Großansicht einfach anklicken)
|
Doch gibt es deutliche Unterschiede: Die „Mousmé“
ist stärker in den Vordergrund gerückt; „der Rohrstuhl umgibt das noch junge
und zierliche Mädchen wie ein mächtiger Thron, auf dem die Dargestellte elegant
und würdevoll sitzt“ (Arnold 1995, S. 162). Das gepunktete Kleid ist als
Halbkreisfläche ohne jede Räumlichkeit angelegt. Roulin hingegen ist durch die
Stellung seiner Beine vom Bildbetrachter weiter abgerückt. Breit sitzt er auf
dem hier viel kleiner und zerbrechlicher wirkenden Rohrstuhl, seine rechte Hand
etwas ungelenk auf die Armlehne gestützt, während sein linker Unterarm auf der
Ecke des rechts im Bild erscheinenden Tisches ruht, der wie Sitzhaltung und
Stuhl im Vordergrund Räumlichkeit suggeriert.
|
Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1888); Detroit, Detroit Institute of Arts (für die Großansicht einfach anklicken)
|
Van Gogh vollendete in diesem Zeitraum auch ein
Brustbildnis von Roulin. Es ist eine einfache Komposition: Der Dargestellte
wird en face gezeigt, die Oberarme sind seitlich vom Bildrand
angeschnitten. Dieses Bruststück weist einen hellblauen, kaum strukturierten
Hintergrund auf. Der lange Doppelbart ist wie auf der Sitzfigur der
gleichzeitig gemalten großen Fassung durch zahlreiche, verschiedenfarbige helle
und dunkle Striche charakterisiert, das Gesicht hingegen seltsam ausdruckslos, längst
nicht so lebendig wie auf dem Porträt mit Stuhl und Tisch.
|
Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1889); Winterthur, Kunst Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
|
Ende November und Anfang Dezember malte van Gogh den
Postmeister erneut in einem Bruststück (Winterthur), und zwar im Zuge einer
Porträtreihe, die Roulin, seine Ehefrau, ihre beiden Söhne und die Tochter im
Babyalter wiedergibt. Die dunklere Figur Roulins erscheint silhouettenhaft vor
einer hellen Hintergrundfolie, ähnlich wie bei dem vermutlich um diese Zeit
entstandenen Porträt von Joseph-Michel Ginoux. „Den Farbklang der drei
Grundfarben Blau, Gelb und Rot begleitet in Gesicht und Bart der
Komplementärkontrast Rot/Grün, der durch die gebrochenen Farbtöne von Haut und
Haaren gemildert wird“ (Arnold 1995, S. 163). Den indischgelben
Flächenhintergrund setzte van Gogh setzte auch noch bei dem kleinen Porträt von
Roulins Sohn Armand ein.
|
Vincent van Gogh: Joseph-Michel Ginoux (1888); Otterlo, Kröller-Müller Museum
|
|
Vincent van Gogh: Armand Roulin (1888); Privatsammlung
|
Van Gogh malte noch drei weitere Brustbildnisse von
Roulin, wahrscheinlich Anfang 1889. Keines davon wird jedoch in seiner
Korrespondenz des Winters 1888/89 erwähnt, in der sich sonst zu fast jedem
Werk, das er zwischen Dezember und April malte, Hinweise finden. Wir besitzen
somit keine genaue Kenntnis über die zeitliche Abfolge, in der die drei
Porträts entstanden sind. Da der Hintergrund jeweils eine Variante der Blumentapete
ist, wie van Gogh sie in den fünf verschiedenen Porträts von Madame Roulin mit
dem Titel La Berceuse gemalt hat, die zwischen Dezember 1888 und Ende
März oder Anfang April 1889 entstanden sind, sowie im Bildnis von Dr. Félix
Rey, das van Gogh Anfang 1889 malte, werden die drei Roulin-Bildnisse meist der
gleichen Schaffensperiode zugeordnet.
