Samstag, 12. Oktober 2019

„Die Verspottung Christi“ – ein Frühwerk von Matthias Grünewald

Matthias Grünewald: Verspottung Christi (um 1504); München,
Alte Pinakothek (für die Großansicht einfach anklicken)
Von der Verspottung und Misshandlung Jesu nach seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane wird mit knappen Worten im Lukas-Evangelium berichtet: „Die Männer aber, die Jesus gefangen hielten, verspotteten ihn und schlugen ihn, verdeckten sein Angesicht und fragten: Weissage, wer ist’s, der dich schlug? Und viele andere Lästerungen sagten sie gegen ihn“ (Lukas 22,63-65; LUT).
Matthias Grünewalds Komposition, die um 1504 entstanden sein dürfte und sich heute in der Alten Pinakothek (München) befindet, ist flächig angelegt; die dargestellte Szene ereignet sich in einem nicht näher bestimmbaren, dunklen Raum. Es könnte sich um einen Innenhof handeln, in dem Christus verspottet und geschlagen wird, nur von einer links außerhalb des Gemäldes anzunehmenden Lichtquelle beleuchtet, vielleicht einer schwelenden Fackel oder einem nächtlichen Holzfeuer. Der Maler hat einen engen Bildausschnitt gewählt, um das Bedrängende, Bedrohliche des Geschehens spürbar werden zu lassen. Christus sitzt, aus dem Bildzentrum verschoben, links auf einem Mauervorsprung. Die Augen sind ihm mit einem Tuch verbunden, das unter seinem Kinn verknotet ist – die Binde verweist auf den Bibeltext: „Weissage, wer ist’s, der dich schlug?“; Arme und Hände Jesu sind mit langen Stricken gefesselt. Zwei Schergen prügeln auf ihn ein; Jesu Pein wird sichtbar an seinem blutenden Haupt und der zusammengesunkenen Haltung. Der vor ihm stehende Folterknecht wird als Rückenfigur gezeigt; mit gespreizten Beinen und gebeugtem Oberkörper hält er das Seil in seinen Händen und holt mit dem verknoteten Ende zum Schlag aus. In dieser dynamischen Haltung bildet er einen betonten Kontrast zur Passivität Christi. Vergleichbare Gestalten finden sich z. B. im Kupferstich-Passionszyklus von Martin Schongauer (siehe meinen Post „Kunstvoll gestochenes Leiden“).
Weissage, wer ists, der dich schlug?
Der zweite, über Christus erscheinende Scherge in violettem Gewand holt mit weit über dem Kopf erhobener Faust ebenfalls zum Hieb auf das Haupt Jesu aus, das er am Haar gepackt hat – er fixiert den Kopf, um ihn sicherer treffen zu können. Bleibt  in Grünewalds Darstellung der rechte Peiniger im verlorenen Profil und für uns somit fast anonym, nur durch seine Gesten als Rohling charakterisiert, so zeigt der zweite Knecht ein Gesicht, das Lust verrät, Schmerz zuzufügen. Die großen Holzstöcke, die im Hintergrund zu sehen sind, könnte auf die nachfolgende Dornenkrönung vorausweisen, bei der die Schergen derartige, über Kreuz gelegte Stecken verwenden, um Christus die dornige Krone aufs Haupt zu drücken. Ein Musiker am linken Bildrand peitscht die Prügelknechte zusätzlich mit Flöte und Trommel an, was an Hiobs Beschreibung der „Gottlosen“ denken lässt: „Sie jauchzen mit Pauken und Harfen und sind fröhlich mit Flöten“ (Hiob 21,12; LUT).
Hans Holbein d.Ä.: Dornenkrönung Christi (um 1494/1500); Stuttgart, Staatsgalerie
Rechts oben tritt ein fülliger Mann mit feistem Gesicht zu der Folterzene hinzu. Will er den beiden Schergen mit seiner ausgestreckten Rechten Einhalt gebieten – oder führt er das Kommando bei der Misshandlung Jesu? Ich denke eher, dass es sich um einen weiteren Büttel des Hohen Rates handelt. Neben ihm steht ein älterer Mann, der ihm die linke Hand auf die Schulter legt und ihn anzusprechen scheint. Seine Gestalt verlängert die Diagonale des nach vorne gebeugten Oberkörpers Christi, seine Kopfbedeckung nimmt die Form der Augenbinde Jesu auf, und auch die Barttracht verbindet die beiden Männer miteinander. Es ist offensichtlich ein Fürsprecher Jesu, der auf den Büttel einzuwirken versucht. Vielleicht ist mit dieser Gestalt Josef von Arimathäa gemeint, ein Jünger Jesu, der ihn nach der Kreuzigung in seinem eigenen Felsengrab bestatten lässt (Lukas 23,50-52). Diese vier Figuren sind kompositionell eng verknüpft: Einmal durch die gegenläufig kreisenden Bewegungen der Folterknechte, zum anderen durch die ein Andreaskreuz bildenden Achsen zwischen Christus und seinem Fürsprecher sowie den beiden Schergen.
Albrecht Dürer: Der Koch und seine Frau (1496); Kupferstich
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Hans Holbein d.Ä.: Christus vor Pilatus (um 1494/1500), Stuttgart, Staatsgalerie
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Den feisten Büttel könnte Grünewald von Albrecht Dürer übernommen haben, in dessen grafischem Werk dieser Typus mehrfach auftaucht, z. B. in Der Koch und seine Frau und dem berühmten Männerbad. Auch der Einfluss des älteren Hans Holbein ist spürbar, besonders in den grimassierenden Gesichtern der Schergen.

Literaturhinweise
an der Heiden, Rüdiger: Die Alte Pinakothek. Sammlungsgeschichte, Bau und Bilder. Hirmer Verlag, München 1998, S. 154-157;
Moraht-Fromm, Anna: Zum Frühwerk Grünewalds. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 119-121;
Ziermann, Horst: Matthias Grünewald. Prestel Verlag, München 2001, S. 34-38;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 20. Februar 2024) 

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