Mittwoch, 25. Dezember 2019

Kölner Könige an der Krippe

Rogier van der Weyden: Columba-Altar, Mitteltafel mit der Anbetung der König (um 1450-1456);
München, Alte Pinakothek (für die Großansicht einfach anklicken)
Der Columba-Altar ist – nach dem Weltgericht (siehe meinen Post „Die zur Linken, die zur Rechten“) – das größte noch erhaltene Altarbild Rogier van der Weydens. Es gehört zu den ersten Triptychen, auf denen das weihnachtliche Motiv der „Anbetung der Könige“ ausführlich und als Hauptszene dargestellt wird. Bestimmt war das Werk für die St. Columba-Kirche in Köln – bei den drei Männern aus dem Morgenland handelt es sich um die Schutzpatrone der Stadt. Köln bewahrte seit dem 12. Jahrhundert die Reliquien der Könige als ihr wichtigstes Heiligtum im Dom auf. Noch 1801 befand sich das Triptychon in der Taufkapelle von St. Columba; nach der Säkularisation gelangte es 1808 in die Sammlung Boisserée und mit dieser 1827 nach München, wo es heute in der Alten Pinakothek ausgestellt ist.
Auf der Mitteltafel des Columba-Altars sind die Hauptfiguren friesartig im Vordergrund platziert, sie bilden die vertikalen Akzente der Darstellung. Als zentrale Gestalt sitzt Maria mit dem Kind frontal vor den Arkaden eines zerstörten Gebäudes, dessen Dach nur notdürftig mit Schilf bedeckt und in dem Ochs und Esel Schutz gefunden haben. Demütig hält Maria ihre linke Hand vor die Brust; ihr Blick richtet sich nicht wirklich auf ihren Sohn, er scheint vielmehr nachdenklich-versonnen nach innen gewandt. Sie und das Kind sind die einzigen Figuren, deren Köpfe von einem Strahlennimbus hinterfangen werden. Ein an dem Pfeiler hinter ihr angebrachtes kleines Kruzifix – ein anachronistisches Motiv – verweist auf den zukünftigen Leidensweg und Tod des Gottessohns. Der Hintergrund zeigt eine gewellte Landschaft mit einer auf einem Hügel gebauten Stadt auf der linken Seite. Der Stern, der die drei Könige bis nach Bethlehem geführt hat, funkelt links oben hinter der Stallruine.
Drei Könige, drei Lebensalter
Die drei Könige nähern sich von rechts: In drei aufeinander folgenden Momenten sind sie wie in einem kinematografischen Bewegungsablauf gestaffelt, um ihren ehrerbietigen Gruß zu veranschaulichen. Darüber hinaus symbolisieren sie auch die drei Lebensalter. Der älteste König kniet bereits und berührt ebenso ehrfürchtig wie behutsam das Kind mit seinen Händen an Füßen und linkem Händchen, wobei sein linkes Bein durch einen auffälligen Seitenschlitz seines langen Mantels entblößt wird. Der zweite, gerade im Begriff niederzuknien, hält sein kostbares Geschenk in den Händen, einen goldenen Deckelpokal, während er mit den Armen seinen Hut an die Brust drückt. Der dritte und jüngste hat gerade eben seine gekrönte Kopfbinde abgenommen: Mit einer beinahe tänzerischen Drehung um die eigene Achse übernimmt der kostbar gekleidete junge Mann von einem Pagen den als Gabe mitgeführten Pokal, ehe auch er vor dem Kind niederknien wird. Zu seinen Füßen liegt ein Windspiel – der Hund ist ebenso wie die noble modische Kleidung der drei Männer ein Attribut ihrer edlen Abstammung. Der etwas isoliert stehende jüngste König trägt die Züge des Thronfolgers des Herzogs von Burgund; Karl der Kühne (1432–1477) ist hier idealisiert im Alter von 22 Jahren dargestellt.
Höfische Eleganz in Vollendung: der jüngste König mit gekrönter Kopfbinde
Der älteste König bildet zusammen mit Maria und dem Kind ein kompositorisches Dreieick, das im Mittelpunkt der Anbetung steht. Rogier platziert Maria aber nicht auf der Mittelachse des Bildes, sondern verschiebt sie etwas nach links – auf diese Weise hat der Zug der Könige mehr Platz zur Entfaltung. Auch der mit dem Kruzifix ausgezeichnete Pfeiler hinter der Gottesmutter steht etwas links von der Mittelachse. „Indem die Hauptfigur von der Zentralachse seitlich verrückt ist, wird der Bewegungsimpuls weitergeleitet und erst in der festen Vertikalen der Gestalt Josephs endgültig aufgefangen“ (Pächt 1994, S. 54). Die Ruine des Stalls öffnet sich in Bogenstellungen, die das Bildfeld unterteilen und symmetrisch gliedern. „Überzieht die Fgurenbewegung die Zentralachse gegen die linke Seite zu, so dehnt sich die Arkadenfolge dahinter weiter nach rechts; es ist eine verschleierte Symmetrie und ein labiles Gleichgewicht“ (Pächt 1994, S. 54). Die figürlichen Hauptakzente finden jeweils in den hinter ihnen aufragenden Architekturgliedern ihre Fortführung nach oben.
Zu Füßen von Maria, am vorderen Bildrand, ist ein gemauertes unterirdisches Gewölbe sichtbar – es verweist auf die Geburtshöhle in Bethlehem, von dem das apokryphe Protoevangelium des Jakobus berichtet. Von diesem Gewölbe führt bei Rogier eine kleine Wendeltreppe herauf, auf deren vorletzter Stufe Joseph steht. Ihm, dem Stifter des Altarbildes sowie den beiden Tieren ist der Platz zur Rechten Marias vorbehalten. Joseph, als alter Mann gezeigt, hält Wanderstab und Hut in Händen; neben ihm ist auf einem dreibeinigen Hocker das Geschenk des ersten Königs abgestellt. Der Auftraggeber, dessen Identität nicht sicher feststeht, kniet mit gefalteten Händen und Rosenkranz ganz links hinter einem verfallenen Mäuerchen. Er schlägt die Augen nieder, sieht das Ereignis also nur vor seinem inneren Auge. Auch der Betrachter wird durch das Loch des eingestürzten Kellergewölbes zu Füßen Mariens gleichsam in respektvoller Distanz gehalten. Maria ist von allen Gestalten besonders hervorgehoben durch das einheitliche Blau ihrer Kleider, das immer von intensivem Rot flankiert wird. Wie auf dem Berliner Bladelin-Altar (siehe meinen Post „Alle Welt huldigt dem Kind“) werden die drei Tafeln desTriptychons nicht durch den Schauplatz, sondern durch die bewegte Kette der gleich großen Figuren verbunden.
Der vollständige Columba-Altar mit linkem und rechtem Klappflügel (für die Großansicht einfach anklicken)
Die beiden Flügel des Altars zeigen Szenen in Innenräumen: links die Verkündigung (Lukas 1,26-38), rechts die Darbringung im Tempel (Lukas 2,21-24). Die Außenseiten der Altarflügel erhielten nur einen Schutzanstrich, keine Bemalung. Die Verkündigung gibt Einblick in ein Schlafgemach: Das Zimmer ist mit seinem kunstvollen Fliesenboden, dem bunten Glasfenster und dem prunkvollen, mit äußerst kostbarem Goldbrokat verzierten Bett alles andere als eine gewöhnliche Behausung. Der Raum wird durch ein steinernes Gesims oben und eine schmale Leiste rechts wie auch am unteren Bildrand nach vorne hin abgeschlossen. Die göttliche Botschaft des Engels ist in goldenen Lettern vor seinem Mund zu lesen: AVE GRACIA PLENA DOMINVS TECVM („Sei gegrüßt, du Gnadenreiche, der Herr ist mit dir“). Es scheint, als schwebe er, nur ein Fuß berührt den Fliesenboden; in seiner linken Hand hält er als Zeichen des himmlischen Auftrags einen zepterähnlichen Stab. Sein weißes Gewand flattert noch und bauscht sich am Treppenabsatz. Durch das halb geöffnete Fenster fliegt eine weiße Taube, Symbol des Heiligen Geistes, auf die junge Frau zu.
Maria war bis zu diesem Moment kniend ins Gebet vertieft; ernst und in sich gekehrt vernimmt sie die Verheißung des Engels. Sie wendet sich ihm „mit einer Art Ballettpose“ (Kemperdick 1999, S. 78) zu, sodass die Knie der beiden in einer Diagonalen aufeinander zeigen, die parallel zum Schriftzug des Engelgrußes verläuft. Auf der Seitenwange ihres Betpultes sind im Relief Adam und Eva sowie die Schlange zu sehen – Hinweis auf Sündenfall und Erlösung von der Erbsünde durch den Opfertod des hier verheißenen Sohnes. Die weiße Lilie wiederum am vordersten Bildrand versinnbildlicht die Jungfräulichkeit Mariens. Für die Haltung der Gottesmutter und die Schlafkammer als Handlungsrahmen orientierte sich Rogier deutlich an seinem eigenen Frühwerk, der Pariser Verkündigung.
Rogier van der Weyden: Verkündigung (um 1440); Paris, Louvre (für die Großansicht einfach anklicken)
Den Tempel von Jerusalem, den Maria im rechten Flügel mit Joseph betritt, um nach dem mosaischen Gesetz (2. Mose 13,2) den erstgeborenen Sohn darzubringen, hat Rogier als spätromanischen, achteckigen Zentralbau mit Vorhalle dargestellt; diese ist vom hell erleuchteten Innern des Zentralbaus im Hintergrund durch eine Quermauer mit Bogenöffnung abgetrennt. Nach ikonografischer Tradition wird in der Kunst der alttestamentliche Tempel durch romanische Architektur dargestellt. Rogiers Zentralbau auf dem rechten Flügel stellt die formale Beziehung zur Haupttafel her, mit dessen Außenansicht die Landschaft auf der rechten Seite endet. An dieser Außenseite sind Skulpturen von Mose und David sowie eine dritte alttestamentliche Figur erkennbar, vielleicht ein Prophet.
Gruppenbild mit Turteltäubchen
Das Lukas-Evangelium berichtet, dass die Eltern auf die Prophetin Hanna und den greisen Simeon treffen, dem geweissagt worden war, dass er den Heiland sehen werde (Lukas 2,25-38 ). Neben Simeon und dem Kind ist in Goldbuchstaben zu lesen: NVUNC DIMNITTIS TVVM DOMINE SECVUNDUM VERBVUM TVVM IN PACE („Nun entlässt du deinen Diener in Frieden, Herr, nach deinem Wort“). Die weltlich gekleidete Frau im Vodergrund links, die aus dem Gemälde blickt, ist eine Dienerin der Maria. Sie trägt den Korb mit den beiden Turteltauben, die als Auslösung des dargebrachten Erstgeborenen auf dem Altar geopfert wurden (Lukas 2,23-24). Im Hintergrund hat Rogier ein anekdotisches Detail eingefügt: Ein Beter betritt den Tempel und greift instinktiv nach seiner Geldbörse, nachdem er den an eine Säule gelehnten Bettler entdeckt hat.
Stefan Lochner: Altar der Kölner Stadtpatrone (um 1445), Köln, Dom (für die Großansicht einfach anklicken)
Wer nach 1450 für einen Kölner Auftraggeber eine „Anbetung der Könige“ malte, trat in Konkurrenz mit Stefan Lochners Altar der Stadtpatrone, der damals noch im Rathaus aufgestellt war. Auch wenn Rogiers Bilderzählung ganz anders angelegt ist, so gibt es doch Elemente, die zeigen, dass er das Werk des Kölner Meisters gekannt und studiert hat. Rogiers letzter König mit dem Krummsäbel und dem weißen Turban nimmt die Figur von Lochners Standartenträger an der gleichen Bildposition wieder auf, und Rogiers grün gekleidete Magd mit dem Turteltaubenpaar in der Darbringungsszene entspricht bei Lochner einer Figur im Vordergrund des linken Flügels. „Diese beiden deutlichen Bildzitate markieren keine Abhängigkeit von Lochners Ästhetik, sondern sind eine Reverenz, eine Verneigung des berühmten Niederländers vor dem großen deutschen Malerkollegen“ (Thürlemann 2006, S. 83).

Literaturhinweise
an der Heiden, Rüdiger: Die Alte Pinakothek. Sammlungsgeschichte, Bau und Bilder. Hirmer Verlag, München 1998, S. 214-220;
De Vos, Dirk: Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk. Hirmer Verlag, München 1999, S. 276-283;
Kemperdick, Stephan: Rogier van der Weyden 1399/1400–1464. Könemann Verlagsgesellschaft, Köln 1999, S. 77-83;
Kemperdick, Stephan: I tableau à il hisseoires – ein Bild mit zwei Flügeln. Wandelbare und nicht wandelbare Bildensembles in der Zeit Rogier van der Weydens. In: Stephan Kemperdick und Jochen Sander (Hrsg.), Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden. Städel Mueum, Frankfurt am Main 2008, S. 117-131;
Kemperdick, Stephan: Eine europäische Bildsprache. Die Bildkünste ab 1450 und das Vorbild Rogier van der Weydens. In: Michael Eissenhauer (Hrsg.): Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2021, S. 197-203;
Pächt, Otto: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. Prestel-Verlag, München 1994, S. 53-56 und 65-66;

Thürlemann, Felix: Rogier van der Weyden. Leben und Werk. Verlag C.H. Beck, München 2006, S. 77-83.

 

(zuletzt bearbeitet am 6. August 2023) 

Samstag, 7. Dezember 2019

Das Massaker von Bethlehem – Nicolas Poussin und Peter Paul Rubens malen den biblischen Kindermord

