Donnerstag, 17. Juni 2021

Kindliches Spiel wird tiefer Ernst – die „Dangolsheimer Madonna“ des Niclaus Gerhaert

Niclaus Gerhaert: Dangolsheimer Madonna (um 1460/65);
Berlin, Bode-Museum (für die Großansicht einfach anklicken)

Die in Straßburg um 1460/65 entstandene Dangolsheimer Madonna des niederländischen Bildhauers Niclaus Gerhaert (um 1420–1473)  gilt als eine der herausragendsten spätgotischen Skulpturen. Die unterlebensgroße Figur (102 cm hoch) verdankt ihren Namen einem ihrer ehemaligen Aufstellungsorte, der kleinen französischen Gemeinde Dangolsheim, etwa 20 km westlich von Straßburg gelegen. Dabei handelt es sich aber wohl nicht um den ursprünglichen Standort der Figur – der jedoch nicht bekannt ist.

Die auf einem polygonalen Sockel stehende Marienstatue trägt über ihrem langen Kleid einen weiten Mantel, der mit einem Band über der Brust zusammengehalten wird. Sie hat ihr Spielbein wie in einer Schrittstellung leicht angewinkelt vorgesetzt, sodass sich das Knie unter dem Stoff durchdrückt und die Fußspitze unter dem Kleid hervorlugt. Über der herausgeschobenen Hüfte hält sie das große, quer vor ihrem Oberkörper gelagerte Jesuskind. Während ihre Linke den Rücken stützt, greift die rechte Hand, die gleichzeitig einen hochgerafften Saumzipfel des Mantels hält, das linke Füßchen des strampelnden und mit dem Schleier der Mutter spielenden Knaben. Über dem großen, an den Saumkanten gleichmäßig ondulierten Schleiertuch auf ihrem Kopf trug Maria ursprünglich eine geschnitzte Krone.

Die Gottesmutter ist von Gerhaert auf Vielansichtigkeit konzipiert; nur die Rückseite war wohl nicht vollständig einsehbar, da dort auf eine detaillierte Ausarbeitung etwa der Lockensträhnen verzichtet wurde. Erkennbar ist, dass man sich der Figur offensichtlich von links her näherte: „Gerade aus jener Blickrichtung entfaltet das Bildwerk besondere Reize, zu nennen ist hier vor allem die auf die Schulter wallende Haarpracht, ein Geflecht quirliger, frei gearbeiteter Lockenstränge“ (Krohm 2006, S. 38). Von vorne gesehen, dominiert das Motiv des Mantelumschlags: Die links steil aufsteigende, glatte Stoffbahn kontrastiert hier mit dem rechts in zahlreichen Fältelungen herabfallenden, die Mantelinnenseite vorweisende Stoffende. Der vom Boden aufgenommene Saum und von Maria zur Hüfte geraffte Saum des Mantels „dient zum einen der Akzentuierung des Kindes, zum anderen entsteht eine Art Barriere“ (Krohm 2006, S. 39), die den Vorwärtsdrang der Gottesmutter optisch abmildert. Auf der rechten Seite gleitet ein Stoffzipfel des Mantels über die Sockelkante.

Quirliger Knabe mit lockigem Haar

Das Jesuskind greift den von der rechten Schulter herübergezogenen Schleier seiner Mutter und hebt ihn über sein Lockenköpfchen. Der propere nackte Körper des Kleinen ist äußerst naturnah als Baby wiedergegeben, wie sich z. B. an den Hautfältchen und dem leichten Eindruck der Hand Marias zeigt: „So wird glaubhaft, daß Gottes Sohn tatsächlich Mensch, ,Menschensohn‘ geworden ist“ (Krohm 2006, S. 40).  Quirlig vollzieht der Knabe eine „fast akrobatische Torsion“ (Roller 2011, S. 241): Der Oberkörper dreht in die eine, die überkreuzten Beinchen in die andere Richtung, während der Kopf zu einem fast erschrockenen Blick über die Schulter in die Ferne gewendet ist. Das Motiv des Versteckspiels unter dem Schleier – von Wilhelm Pinder 1929 als „Guckguck-Motiv“ bezeichnet – könnte als Schutzsuche interpretiert werden: In Ahnung seines bevorstehenden Schicksals, dem Opfertod am Kreuz, flüchtet sich das Kind unter den Schleier, der ihm vom Kopf herabzugleiten droht. „Dessen Zugrichtung ist im Stoff und in der wellenförmigen Plissierung am Rand genauestens nachvollziehbar“ (Krohm 2006, S. 40). Man gewinnt den Eindruck, als ginge kindliches Spiel, ein Sichverstecken unter dem Tuch, in tiefen Ernst über, wie er sich auch im Marienantlitz widerspiegelt. Der mit Todesahnung konfrontierte Christusknabe leitet sich aus byzantinischer Kunsttradition her; im Abendland begegnet man ihm erstmals innerhalb der italienischen Malerei des 14. Jahrhunderts.

Die Marienstatue hat in ihrer Originalität weder motivisch noch kompositionell direkte Vorbilder. „Ihre Neuartigkeit besteht in einer Kombination von komplexen Gewandmotiven und einer zuvor nicht gekannten Dynamisierung der Akteure“ (Roller 2011, S. 241). Die Figur verhart nicht, wie zuvor üblich, in feierlicher Pose vor dem Betrachter. Als wollte sie die Grenze ihres Sockels überschreiten, trägt Maria uns das Kind regelrecht entgegen. Hinzu kommt die außergewöhnliche handwerkliche Qualität der virtuosen schnitzerischen Leistung. Da die Marienstatue in einer kleinen rückseitigen Aushöhlung über ein Reliquien-Repositorium verfügt, dürfte von einer besonderen Verehrung der qualitätiv außerordentlich hochwertigen Figur auszugehen sein. Damit käme ein entsprechend prominenter Aufstellungsort in Frage – so etwa das Straßburger Münster. Nach Dangolsheim dürfte die Skulptur aus dem Kartäuserkloster im benachbarten Molsheim gelangt sein, das im Jahr 1600 aus dem evangelisch gewordenen Straßburg mitsamt Kirchenausstattung und Bibliothek hierhin übergesiedelt war.

 

Literaturhinweise

Krohm, Hartmut: Zuschreibungen an Niclaus Gerhaert von Leyden. Eine noch längst nicht abgeschlossene Diskussion. In: Rainer Kahsnitz und Peter Volk (Hrsg.), Skulptur in Süddeutschand. Festschrift für Alfred Schädler. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 1998, S. 109-128;

Krohm, Hartmut: Riemenschneider auf der Museumsinsel. Werke altdeutscher Bildhauerkunst in der Berliner Skulpturensammlung. KunstSchätzeVerlag, Gerchsheim 2006, S. 36-41;

Roller, Stefan (Hrsg.): Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des späten Mittelalters. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2011, S. 239-243;

Schädler, Alfred: Studien zu Nicolaus Gerhaert von Leiden. Die Nördlinger Hochaltarfiguren und die Dangolsheimer Muttergottes in Berlin. In: Jahrbuch der Berliner Museen 16 (1974), S. 46-82;

Tripps, Johannes: Nikolaus Gerhaert interpretiert ein italo-byzantinisches Thema: die Dangolsheimer Madonna. In: Jahrbuch der Berliner Museen 41 (1999), S. 25-35.


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