Mittwoch, 9. Juni 2021

Polyklets Musterknabe: der „Doryphoros“

Polyklet: Doryphoros (um 440 v.Chr., römische
Marmorkopie); Neapel, Nationalmuseum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Wenn man nach den einflussreichsten Künstlern in der Menschheitsgeschichte fragt, dann besetzt der antike griechische Bildhauer Polyklet (geboren um 480 v.Chr.) auf jeden Fall einen der vorderen Ränge. Unangefochten hat sich sein Schaffen über Jahrhunderte hin als Maßstab der Bildhauerkunst behauptet. Sogar Dante zitiert ihn noch als Inbegriff des alle anderen überragenden Bildhauers, mit dem allenfalls die Natur konkurrieren könne. Mit der Renaissance hat sich sein Ruhm erneuert – und er hält bis heute an. Doch die Bildwerke Polyklets sind allesamt verloren. Eine Auseinandersetzung mit seiner Kunst ist nur über deren Wirkung möglich. Alle seine Skulpturen, für die man Jahrhunderte nach seinem Tod noch unvorstellbare Preise bezahlte, hatten in den Augen der Christen zunächst einmal ihren Wert verloren: Sie wurden als Zeugen einer heidnischen Vergangenheit sogar als Gefahr betrachtet und deswegen zerschlagen und eingeschmolzen. „Allein ein kleiner Splitter von einer Bronzestatue in Olympia kann allenfalls Anspruch darauf erheben, wenigstens ein kleines Stück einer von Polyklet gestalteten Oberfläche zu bewahren“ (Bol 1990, S. 15). 
In römischen Kopien ist immerhin ein halbes Dutzend seiner Werke verhältnismäßig zuverlässig überliefert. Diese Zahl klingt zwar bescheiden, wird aber respektabler, wenn man berücksichtigt, dass ein Bildhauer des 5. Jahrhunderts wohl fast zwei Jahre zur Vollendung einer lebensgroßen Bronzestatue einzusetzen hatte, sodass „immerhin ein Drittel bis ein Viertel des Gesamtwerks Polyklets faßbar wird“ (Bol 1990, S. 16). Fast durchweg handelt es sich um Darstellungen nackter junger Männer, die sich in der Kopfwendung und im Verhältnis von Stand- und Spielbein gleichen.
Die bekannteste Statue Polyklets ist der Doryphoros (Speerträger). In der Antike galt er als das Musterwerk der polykletischen Kunst, ja der Kunst überhaupt. In antiken Schriften wird der Doryphoros mehrfach erwähnt, so z. B. bei Cicero und Plinius; allerdings erfährt man nichts Näheres über das Motiv der Statue, ihren ursprünglichen Standort, den Auftraggeber und die Entstehungszeit. Der Doryphoros ist die Skulptur, in der auf bis heute unübertroffene Weise das harmonische Gleichgewicht der Gegensätze Form annimmt; in ihm verkörpert sich in jeder Hinsicht, was die alten Griechen „das rechte Maß“ nannten. Das rechte Maß ist nach Aristoteles immer eine Mitte (mesótes) zwischen Extremen oder Gegensätzen. Der bekannteste Ausdruck für das Spiel der Gegensätze bei einer Skulptur ist der Kontrapost, also das Bewegungsmotiv von Stand- und Spielbein. Der Kontrapost ist das wesentliche Element der polykletischen Statuen, „der Grundgegensatz, der alle anderen erst möglich macht oder sie hervorruft“ (Steuben 1990, S. 186). Belastetes und unbelastetes Bein, aufgesetzter und zurückgesetzter Fuß sind als Gegensätze erkennbar und in einem gespannten Gleichgewicht gehalten. 
Einfach klassisch: der Kontrapost
Auf das kontrapostische Standmotiv antworten weitere Gegensätze, die sich durch den ganzen Körper ziehen: Das Becken neigt sich zum Spielbein, die Schultern gleichen das durch eine Hebung auf derselben Seite aus. Der Rumpf zieht sich über dem gestreckten Bein zusammen und dehnt sich über dem ruhenden mit einer aufwärts führenden Bewegung. Becken und Schultern verlaufen gegenstrebig. Dem Spielbein antwortet auf derselben Seite der den Speer tragende, dem Standbein der frei herabhängende Arm. Die gleichartigen Motive – Spannung bzw. Entspannung – sind kreuzweise verschränkt. Schließlich gleicht der halb nach rechts gewendete Kopf den zurückgesetzten Fuß des Spielbeins aus, der halb nach links gerichtet ist. „So steht der Doryphoros da, nach allen Seiten ausgeglichen, in vollkommener Harmonie, die auf dem Gleichgewicht von Gegensätzen beruht. Keine Richtung, kein Motiv ist zu stark oder zu schwach betont“ (Steuben 1990, S. 186). Mit Aristoteles kann man sagen: An dieser Skulptur ist nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen (Nikomachische Ethik II, 5).
Der Doryphoros ist nach klaren Maßverhältnissen und einem berechenbaren Proportionssystem aufgebaut – das aber bis heute nicht restlos entschlüsselt ist. So halten sich z. B. der obere und der untere Teil der Statue bzw. der lastende und der tragende die Waage. Der Rumpf ist so breit wie lang, wenn man ihn an den Schultern und von der Halsgrube bis zur Leistenfuge misst. Beim Kopf entspricht die größte Breite der Kalotte der Länge des Gesichts. Ein weiteres gesichertes Maßverhältnis ist das des Fußes zur ganzen Höhe – es beträgt 1 : 6. 
Athlet oder Heros?
Wen aber stellt der Doryphoros nun eigentlich dar? Ein siegreicher Athlet, so German Hafner, kann es nicht sein, denn der Speer, der bei den sportlichen Wettkämpfen der Griechen geworfen wurde, ein Akontion, war relativ leicht und kurz. Er ist nicht zu verwechseln mit dem Dory, der langen schweren Kampfwaffe, die dem Doryphoros den Namen gab. Es muss sich also um einen Helden der Vorzeit handeln, denn nur diesen Heroen standen solche überlebensgroßen Statuen zu: Der Doryphoros misst nach den erhaltenen Kopien 198 bis 200 cm und würde in aufrechter Haltung sogar 204 cm groß sein.
Es gibt aber unter den Helden der griechischen Mythologie nur einen, dessen persönliches Attribut ein Speer war, nämlich Achill. Dessen Speer war so schwer, dass er von keinem anderen außer ihm geschwungen und geworfen werden konnte; Patroklos verzichtete daher auf ihn, als er mit den Waffen seines Freundes Achill in den Kampf zog (Ilias XVI, 140-144).
Wenn es sich um Achill handelt – in welcher speziellen Situation könnte er dargestellt sein? Der Doryphoros entspricht der verbreiteten Vorstellung von Achill als gefürchtetem Kämpfer in der Schlacht. Die perfekte Harmonie der Statue, ihre Ausgewogenheit in Stand und Bewegung scheint mit dem Bild des Kriegers nicht in Einklang zu stehen; sie deuten Eigenschaften an, die nicht zu Achill passen: „Er handelte doch oft impulsiv und unbeherrscht, war maßlos in Haß und Liebe, also nicht im mindesten ausgeglichen“ (Hafner 1994, S. 34). 
Der Speer ruht nicht auf der Schulter, sondern wird frei getragen
German Hafner ist der Ansicht, Polyklet habe mit dem Doryphoros den Zorn des Achill gestaltet. In der Ilias fordert Agamemnon von Achill dessen Geliebte Briseis – als Ersatz für seine eigene Geliebte Chryseis. Achill empfindet das als ungeheure Anmaßung Agamemnons; sein Zorn entlädt sich in heftigen Worten und dem Entschluss, sich zu rächen, indem er den Kämpfen fernbleibt. „Der herabhängende rechte Arm ist also ein Hinweis auf das Nichtstun, mit dem der von den Trojanern am meisten gefürchtete Kämpfer den Agamemnon straft“ (Hafner 1994, S. 45). 