Nicolas Poussin: Der bethlehemitische Kindermord (um 1629); Chantilly, Musée Condé
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Bereits die frühchristliche Gemeinde betrachtete die auf Anweisung von König Herodes ermordeten Kinder von Bethlehem (Matthäus 2,16) als Bekenner und Protomärtyrer. Seit den Kirchenvätern schließlich wurde der biblische Massenmord zum festen Bestandteil der Heilsgeschichte umgedeutet. Der französische Maler Nicolas Poussin (1594–1665) nutzt auf seiner um 1629 entstandenen Darstellung des blutigen Geschehens das große Leinwandformat (147 x 171 cm) nicht, um in einem vielfigurigen Bild das unkontrollierte, enthemmte Getümmel und das ganze Ausmaß des brutalen Massakers vor Augen zu führen, wie dies viele andere Künstler getan haben. Poussin beschränkt sich vielmehr auf wenige, in monumentaler Größe erscheinende Figuren: Die nahsichtig gezeigte Gruppe von Soldat, Mutter und Kind im Vordergrund erlangt auf diese Weise eine ungemeine, den Betrachter beinahe bedrängende Präsenz: Wir erkennen an Mund, Augen und insbesondere den Stirnfalten die zornige Entschlossenheit des Soldaten, und ebenso überdeutlich lässt sich am Gesicht der Mutter der Ausdruck panischen Schreckens ablesen.
Im Vordergrund ist der Betrachter mit dem ebenso verzweifelten wie vergeblichen Versuch einer Mutter konfrontiert, die Ermordung ihres Kindes zu verhindern. Der zum Hieb mit dem Schwert ausholende, den Oberkörper beugende Soldat hat seinen rechten Fuß bereits auf die Brust des Kindes gesetzt, während das linke Bein die Mutter vom Säugling fernhalten will. Der Blick des Soldaten ist entschieden und konzentriert, seine Muskeln sind aufs Äußerste angespannt. Sein Ringen mit der Mutter verdichtet sich im oberen Bereich der Figurengruppe; den Versuch der Mutter, ihn zu umklammern und den Schwerthieb abzuwenden, unterbindet der Soldat, indem er sie am Haarschopf packt und ihren Kopf von sich wegzieht.
Die dramatische Szene ereignet sich auf einem erhöhten Platz, der links von einer Kolonnade begrenzt wird und hinten mit einem tiefer liegenden Gebäude abschließt, das ebenfalls kannelierte korinthische Säulen zieren. Alle weiteren im Bild gezeigten Figuren scheinen vom Schauplatz zu fliehen: Rechts verlässt eine Blau gekleidete Frau mit ihrem toten Kind auf dem Arm die Szenerie; die Haltung des Kopfes, der weit aufgerissene Mund und die Geste des rechten Armes verraten ihre Verzweiflung angesichts des gewaltsamen Todes ihres Kindes, an dessen Kopf und Körper Blut zu sehen ist. Das Schicksal der Kinder, die von den Frauen links und rechts im Hintergrund getragen werden, ist indes ungewiss. Ob sie Opfer des Massakers geworden sind, noch in Todesgefahr schweben oder ob es sich um Mädchen handelt, die nicht vom Befehl des Herodes betroffen sind, bleibt offen. Auch ohre Mütter verlassen jedoch den Schauplatz des Schreckens.
Die Augenhöhe des Betrachters überschreitet nur um ein Weniges das Bodenniveau, sodass wir auf die zentrale Figurengruppe aus der Untersicht heraufschauen. Es scheint, als würden wir – ganz wie die Frauen im Hintergrund – aus tieferer Warte auf den um einige Treppenstufen erhöhten Platz blicken. „Diese Inszenierung des Bildzentrums, die an eine Bühne denken lässt, rückt den Blick des Betrachters in die Nähe des Kindes und steigert die kraftvolle Dynamik des Hiebs, mit dem es getroffen zu werden droht“ (Grave 2018, S. 151).
Die Komposition wird von einer Diagonale bestimmt, die von rechts unten nach links oben gerichtet ist und in der das Schwert haltenden Hand gipfelt. Diese gegen die „Leserichtung“ verlaufende Diagonale wird durch die strengen Vertikalen der Säulenschäfte links und der blau gekleideten Mutter rechts eingerahmt. „Die Spannung zwischen dynamischer Schräge und statischen Orthogonalen wird durch die streng verlaufenden Horizontalen der Bodenplatten und des Gebäudes im Hintergrund mit seiner Traufe und seinem First gesteigert“ (Grave 2018, S. 151). Poussin setzt die Grundfarben Rot, Gelb und Blau kaum gebrochen nebeneinander. Auffällig ist die leichenhafte Blässe der beiden Mütter im Vorder- und Mittelgrund, die mit dem wärmeren Inkarnat des Soldaten kontrastiert. Der von dramatisch hellem Licht erfasste Säugling zeigt eine ähnliche Blässe.
Die Seitenwunde des Knaben weist voraus auf den Kreuzestod Jesu
Der Säugling weist mit einer schmalen, aber unübersehbaren Seitenwunde ein besonderes Detail auf: Schon vor dem todbringenden Hieb wird das Kind damit zu einem Vorläufer Christi, dem bei seinem Kreuzestod ebenfalls eine Seitenwunde zugefügt wird. Auf diese Weise erinnert Poussin daran, dass sich der bethlehemitische Kindermord als eine Vorwegnahme der Passion Christi verstehen lässt. Ungewöhnlich an Poussins Gemälde ist allerdings, dass der Künstler sich bei der Darstellung des Massakers auf einen Soldaten und wenige Frauen beschränkt – damit weicht er doch deutlich von den Vorgaben des biblischen Textes ab und auch von der Bildtradition, die neben der Brutalität des Geschehens vor allem die hohe Zahl der Opfer betonte. Zwar deutet sich mit der blutenden Kinderleiche im Arm der blau gekleideten Mutter an, dass das Bild nicht nur den Mord an einem einzigen Kind zeigen soll. Trotzdem tritt die ungeheure Dimension des Kindermords bei Poussin gänzlich in den Hintergrund. „Sein Bild verschärft zwar die Teilnahme des Betrachters an dem grausamen Gewaltakt, es droht diesen Mord jedoch auf die Tat eines Einzelnen zu reduzieren“ (Grave 2018, S. 157).
