Samstag, 9. Juni 2018

Michelangelo niederzwingen – Pierino da Vincis „Samson erschlägt einen Philister“


Pierino da Vinci: Samson erschlägt einen Philister (um 1550); Florenz, Palazzo Vecchio
Der Bildhauer Pierino da Vinci, Neffe des berühmte Leonardo, gehört zu den schnell erloschenen Sternen am Kunsthimmel – er starb im Alter von nur 23 Jahren an Malaria (1529–1553). Seine wichtigsten Werke entstanden während seiner letzten fünf Lebensjahre in Pisa. Dorthin war er seinem Mäzen Luca Martini gefolgt, der hier seit 1547 als Statthalter des Herzogs Cosimo I. amtierte. Der Künstlerbiograf Giorgio Vasari berichtet, Luca Martini habe in dieser Zeit einen drei Meter hohen Marmorblock aus Carrara nach Pisa schaffen lassen und ihn ohne bestimmten Auftrag Pierino übergeben. Aus diesem Marmorblock schuf der junge Bildhauer dann um 1550 die Skulptur Samson erschlägt einen Philister (2,23 m hoch).
Die Zweiergruppe steht heute im ersten Innenhof des Florentiner Palazzo Vecchio in einer flachen Wandnische, dem Eingang gegenüber. Doch dort wurde sie erst 1592 aufgestellt, anlässlich der Taufe Cosimos II. Dass es sich nicht um den ursprünglichen Aufstellungsort handelt, lässt die Statue selbst erahnen: Ihre sehr unterschiedlichen Ansichten verlangen regelrecht, dass der Betrachter die Figur umschreitet, wenn er erfassen will, was eigentlich dargestellt ist. Denn nur wenn man sich der Skulptur von links nähert, ist der Eselsbackenknochen deutlich sichtbar, der die Figur als Samson kennzeichnet. Nach alttestamentlicher Erzählung erschlug Samson, nachdem der Geist Gottes über ihn gekommen war, mit dem Kieferknochen eines Esels 1000 feindliche Philister (Richter 15,1-20).
Zum Samson wird der Muskelmann erst durch den Eselsknochen
Tritt man also von links an Pierinos Skulptur heran, ist zwar die Waffe in Samsons rechter Hand gut zu sehen, aber er hat den Kopf abgewendet. Markant ragt sein angewinkeltes linkes Knie hervor, dass auf einem zunächst nicht näher erkennbaren Körper aufliegt. Bei genauerem Hinsehen wird der Betrachter aus diesem Blickwinkel eine Hand bemerken, die nach Samsons rechter Wade fasst. Die Kopfwendung des biblischen Muskelmannes ist quasi die Aufforderung an den Betrachter, weiterzugehen und die Figur zu umrunden. In der anschließenden Frontalansicht präsentiert Samson seinen nackten Körper vollständig, und nun ist auch seine Haltung am besten nachvollziehbar: Mit seinem linken, spitz angewinkelten Bein stemmt er sich gegen den Nacken seines besiegten Feindes, während er sich mit dem rechten Bein auf dem Boden abstützt. Sein Oberkörper wird uns von vorne gezeigt, ist jedoch leicht nach rechts geneigt; der Kopf erscheint in scharfem Profil. Der unterworfene Philister muss sich unter der Last Samsons zusammenkauern, sein Gesicht ist in der Frontalansicht nicht zu sehen; die Linke Samsons, die in den Schopf des Gegners greift, drückt dessen Kopf nach hinten. Die durch die Drehung des eingeklemmten Armes und das Gewicht Samsons „besonders stark hervortretende Rückenmuskulatur des Philsters und das wie ein zusammengepreßtes Polster zwischen die Kontrahenten geschobene Tuch werden Druck und Gegenwehr der Kämpfenden zusätzlich unterstrichen“ (Kusch-Arnhold 2008, S. 211).
Michelangelo aus dem Feld schlagen
Die Ansicht von rechts zeigt uns einen hoch über dem Besiegten aufragenden Samson. Sein Antlitz ist „von Anstrengung gezeichnet, während sich das Gesicht des Philisters schmerzhaft verkrampft“ (Plackinger 2016, S. 105). Und dieses nach unten gepresste Gesicht bietet nun eine wirkliche Überraschung, denn es zeigt die Züge von niemand anderem als – Michelangelo. Die lockige Kurzhaarfrisur, der Vollbart, der sich am Kinn teilt, die breite Stirn mit den wulstigen Brauen und die deformierte plumpe Nase lassen keinen Zweifel, so Andreas Plackinger, an der Identität des Dargestellten.
Daniele de Volterra: Michelangelo-Büste (1564/66); Paris, Louvre
Ohne Frage bezieht sich Pierinos Samson auf Michelangelos zweifigurige Sieger-Skulptur, die heute ebenfalls im Palazzo Vecchio aufgestellt ist (siehe meinen Post „Auftakt der manieristischen Skulptur“). Darüber hinaus wird in der Casa Buonarroti in Florenz auch ein Ton-Bozzetto Michelangelos mit zwei kämpfenden Figuren aufbewahrt, der als Entwurf zu einer Samson-Philister-Gruppe gilt. Vergleichbar ist hier, dass der Überlegene den Unterlegenen gleichzeitig mit dem angewinkelten Bein und dem ausgestreckten Arm niederdrückt. Das spitz angewinkelte Bein geht andererseits ebenso wie die betonte Rückenmuskulatur des Philisters auf Michelangelos Sieger zurück. Allerdings erhebt sich Pierinos Samson weder wie der Sieger leicht und ungehindert üner dem völlig machtlsoen Gegener, noch sind die beiden Gestalten in einen hin und her wogenden Kampf verstrickt wie bei Michelangelos Bozzetto, der mit der niederschnellenden Rechte der stehenden Figur ein Ende finden wird. „Samson dagegen lastet mit seiner ganzen körperlichen Schwere auf dem fast gleich großen Besiegeten. Künstlerische Aufgabe ist hier offensichtlich auch die Präsentation und Ausgestaltung des heroischen Aktes, sie drängt die Darstellung eines Geschehens Triumph oder Kampf in den Hintergrund“ (Kusch-Arnhold 2008, S. 212).
Michelangelo: Der Sieger (1524); Florenz, Palazzo Vecchio
Michelangelo: Ton-Bozzetto für eine Samson-Philister-Gruppe (um 1530);
Florenz, Casa Buonarroti
Stark bewegte und aus antagonistischen Gestalten gefügte Zweiergruppen waren durch Michelangelo in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts in die nachantike Skulpturenkunst eingeführt worden und galten als bildhauerische Herausforderung par excellence. „An seinen, teilweise unausgeführt gebliebenen Inventionen eines kämpfenden und eines triumphierenden Typs hatten sich alle nachfolgenden Künstler zu messen“ (Kusch-Arnhold 2008, S. 208).
Pierinos Samson ist daher ein besonderes Beispiel für das Konzept der aemulatio, also dem Bestreben, das berühmte und bewunderte künstlerische Vorbild nicht nur nachzuahmen, sondern zu übertreffen. Denn was wir hier mit dem Samson vor uns sehen, ist eine so unverhohlen von Gewalt geprägte Ausformulierung des Sich-Messens mit Michelangelo, das Andreas Plackinger von „Vatermord“ spricht (Plackinger 2016, S. 103).

Literaturhinweise
Kusch-Arnhold, Britta: Pierino da Vinci. Rhema-Verlag, Münster 2008, S. 200-214;
Plackinger, Andreas: Violenza. Gewalt als Denkfigur im michelangelesken Kunstdiskurs. Walter De Gruyter, Berlin/Boston 2016, S.103-109;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2: Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 221.

(zuletzt bearbeitet am 10. April 2019) 

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