Dass man einen Speer mit der Rechten trug, wusste in der Antike jeder, so Hafner. Davon konnte Polyklet ausgehen. Der antike Betrachter schloss daraus, dass dieser Mann den Speer aus der Rechten in die Linke übergeben hat – offenbar, weil er ihn nicht zu benutzen gedenkt. „Dieser Wechsel geschah zudem plötzlich, denn der Speer ruht nicht auf der Schulter, sondern wird frei getragen“ (Hafner 1994, S. 46). Die freie Haltung des Speeres erhöht die Wirkung, die vom linken Arm ausgeht, sie betont den Entschluss und die schnelle Ausführung. Diese spontane Reaktion des Achill auf die Kränkung durch Agamemnon ist ein entscheidendes Ereignis im Leben des Helden.
Hafner sieht im Schrittstand des Achill und der freien Haltung des Speeres aber auch einen Hinweis auf das weitere Geschick des Helden: Der antike Betrachter „erkannte dabei auch das Vorübergehende seiner Verweigerung, die seiner Natur so widerspricht; in nicht ferner Zukunft wird der Held wieder der Schrecken der Trojaner sein“ (Hafner 1994, S. 61/62).
Hafner zeichnet in seinem schmalen, aber sehr lesenswerten Buch über den Doryphoros auch das spätere Schicksal der Statue selbst nach: Es ist wahrscheinlich, dass sie im Zusammenhang mit der riesigen Kunstbeute, die die Römer machten, als sie sich Griechenland einverleibten, nach Rom gelangte. Als Kaiser Konstantin Byzanz zur neuen Hauptstadt des Reiches ernannte (330 n.Chr.), schmückte er sie mit Kunstwerken aller Art, die er dorthin bringen ließ. Darunter war auch der Achill des Polyklet, der in einer großzügigen Thermenanlage aufgestellt wurde, dem sog. Zeuxippos-Bad. Im Jahr 532 n.Chr. schlug für den Doryphoros-Achill die Schicksalsstunde: Im „Nika“-Aufstand gegen Kaiser Justinian legte die Menge Feuer an die wichtigsten Gebäude der Stadt; auch die Zeuxippos-Thermen gingen in Flammen auf – und mit ihnen dieses Meisterwerk.
Bertel Thorvaldsen: Adonis (1808/32); München, Neue Pinakothek
Eine musterhafte Neuformulierung des Doryphoros gelang dem dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen (1770–1844) mit seiner zwischen 1808 und 1832 entstandenen klassizistischen Skulptur des Adonis, einem Auftragswerk für den bayerischen Kronprinzen Ludwig, dem späteren König Ludwig I. Neben dem Körperbild behält Thorvaldsen die Haltung des rechten Armes bei, wechselt aber gegenüber Polyklets Figur Stand- und Spielbein. Dementsprechend ist beim Adonis nicht die rechte, sondern die linke Hüfte ausgestellt, auf die sich dann die linke Hand mit Zeige- und Mittelfinger stützt. Der zur Seite ins Halbprofil gedrehten und leicht nach unten geneigten Lockenkopf erinnert wiederum an Polyklets ebenfalls berühmte Athletenskulptur des Diadumenos (siehe meinen Post
Exemplarisch schön) Adonis, im antiken Mythos Inbegriff männlicher Schönheit, wurde zugleich von den beiden Göttinnen Aphrodite und Persephone begehrt. Da sich beide nicht einigen konnten, trafen sie eine Vereinbarung: Zwei Drittel des Jahres sollte Adonis bei Aphrodite auf der Erde verbringen, die übrige Zeit, die Wintermonate, mit Persephone in der Unterwelt. Das Ausgeliefertsein an die beiden Göttinnen und die Sorge um die nahende Rückkehr in die Unterwelt scheinen sich im gesenkten Blick des Jünglings niederzuschlagen.
Polyklet: Diadumenos (röm. Marmorkopie); Madrid, Prado

Literaturhinweise
Beck, Herbert/Bol, Peter C./ Bückling, Maraike (Hrsg.): Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik. Ausstellung im Liebieghaus-Museum Alter Plastik Frankfurt am Main. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1990;
Hafner, Gerhard: Polyklet. Doryphoros. Revision eines Kunsturteils. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1994;
Steuben, Hans von: Der Doryphoros und der Kanon Polyklets. In: Städel-Jahrbuch 15 (1995), S. 7-18.

(zuletzt bearbeitet am 27. Juli 2023)

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