Eine solch radikale Fokussierung ist einzigartig in der Malerei des 17. Jahrhunderts. Sie hat vor allem zur Folge, dass dem Betrachter Individuen gegenübertreten. Soldat, Mutter und Kind bleiben zwar namenlos, sie sind aber nicht mehr nur Teil einer größeren Masse oder Repräsentanten von anonymen Gruppen. Statt die Vollstreckung eines königlichen Befehls zu zeigen, bei der die Soldaten lediglich – wenngleich auf menschenverachtende und grausame Weise – ausführende Organe sind, führt Poussin die Tat eines Einzelnen vor Augen, dessen Anspannung, Entschlossenheit und Zorn sich an seiner Physiognomie ablesen lassen. Zudem entrückt er die Szene durch ihre Isolierung nicht nur der Bildtradition, sondern auch dem heilsgeschichtlichen Zusammenhang, in dem sie steht. Nichts erinnert beim Blick auf das Morden an den Befehl des Herodes oder aber an die Erfüllung der Prophetie des Jeremia, die in Matthäus 2,17 zitiert wird: „In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen“ (Jeremia 31,15). So sehr der Betrachter auch darum weiß, dass der Kindermord – ähnlich wie später die Passion Christi – einen unvermeidlichen Markstein der christlichen Heilsgeschichte darstellt, rückt dieses Wissen doch angesichts des mörderischen Aktes in den Hintergrund. Erst wenn der Blick auf die schmale Seitenwunde des Säuglings fällt, wird der Betrachter angeregt, sie als Vorgriff auf den Kreuzestod Christi und sich den umfasssenden heilsgeschichtlichen Rahmen des Ereignisses in Erinnerung zur rufen.
Die Konzentration auf diese eine Szene ermöglicht es dem Betrachter nicht nur, intensiver den Schmerz der Mutter nachzuvollziehen und mit ihr zu fühlen. Auf diese Weise lässt Poussin auch den Mord als eine Tat erscheinen, für die nicht zuletzt der Soldat selbst verantwortlich ist und die ihm zugerechnet werden kann. „Poussin scheint sich gezielt darum bemüht zu haben, die vertrauten Erklärungsmuster dieses Ereignisses zu suspendieren, um dessen Brutalität erst erfahrbar zu machen“ (Grave 2018, S. 163). Durch die nahsichtige Darstellung gewinnt der grausame Mord eine verstörende Präsenz und rückt den Betrachter unangenehm nahe – Poussin bietet ihm kaum Raum, um seinen Blick schweifen zu lassen. Damit ist gewährleistet, dass das furchtbare Massaker des grausigen, durch nichts zu rechtfertigenden Kindermordes nicht allzu schnell zur bloßen biblischen Episode verblasst. Es ist daher nur konsequent, wenn Poussin auf jene Engel verzichtet, die etwa in der Darstellung von Peter Paul Rubens (auf die ich ebenfalls eingehen werde) die Seelen der ermordeten Kinder mit Kränzen und Blumen im Himmel empfangen.
Durch die Beine des Soldaten hindurch erblicken wir eine Mutter, die von der Mordszene abgewandt ist, aber den Kopf nochmals zu ihr zurückwendet. Wie dem Betrachter bietet sich auch ihr das grausame Eregnis aus der Untersicht dar, und wie der Betrachter kann auch sie ihren Blick kaum davon lösen. Indem die grünlich gekleidete Frau in die Richtung des Soldaten schaut, trifft ihr Blick durch die Beine des Soldaten hindurch zugleich auch uns. „Der Betrachter vor dem Bild kommt nicht umhin, sich selbst angeblickt zu fühlen und damit auch über seine eigene Rolle und Position im Geschehen nachzudenken“ (Grave 2018, S. 167). Mit der Figur der zurückblickenden Mutter wirft Poussin die Frage auf, was es heißt, Zeuge und Zuschauer eines solchen Gewaltaktes zu sein. Ihr Blick fordert uns heraus, uns klar zu positionieren. Es geht hier nicht nur um unser Mitleid.
Älteste Tochter der Niobe (röm. Kopie nach hellenistischem Original);
Florenz, Uffizien
Niobe mit iher jüngsten Tochter (röm. Kopie nach hellenistischem Original);
Florenz, Uffizien
Gallier Ludovisi (röm. Marmorkopie eines hellenistischen Bronzeoriginals);
Rom, Museo Nazionale Romano
Architektur und Bekleidung der Figuren zeigen an, dass sich die grausame Szene in der Antike abspielt. Doch auch die Figuren selbst verweisen auf die Antike: Die rechts aus dem Bild fliehende Mutter könnte einer Skulptur aus der berühmten Niobidengruppe (siehe meinen Post „Grausame Götter“) entlehnt worden sein. Die im Vordergrund den Mörder ihres Kindes umschlingende Mutter ist ebenfalls ein Rückgriff auf die Niobidengruppe, in diesem Fall auf die Figur der jüngsten Tochter, die sich schutzsuchend an Niobe klammert. Und für den zum Schwerthieb ausholenden Soldaten – vor allem für dessen Beinstellung – ist die antike Skulptur des Gallier Ludovisi aus dem Museo Nazionale Romano als mögliches Vorbild angeführt worden (siehe meinen Post Lieber tot als Sklave).
Nicolas Poussin: Das Reich der Flora (1631); Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
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Die Figur des Soldaten, an der vor allem die gebeugte und ins Profil gedrehte Darstellung von Oberkörper und Kopf auffällt, hat Poussin ein weiteres Mal in seinem Gemälde Das Reich der Flora verwendet, um zu zeigen, wie Narziss sich (nun allerdings knieend) fasziniert in sein Spiegelbild versenkt. Caroline Grave sieht auch eine inhaltliche Verbindung zwischen diesen beiden Figuren: „Denn was der Soldat des Kindermords mit dem selbstbezogenen und selbstverliebten Narziss teilt, ist eine Form der Konzentration, die für jede Ansprache unempfänglich ist. Beide Figuren, der Soldat ebenso wie Narziss, sind blind und taub für Mitmenschen. Sie verweigern sich, andere anzublicken und auf deren Blicke zu antworten; sie entziehen sich damit elementaren Situationen von Sozialität und Humanität“ (Grave 2018, S. 173). Es ist diese Verweigerung, die erst die rohe Gewalt, mit der das Kindermord-Bild uns konfrontiert, möglich macht.
Peter Paul Rubens: Der bethlehemitische Kindermord (um 1638); München, Alte Pinakothek
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Rubens’ querformatige und noch größere Darstellung des Themas (198,5 x 302,2 cm) in der Münchner Alten Pinakothek ist um 1638 entstanden und damit ein Spätwerk des Künstlers. Im Zentrum des Gemäldes befindet sich eine kostbar gewandete Frau, die mit pathetischer Klagegeste verzweifelt die blutige Windel ihres Kindes nach oben streckt und schmerzerfüllt zum Himmel blickt. Die Windel wird von Rubens durch ihre im wahrsten Sinn des Worts herausgehobene Stellung regelrecht zur Reliquie stilisiert; auf diese Weise werden „das grauenvolle Schauspiel des Mordens und die herzzereißende Klage der Mütter verwandelt in das Fest der ersten Märtyrer, deren unschuldiger Opfertod noch der Kreuzigung ihres Erlösers vorausging“ (Sauerländer 2011, S. 270).
Von der festlich gekleideten Frauengestalt ausgehend, streben drei weitere Mütter zum Palast des Herodes. Der vorderen Mutter ist ihr Kind bereits entrissen worden. Mit quer gehaltener Stichwaffe hindert sie einer der Soldaten daran, ihrem Kind zu folgen. Es jammert seiner Mutter nach, während es roh ins Palastinnere gebracht wird, um dort ermordet zu werden. Eine andere Mutter auf der Treppe hält ihr schlafendes Kind noch im Arm; die Frau hinter ihr umklammert sie, mehr verzweifelt als in der Hoffnung, das Kind soi doch noch retten zu können. Oberhalb der vier Frauen stürzen die Erfüllungsgehilfen des Herodes mit ihren Lanzen aus dem Palast des paranoiden Provinztyrannen, der sich bis in die Mitte des Bildes über die grausige Handlung schiebt. 
Eine weitere Figurengruppe auf der rechten Seite bildet ein heftiges Knäuel aus ineinander verkeilten Menschenleibern, erschreckend in der Grausamkeit des Abschlachtens, des Schmerzes, aber auch der ohnmächtigen Wut der Mütter. Eine von ihnen beißt den Mörder, der ihr Kind erdolchen will, wie ein wildes Tier in den Arm; vor Schmerz verzerrt sich das Gesicht des Mannes. Eine hellblonde Frau in prächtigem goldfarbenen Gewand hebt in hilfloser Klage die Arme zum Himmel und blickt ebenfalls ihrem Kind nach, über dessen Schicksal die Kinderleichen rechts oben keinen Zweifel lassen. Eine Mutter liegt am Boden und greift mit blutiger Hand in den blanken Dolch, mit dem ein Soldat ihren Sohn durchbohren will, während eine andere Frau diesen zurückzuzerren versucht
Peter Paul Rubens: Die Schrecken des Krieges (um 1638); Florenz, Palazzo Pitti
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Einer der Schergen in Rüstung hat eines der zu tötenden Kinder kopfüber geschultert. Dem geöffneten Mund des wehrlosen Knaben entfährt ein Schrei, schützend legt er seine kleine Hand an den Kopf. Mit rollenden Augen stiert der Soldat auf das Gesicht der von Panik erfassten Mutter. Mit der Faust, die den Dolch umklammert, drückt er die Wehrlose nieder, die Arme der beiden verhaken sich, die Mutter greift mit der erhobenen Linken nach der Hand des Söhnchens. Rubens hat ein solches Paar, in dem sich männliche Brutalität und weibliches Flehen ineinander verschlingen, schon einmal dargestellt, und zwar in der Mitte seines großen Florentiner Gemäldes Die Schrecken des Krieges.
An einem Pfeiler ist in nicht entzifferbaren hebräischen Schriftzeichen die Verordnung des Königs angeschlagen, deren Inhalt die Kinderleichen daneben und darunter verdeutlichen, während dahinter – im Schutz seiner Palastgarde – derjenige thront, der dieses Gemetzel veranlasst hat. Einer der Totschläger schleudert eben ein Kind gegen den Stein, an dem die Verlautbarung angebracht ist; zwei weitere Scheusale tragen die nächsten Opfer die Palasttreppe empor, wo die Leichen der getöteten Kinder aufgestapelt werden. Die Leibwache des Herodes, Männer in Rüstung und mit Helmen, beteiligt sich nicht am Mordgeschäft, sondern schützt den Tyrannen vor Unruhen in der aufgebrachten Bevölkerung – links erblickt man im Hintergrund zwei zornige Männer, die ihre Fäuste gegen den Palast des Gewaltherrschers erheben. Die Schrecken des Krieges und der Bethlehemitische Kindermord sind annähernd gleichzeitig entstanden und inhaltlich miteinander verwandte Werke: „Beide sind erfüllt vom Echo und vom Schauder der damals Europa heimsuchenden Kriegsgreuel“ (Sauerländer 2011, S. 257).
In der linken Hälfte des Bildes öffnet sich im Hintergrund eine weite Landschaft, verklärt vom goldenen Licht eines abendlichen Himmels. In der Ferne entdeckt man neben den bereits erwähnten zornig ihre Fäuste schüttelnden Männer weitere Schergen des Königs, die Mütter und Kinder verfolgen, sowie eine Abteilung von Berittenen mit Lanzen – im Matthäus-Evangelium heißt es, Herodes habe alle Knaben von und unter zwei Jahren in Bethlehem „und seiner Umgebung“ ermorden lassen (Matthäus 2,16; LUT). In der linken Ecke unteren Ecke dagegen ist ein weiteres Figurenknäuel zu sehen, in dem sich die Affekte von Trauer, Wut und Tobsucht zu ihrem höchsten Siedepunkt erhitzen. Die wie eine Furie angreifende verzweifelte Mutter und der dumpf zustechende Kindesmörder zeigen das Ausmaß der Emotionen. Dabei handelt es sich um eine kühne Verwandlung der antiken Laokoon-Gruppe: Die mordenden Schergen und die rasenden Mütter verschlingen sich ineinander – so wie die Schlangen und der heidnische Priester mit seinen Söhnen in der berühmten hellenistischen Skulpturengruppe. 
Laokoon-Gruppe; Rom, Vatikanische Museen
Am Boden liegen die getöteten Kinder, und eine Mutter beugt sich mit aufgelösten Haaren über den Leichnam ihres in einer Blutlache liegenden Knäbleins. Über ihr tobt wildes Raufen. „Wie Schlangen strecken sich die Arme der wahnsinnigen Mütter jener männlichen Gestalt in der Mitte entgegen, welche eine fürchterliche Verwandlung des leidenden Laokoons ist und deren von Schmerz und Mordwut verzerrtes Gesicht man mit dem Haupt der Furie Alekto auf dem Bilde mit den Schrecken des Krieges verglichen hat“ (Sauerländer 2011, S. 272). Auf der Schulter dieses Schlächters liegt ein Kind, das im nächsten Augenblick durch einen Stich in sein Herz getötet werden wird. Es hat seine kleinen Arme ausgebreitet wie der Gekreuzigte und blickt mit schmerzerfülltem Gesicht zum Himmel. Über diesem Kind erscheinen am abendlich verklärten Himmel drei Engel, die Kränze für die unschuldigen Opfer mit sich führen und Blumen über sie ausstreuen.