|
Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1889); New York, Museum of Modern Art (für die Großansicht einfach anklicken)
|
|
Vincent van Gogh: Joseph-Étienne Roulin (1889), Philadelphia, Barnes Foundation (für die Großansicht einfach anklicken)
|
Vergleicht man diese drei Versionen, dann hebt sich
diejenige im New Yorker Museum of Modern Art erkennbar von den beiden anderen
ab, weil die Oberfläche gründlicher bearbeitet wurde und der Hintergrund
komplexer ausgeführt ist. Die Fassungen der Barnes Foundation und die in
Otterlo zeigen beide auf der als Hintergrund verwendeten Tapete das dekorative Blumenmotiv,
nicht aber das schuppenartige Muster, das sowohl auf dem New Yorker Bildnis als
auch auf den fünf Versionen von La Berceuse zu sehen ist. Das Porträt
aus der Barnes Foundation ist dabei die einzige signierte Version; am oberen
Bildrand hat der Maler in Rot seinen Vornamen hinzugefügt. Einen Unterscheid
gibt es auch bei der Farbe des Uniform-Besatzes: In den Fassungen von New York
und Otterlo hat die Uniform einen gelben oder goldenen Besatz, auf der Leinwand
der Barnes Foundation dagegen ist er dunkelblau oder schwarz. Falls es sich tatsächlich
um eine andere Uniform handelt, ist es wahrscheinlich die, die van Gogh in
einem Brief um den 22. Januar 1889 erwähnt; Roulin trug sie während seiner
Abschiedsfeier, bevor er Arles verließ, um eine neue Stelle in Marseille
anzutreten.
|
Vincent van Gogh: La Berceuse (1889); New York, Museum of Modern Art (für die Großansicht einfach anklicken)
|
|
Vincent van Gogh: Dr. Félix Rey (1889); Moskau, Puschkin-Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
|
Die außerordentliche Stärke von Roulins Freundschaft
und Loyalität zeigte sich besonders deutlich in den Tagen nach der bekannten
Episode kurz vor Weihnachten 1888, als van Gogh nach einem heftigen Streit mit
Paul Gauguin sein linkes Ohr verstümmelte und das abgetrennte Ohrläppchen einer
Prostituierten in einem Bordell präsentierte. Roulin und seine Frau besuchten
van Gogh während seiner Internierung im Krankenhaus, Roulin durfte van Gogh am
4. Januar für einen Besuch ins Gelbe Haus aufnehmen; er hielt Theo van Gogh
über die Gesundung seines Bruders auf dem Laufenden und begleitete diesen, als
er am 7. Januar aus dem Krankenhaus entlassen wurde – sie gingen an jenem Abend
gemeinsam essen.
Van Gogh schuf in Arles 23 Bildnisse von Mitgliedern
der Familie Roulin: Neben den sechs vom Postmeister existieren acht von Madame
Roulin, von den Söhnen Armand und Camille jeweils drei, vom Säugling Marcelle
fünf (davon zwei zusammen mit der Mutter). Wie hoch diese Zahl im Verhältnis
ist, erkennt man daran, dass van Gogh in Arles insgesamt nur 43 Porträts malte.
|
Gabriele Münter: Knabenbildnis (1908); Köln, Museum Ludwig
|
Den immensen Einfluss, den das Werk van Goghs auf
den deutschen Expressionismus hatte, ist hinlänglich bekannt. Das gilt auch für
das Porträt – ein kleiner Beleg dafür ist mit jüngst im Kölner Museum Ludwig begegnet:
Dort hängt ein von Gabriele Münter (1877–1962) 1908 geschaffenes kleines Knaben-Brustbildnis,
das sich in seinem malerischen Duktus und vor allem in dem flächigen gelben
Hintergrund eng an die entsprechenden Porträts von Armand und Joseph-Étienne
Roulin anlehnt.
Literaturhinweise
Arnold, Matthias: Vincent van Gogh. Werk und Wirkung. Kindler Verlag, München
1995, S. 162-177;
Dorn, Roland: Die Zeit in Arles. Symbolik und Dekoration. In: Van Gogh. Die
Porträts. DuMont Buchverlag, Köln 2000, S. 135-171;
Moffett, Charles S.: Vincent van Gogh, Joseph-Étienne Roulin. In: La joie de vivre.
Die nie gesehenen Meisterwerke der Barnes Collection. Kindler Verlag, München
1993, S. 168-171;
van Gogh, Vincent: Sämtliche Briefe. 6 Bände. Lamuv-Verlag, Bornheim-Merten 1985.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen