Polyklet: Doryphoros (um 440 v.Chr., römische Marmorkopie); Neapel, Nationalmuseum (für die Großansicht einfach anklicken) |
In römischen
Kopien ist immerhin ein halbes Dutzend seiner Werke verhältnismäßig zuverlässig
überliefert. Diese Zahl klingt zwar bescheiden, wird aber respektabler, wenn
man berücksichtigt, dass ein Bildhauer des 5. Jahrhunderts wohl fast zwei Jahre
zur Vollendung einer lebensgroßen Bronzestatue einzusetzen hatte, sodass
„immerhin ein Drittel bis ein Viertel des Gesamtwerks Polyklets faßbar wird“
(Bol 1990, S. 16). Fast durchweg handelt es sich um Darstellungen nackter
junger Männer, die sich in der Kopfwendung und im Verhältnis von Stand- und
Spielbein gleichen.
Die bekannteste Statue Polyklets ist der Doryphoros (Speerträger). In der Antike
galt er als das Musterwerk der polykletischen Kunst, ja der Kunst überhaupt. In antiken Schriften wird der Doryphoros mehrfach erwähnt, so z. B. bei Cicero und Plinius; allerdings erfährt man nichts Näheres über das Motiv der Statue, ihren ursprünglichen Standort, den Auftraggeber und die Entstehungszeit. Der Doryphoros ist die Skulptur, in
der auf bis heute unübertroffene Weise das harmonische Gleichgewicht der
Gegensätze Form annimmt; in ihm verkörpert sich in jeder Hinsicht, was die
alten Griechen „das rechte Maß“ nannten. Das rechte Maß ist nach Aristoteles
immer eine Mitte (mesótes) zwischen
Extremen oder Gegensätzen. Der bekannteste Ausdruck für das Spiel der
Gegensätze bei einer Skulptur ist der Kontrapost, also das Bewegungsmotiv von
Stand- und Spielbein. Der Kontrapost ist das wesentliche Element der
polykletischen Statuen, „der Grundgegensatz, der alle anderen erst möglich macht
oder sie hervorruft“ (Steuben 1990, S. 186). Belastetes und unbelastetes Bein,
aufgesetzter und zurückgesetzter Fuß sind als Gegensätze erkennbar und in einem
gespannten Gleichgewicht gehalten.
Einfach klassisch: der Kontrapost |
Der Doryphoros
ist nach klaren Maßverhältnissen und einem berechenbaren Proportionssystem
aufgebaut – das aber bis heute nicht restlos entschlüsselt ist. So halten sich
z. B. der obere und der untere Teil der Statue bzw. der lastende und der
tragende die Waage. Der Rumpf ist so breit wie lang, wenn man ihn an den
Schultern und von der Halsgrube bis zur Leistenfuge misst. Beim Kopf entspricht
die größte Breite der Kalotte der Länge des Gesichts. Ein weiteres gesichertes
Maßverhältnis ist das des Fußes zur ganzen Höhe – es beträgt 1 : 6.
Wen aber stellt der Doryphoros nun eigentlich dar? Ein siegreicher Athlet, so German Hafner, kann es nicht sein, denn der Speer, der bei den sportlichen Wettkämpfen der Griechen geworfen wurde, ein Akontion, war relativ leicht und kurz. Er ist nicht zu verwechseln mit dem Dory, der langen schweren Kampfwaffe, die dem Doryphoros den Namen gab. Es muss sich also um einen Helden der Vorzeit handeln, denn nur diesen Heroen standen solche überlebensgroßen Statuen zu: Der Doryphoros misst nach den erhaltenen Kopien 198 bis 200 cm und würde in aufrechter Haltung sogar 204 cm groß sein.
Es gibt aber unter den Helden der griechischen Mythologie nur einen, dessen persönliches Attribut ein Speer war, nämlich Achill. Dessen Speer war so schwer, dass er von keinem anderen außer ihm geschwungen und geworfen werden konnte; Patroklos verzichtete daher auf ihn, als er mit den Waffen seines Freundes Achill in den Kampf zog (Ilias XVI, 140-144).