Literaturhinweise
Grave, Johannes: Was heißt es, Gewalt zu sehen? Nicolas Poussins Bethlehemitischer Kindermord in Chatilly. In: Heinz-Peter Preußer (Hrsg.), Gewalt im Bild. Ein interdisziplinärer Diskurs. Schüren Verlag, Marburg 2018, S. 145-178;
Sauerländer, Willibald: Der katholische Rubens. Heilige und Märtyrer. Verlag C.H. Beck, München 2011, S. 238-273;
Suthor, Nicole: Gewalt im Bild. Zu Nicolas Poussins Der Bethlehemitische Kindermord. In Ludger, Schwarte (Hrsg.), Bild-Performanz. Die Kraft des Visuellen. Wilhelm Fink Verlag, München 2011, S. 305-329.
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
 
(zuletzt bearbeitet am 18. Dezember 2022)

Donnerstag, 17. Oktober 2019

Friedrich Schiller: Der Pilgrim

Caspar David Friedrich:; Der Mönch am Meer (1810); Berlin, Alte Nationalgalerie
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Der Pilgrim

Noch in meines Lebens Lenze
   War ich, und ich wandert aus,
Und der Jugend frohe Tänze
   Ließ ich in des Vaters Haus.

All mein Erbteil, meine Habe
   Warf ich fröhlich glaubend hin,
Und am leichten Pilgerstabe
   Zog ich fort mit Kindersinn.

Denn mich trieb ein mächtig Hoffen
   Und ein dunkles Glaubenswort,
Wandle, rief’s, der Weg ist offen,
   Immer nach dem Aufgang fort.

Bis zu einer goldnen Pforten
   Du gelangst, da gehst du ein,
Denn das Irdische wird dorten
   Himmlisch, unvergänglich sein.

Abend ward’s und wurde Morgen,
   Nimmer, nimmer stand ich still;
Aber immer blieb’s verborgen,
   Was ich suche, was ich will.

Berge lagen mir im Wege,
   Ströme hemmten meinen Fuß,
Über Schlünde baut ich Stege,
   Brücken durch den wilden Fluß.

Und zu eines Stroms Gestaden
   Kam ich, der nach Morgen floß;
Froh vertrauen seinem Faden,
   Werf ich mich in seinen Schoß.

Hin zu einem großen Meere
   Trieb mich seiner Wellen Spiel;
Vor mir liegt’s in weiter Leere,
   Näher bin ich nicht dem Ziel.

Ach, kein Steg will dahin führen,
   Ach, der Himmel über mir
Will die Erde nicht berühren,
   Und das Dort ist niemals hier!

