Mittwoch, 30. Juni 2021

Ein Hüne geht in die Knie – der „Christophorus“ des Konrad Witz

Konrad Witz: Der hl. Christophorus (um 1435); Basel, Kunstmuseum
Die im frühen Mittelalter entstandene Legende des Christophorus ist durch eine Reihe von späteren Bearbeitungen, vor allem aber durch die um 1264 verfasste Legenda aurea des Jacobus de Voragine verbreitet worden. Im Spätmittelalter wurden Darstellungen dieses Heiligen außerordentlich populär, da er unter anderem als Schutzpatron auf Reisen galt und angenommen wurde, dass sein Anblick vor dem mala mors schütze, dem plötzlichen (wörtlich: schlechten) Tod. Unvorbereitet aus dem Leben zu scheiden, ohne die Möglichkeit, eine letzte Beichte abzulegen und die Sterbesakramente zu empfangen, gehörte zu den großen Ängsten der damaligen Menschen. Die ältesten Darstellungen der Christophorus-Legende zeigen zwar einen im Vergleich zu dem Riesen Reprobus (so der ursprüngliche Name des Heiligen) winzigen Christus, aber noch nicht explizit ein Kind. Erst mit der Zeit bürgerte sich die Tradition ein, Christus als Kind wiederzugeben. Der Grund hierfür dürfte darin liegen, dass das Menschsein des fleischgewordenen Gottes im kindlichen Jesusknaben besonders offensichtlich wird. In einem Gemälde von Konrad Witz (um 1440 – um 1446), das sich heute im Kunstmuseum Basel befindet, wird die bekannteste Episode der Christophorus-Legende in eine voralpine Landschaft verpflanzt: Karg aufragende Felskuppen umsäumen einen ausladenden Wasserspiegel, weiter nach hinten lichtet sich der Ausblick, links im Mittelgrund ragt eine waldige Landzunge ins Bild, auf der ein Einsiedler samt Kapelle und Kartause stehen. Die zwei Kähne, die dahinter auf dem Wasser verkehren, verleihen der Ansicht einen idyllischen Charakter, der mit der dramatischen Szene im Bildvordergrund kontrastiert.

Dort kämpft ein mit einem rubinroten Mantel bekleideter Christophorus mühevoll gegen den Strom an; er ist bereits weit über die Knie eingesunken, und der Wollstoff des Mantels hat sich vollgesogen, vor allen aber lastet das Gewicht seines außergewöhnlichen Kunden immer schwerer auf den Schultern des Fährmanns. Christophorus knickt regelrecht ein und sackt samt Christus, der sich an eine Haarlocke klammert, nach vorne – notdürftig versucht die vorgestreckte linke Hand, das verlorene Gleichgewicht auszubalancieren. Dabei bricht der knorrige Ast, auf den er sich beim Übersetzen stützt: Was auf der rechten Flussseite noch wie ein Kind aussah, gibt sich dann am anderen Ufer als der zu erkennen, der er ist: Christus, der Weltenherrscher; und der Fährmann, der bis dahin auf den Namen Reprobus hörte, erhält einen neuen – Christophorus, Christusträger.

Albrecht Dürer: Der hl. Christophorus (1511); Holzschnitt
Das enorme Gewicht auf seinem Rücken veranschaulicht Witz durch die Landschaftsgestaltung: Der steile, massige Fels am rechten Rand trifft in der Bildfläche genau auf den gebeugten Rücken des Riesen, knapp unterhalb des Kindes; seine Diagonale aber setzt sich in den angewinkelten Beinen des Heiligen fort. Die von oben drückende Last wird auf diese Weise visuell umgesetzt. Dieses Gewicht wird auf den Christusknaben bezogen, indem der Maler das Gewand und den gewaltigen Fels in eng verwandten Graufarben anlegt. „Darüber hinaus hat das Kind eine blockhaft geschlossene, den Felsbrocken rechts gleichende Grundform bekommen, und die Linie seines vorderen Beins verläuft parallel zur unteren Kante des steilen Felsens dahinter“ (Kunstmuseum Basel 2011, S. 159). Christophorus-Darstellungen gibt es in der abendländischen Kunst zuhauf – meist wird der Heilige dabei als hünenhafter Heros inszeniert, wenn er die Fluten durchquert, so etwa bei Dürer, Tizian oder Rubens. Der Christophorus von Witz dagegen wirkt eher wie ein christlicher Atlas, der seine Last kaum zu stemmen vermag.

Tizian: Der hl. Christophorus (1523); Venedig, Palazzo Ducale
Peter Paul Rubens: Der hl. Christophorus (1611/12);
Antwerpen, Liebfrauen-Kathedrale
Verfolgt man die Gerade seines Stabs bis unter die Wasseroberfläche weiter, so erscheint sie noch einmal gebrochen, doch nicht im Material, sondern optisch. Es handelt sich um eine für die damalige Zeit absolut einzigartige Umsetzung der Lichtbrechungsgesetze – bedenkt man, dass das Brechungsgesetz erst im 17. Jahrhundert von Snellius (1580–1626) formuliert und erst seit diesem Zeitpunkt zur künstlerischen Norm wird. Durch das trübe Wasser hindurch scheinen Pflanzen vom Flussgrund heraus, vorüberziehende Wolken verschatten die Oberfläche, und Mönch, Kirche wie Kartause spiegeln sich, mit perspektivisch genau wiedergegebener Verzerrung, im Wasser wider. Jeder einzelne strapaziöse Schritt des Fährmanns verursacht neue Ringwellen, die die vorherigen überlagern. Dabei reflektieren die konzentrischen Kreise das Rot des Mantels, und zugleich sieht man ihn durch das Wasser scheinen. 

Konrad Witz: Der wunderbare Fischzug (1444); Genf, Musée d’Art et d’Histoire
Ähnliche Virtuosität hat der Maler auch auf dem Flügel des Genfer Petrusaltars zum Wunderbaren Fischzug (1444) unter Beweis gestellt, auf dem Strömungswirbel, Wasserblasen und kleinste Wellenschläge mit unvergleichlicher Präzision dargestellt sind. Diese Detailgenauigkeit und generell die Tiefe der Landschaft sind ohne Zweifel von der niederländischen Malerei angeregt, vor allem von der Kunst Jan van Eycks (um 1390–1441).

 

Literaturhinweise

Alloa, Emmanuel: Eine gebrochene Erscheinung. Zum Christophorus von Konrad Witz. In: Sebastian Egenhofer u.a. (Hrsg.), Was ist ein Bild? Antwort in Bildern. Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag. Wilhelm Fink Verlag, München 2012, S. 199-201;

de Voragine, Jacobus: Legenda aurea. Zweiter Teilband. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. Häuptli. Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2014, S. 1295-1307;

Kunstmuseum Basel (Hrsg.): Konrad Witz. Hatje Cantz, Ostfilern 2011, S. 156-161.


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