Wenn es sich um Achill handelt – in welcher speziellen Situation könnte er dargestellt sein? Der Doryphoros entspricht der verbreiteten Vorstellung von Achill als gefürchtetem Kämpfer in der Schlacht. Die perfekte Harmonie der Statue, ihre Ausgewogenheit in Stand und Bewegung scheint mit dem Bild des Kriegers nicht in Einklang zu stehen; sie deuten Eigenschaften an, die nicht zu Achill passen: „Er handelte doch oft impulsiv und unbeherrscht, war maßlos in Haß und Liebe, also nicht im mindesten ausgeglichen“ (Hafner 1994, S. 34).
German Hafner ist der Ansicht, Polyklet habe mit dem Doryphoros den „Zorn des Achill“ gestaltet. In der Ilias fordert Agamemnon von Achill dessen Geliebte Briseis – als Ersatz für seine eigene Geliebte Chryseis. Achill empfindet das als ungeheure Anmaßung Agamemnons; sein Zorn entlädt sich in heftigen Worten und dem Entschluss, sich zu rächen, indem er den Kämpfen fernbleibt. „Der herabhängende rechte Arm ist also ein Hinweis auf das Nichtstun, mit dem der von den Trojanern am meisten gefürchtete Kämpfer den Agamemnon straft“ (Hafner 1994, S. 45).
Dass man einen Speer mit der Rechten trug, wusste in der Antike jeder, so Hafner. Davon konnte Polyklet ausgehen. Der antike Betrachter schloss daraus, dass dieser Mann den Speer aus der Rechten in die Linke übergeben hat – offenbar, weil er ihn nicht zu benutzen gedenkt. „Dieser Wechsel geschah zudem plötzlich, denn der Speer ruht nicht auf der Schulter, sondern wird frei getragen“ (Hafner 1994, S. 46). Die freie Haltung des Speeres erhöht die Wirkung, die vom linken Arm ausgeht, sie betont den Entschluss und die schnelle Ausführung. Diese spontane Reaktion des Achill auf die Kränkung durch Agamemnon ist ein entscheidendes Ereignis im Leben des Helden.
Hafner sieht im „Schrittstand“ des Achill und der freien Haltung des Speeres aber auch einen Hinweis auf das weitere Geschick des Helden: Der antike Betrachter „erkannte dabei auch das Vorübergehende seiner Verweigerung, die seiner Natur so widerspricht; in nicht ferner Zukunft wird der Held wieder der Schrecken der Trojaner sein“ (Hafner 1994, S. 61/62).
Hafner zeichnet in seinem schmalen, aber sehr lesenswerten Buch über den Doryphoros auch das spätere Schicksal der Statue selbst nach: Es ist wahrscheinlich, dass sie im Zusammenhang mit der riesigen Kunstbeute, die die Römer machten, als sie sich Griechenland einverleibten, nach Rom gelangte. Als Kaiser Konstantin Byzanz zur neuen Hauptstadt des Reiches ernannte (330 n.Chr.), schmückte er sie mit Kunstwerken aller Art, die er dorthin bringen ließ. Darunter war auch der Achill des Polyklet, der in einer großzügigen Thermenanlage aufgestellt wurde, dem sog. Zeuxippos-Bad. Im Jahr 532 n.Chr. schlug für den Doryphoros-Achill die Schicksalsstunde: Im „Nika“-Aufstand gegen Kaiser Justinian legte die Menge Feuer an die wichtigsten Gebäude der Stadt; auch die Zeuxippos-Thermen gingen in Flammen auf – und mit ihnen dieses Meisterwerk.
Athlet oder Heros? |
Es gibt aber unter den Helden der griechischen Mythologie nur einen, dessen persönliches Attribut ein Speer war, nämlich Achill. Dessen Speer war so schwer, dass er von keinem anderen außer ihm geschwungen und geworfen werden konnte; Patroklos verzichtete daher auf ihn, als er mit den Waffen seines Freundes Achill in den Kampf zog (Ilias XVI, 140-144).
Wenn es sich um Achill handelt – in welcher speziellen Situation könnte er dargestellt sein? Der Doryphoros entspricht der verbreiteten Vorstellung von Achill als gefürchtetem Kämpfer in der Schlacht. Die perfekte Harmonie der Statue, ihre Ausgewogenheit in Stand und Bewegung scheint mit dem Bild des Kriegers nicht in Einklang zu stehen; sie deuten Eigenschaften an, die nicht zu Achill passen: „Er handelte doch oft impulsiv und unbeherrscht, war maßlos in Haß und Liebe, also nicht im mindesten ausgeglichen“ (Hafner 1994, S. 34).
Der Speer ruht nicht auf der Schulter, sondern wird frei getragen |
Dass man einen Speer mit der Rechten trug, wusste in der Antike jeder, so Hafner. Davon konnte Polyklet ausgehen. Der antike Betrachter schloss daraus, dass dieser Mann den Speer aus der Rechten in die Linke übergeben hat – offenbar, weil er ihn nicht zu benutzen gedenkt. „Dieser Wechsel geschah zudem plötzlich, denn der Speer ruht nicht auf der Schulter, sondern wird frei getragen“ (Hafner 1994, S. 46). Die freie Haltung des Speeres erhöht die Wirkung, die vom linken Arm ausgeht, sie betont den Entschluss und die schnelle Ausführung. Diese spontane Reaktion des Achill auf die Kränkung durch Agamemnon ist ein entscheidendes Ereignis im Leben des Helden.
Hafner sieht im „Schrittstand“ des Achill und der freien Haltung des Speeres aber auch einen Hinweis auf das weitere Geschick des Helden: Der antike Betrachter „erkannte dabei auch das Vorübergehende seiner Verweigerung, die seiner Natur so widerspricht; in nicht ferner Zukunft wird der Held wieder der Schrecken der Trojaner sein“ (Hafner 1994, S. 61/62).
Hafner zeichnet in seinem schmalen, aber sehr lesenswerten Buch über den Doryphoros auch das spätere Schicksal der Statue selbst nach: Es ist wahrscheinlich, dass sie im Zusammenhang mit der riesigen Kunstbeute, die die Römer machten, als sie sich Griechenland einverleibten, nach Rom gelangte. Als Kaiser Konstantin Byzanz zur neuen Hauptstadt des Reiches ernannte (330 n.Chr.), schmückte er sie mit Kunstwerken aller Art, die er dorthin bringen ließ. Darunter war auch der Achill des Polyklet, der in einer großzügigen Thermenanlage aufgestellt wurde, dem sog. Zeuxippos-Bad. Im Jahr 532 n.Chr. schlug für den Doryphoros-Achill die Schicksalsstunde: Im „Nika“-Aufstand gegen Kaiser Justinian legte die Menge Feuer an die wichtigsten Gebäude der Stadt; auch die Zeuxippos-Thermen gingen in Flammen auf – und mit ihnen dieses Meisterwerk.
Bertel Thorvaldsen: Adonis (1808/32); München, Neue Pinakothek |
Polyklet: Diadumenos (röm. Marmorkopie); Madrid, Prado |
Literaturhinweise
Beck, Herbert/Bol, Peter C./ Bückling, Maraike (Hrsg.): Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik. Ausstellung im Liebieghaus-Museum Alter Plastik Frankfurt am Main. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1990;
Hafner, Gerhard: Polyklet. Doryphoros. Revision eines Kunsturteils. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1994;
Steuben, Hans von: Der Doryphoros und der Kanon Polyklets. In: Städel-Jahrbuch 15 (1995), S. 7-18.
(zuletzt bearbeitet am 27. Juli 2023)
Beck, Herbert/Bol, Peter C./ Bückling, Maraike (Hrsg.): Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik. Ausstellung im Liebieghaus-Museum Alter Plastik Frankfurt am Main. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1990;
Hafner, Gerhard: Polyklet. Doryphoros. Revision eines Kunsturteils. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1994;
Steuben, Hans von: Der Doryphoros und der Kanon Polyklets. In: Städel-Jahrbuch 15 (1995), S. 7-18.
(zuletzt bearbeitet am 27. Juli 2023)
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