Friedrich Schiller

Samstag, 12. Oktober 2019

„Die Verspottung Christi“ – ein Frühwerk von Matthias Grünewald

Matthias Grünewald: Verspottung Christi (um 1504); München,
Alte Pinakothek (für die Großansicht einfach anklicken)
Von der Verspottung und Misshandlung Jesu nach seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane wird mit knappen Worten im Lukas-Evangelium berichtet: „Die Männer aber, die Jesus gefangen hielten, verspotteten ihn und schlugen ihn, verdeckten sein Angesicht und fragten: Weissage, wer ist’s, der dich schlug? Und viele andere Lästerungen sagten sie gegen ihn“ (Lukas 22,63-65; LUT).
Matthias Grünewalds Komposition, die um 1504 entstanden sein dürfte und sich heute in der Alten Pinakothek (München) befindet, ist flächig angelegt; die dargestellte Szene ereignet sich in einem nicht näher bestimmbaren, dunklen Raum. Es könnte sich um einen Innenhof handeln, in dem Christus verspottet und geschlagen wird, nur von einer links außerhalb des Gemäldes anzunehmenden Lichtquelle beleuchtet, vielleicht einer schwelenden Fackel oder einem nächtlichen Holzfeuer. Der Maler hat einen engen Bildausschnitt gewählt, um das Bedrängende, Bedrohliche des Geschehens spürbar werden zu lassen. Christus sitzt, aus dem Bildzentrum verschoben, links auf einem Mauervorsprung. Die Augen sind ihm mit einem Tuch verbunden, das unter seinem Kinn verknotet ist – die Binde verweist auf den Bibeltext: „Weissage, wer ist’s, der dich schlug?“; Arme und Hände Jesu sind mit langen Stricken gefesselt. Zwei Schergen prügeln auf ihn ein; Jesu Pein wird sichtbar an seinem blutenden Haupt und der zusammengesunkenen Haltung. Der vor ihm stehende Folterknecht wird als Rückenfigur gezeigt; mit gespreizten Beinen und gebeugtem Oberkörper hält er das Seil in seinen Händen und holt mit dem verknoteten Ende zum Schlag aus. In dieser dynamischen Haltung bildet er einen betonten Kontrast zur Passivität Christi. Vergleichbare Gestalten finden sich z. B. im Kupferstich-Passionszyklus von Martin Schongauer (siehe meinen Post „Kunstvoll gestochenes Leiden“).
Weissage, wer ists, der dich schlug?
Der zweite, über Christus erscheinende Scherge in violettem Gewand holt mit weit über dem Kopf erhobener Faust ebenfalls zum Hieb auf das Haupt Jesu aus, das er am Haar gepackt hat – er fixiert den Kopf, um ihn sicherer treffen zu können. Bleibt  in Grünewalds Darstellung der rechte Peiniger im verlorenen Profil und für uns somit fast anonym, nur durch seine Gesten als Rohling charakterisiert, so zeigt der zweite Knecht ein Gesicht, das Lust verrät, Schmerz zuzufügen. Die großen Holzstöcke, die im Hintergrund zu sehen sind, könnte auf die nachfolgende Dornenkrönung vorausweisen, bei der die Schergen derartige, über Kreuz gelegte Stecken verwenden, um Christus die dornige Krone aufs Haupt zu drücken. Ein Musiker am linken Bildrand peitscht die Prügelknechte zusätzlich mit Flöte und Trommel an, was an Hiobs Beschreibung der „Gottlosen“ denken lässt: „Sie jauchzen mit Pauken und Harfen und sind fröhlich mit Flöten“ (Hiob 21,12; LUT).
Hans Holbein d.Ä.: Dornenkrönung Christi (um 1494/1500); Stuttgart, Staatsgalerie
Rechts oben tritt ein fülliger Mann mit feistem Gesicht zu der Folterzene hinzu. Will er den beiden Schergen mit seiner ausgestreckten Rechten Einhalt gebieten – oder führt er das Kommando bei der Misshandlung Jesu? Ich denke eher, dass es sich um einen weiteren Büttel des Hohen Rates handelt. Neben ihm steht ein älterer Mann, der ihm die linke Hand auf die Schulter legt und ihn anzusprechen scheint. Seine Gestalt verlängert die Diagonale des nach vorne gebeugten Oberkörpers Christi, seine Kopfbedeckung nimmt die Form der Augenbinde Jesu auf, und auch die Barttracht verbindet die beiden Männer miteinander. Es ist offensichtlich ein Fürsprecher Jesu, der auf den Büttel einzuwirken versucht. Vielleicht ist mit dieser Gestalt Josef von Arimathäa gemeint, ein Jünger Jesu, der ihn nach der Kreuzigung in seinem eigenen Felsengrab bestatten lässt (Lukas 23,50-52). Diese vier Figuren sind kompositionell eng verknüpft: Einmal durch die gegenläufig kreisenden Bewegungen der Folterknechte, zum anderen durch die ein Andreaskreuz bildenden Achsen zwischen Christus und seinem Fürsprecher sowie den beiden Schergen.
Albrecht Dürer: Der Koch und seine Frau (1496); Kupferstich
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Hans Holbein d.Ä.: Christus vor Pilatus (um 1494/1500), Stuttgart, Staatsgalerie
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Den feisten Büttel könnte Grünewald von Albrecht Dürer übernommen haben, in dessen grafischem Werk dieser Typus mehrfach auftaucht, z. B. in Der Koch und seine Frau und dem berühmten Männerbad. Auch der Einfluss des älteren Hans Holbein ist spürbar, besonders in den grimassierenden Gesichtern der Schergen.

Literaturhinweise
an der Heiden, Rüdiger: Die Alte Pinakothek. Sammlungsgeschichte, Bau und Bilder. Hirmer Verlag, München 1998, S. 154-157;
Moraht-Fromm, Anna: Zum Frühwerk Grünewalds. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 119-121;
Ziermann, Horst: Matthias Grünewald. Prestel Verlag, München 2001, S. 34-38;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 20. Februar 2024)