Sonntag, 26. Januar 2014

Auf kleinem Format groß rauskommen – Albrecht Dürer porträtiert Elsbeth Tucher


Albrecht Dürer: Bildnis der Elsbeth Tucher (1499); Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister
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Elsbeth Tucher gehörte im ausgehenden 15. Jahrhundert zu einer der mächtigsten und angesehensten Familien Nürnbergs. Dass Albrecht Dürer (1471–1528) mehrere Mitglieder dieses wohlhabenden Patriziergeschlechts porträtierte, belegt den künstlerischen Ruf, den er sich damals in seiner Heimatstadt bereits erworben hatte. Dürer konzentriert sein Porträt der Elsbeth Tucher in einem engen Bildausschnitt auf Kopf und Büste, die rechts von einem Brokatvorhang mit Granatapfelmuster und links von einem Landschaftsausblick hinterfangen werden. Die Räumlichkeit ist wenig definiert, die Dargestellte scheint vor einer Fensterbrüstung in einem Innenraum zu stehen. Trotz des relativ kleinen Bildformats (29 x 23 cm) entwickelt Elsbeth eine fast monumentale Präsenz: „Über dem sockelartigen Dreieck aus Hals und herabfallenden Schultern erhebt sich der durch die mächtige Haube groß wirkende Kopf geradezu statuarisch und nimmt, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehend, ein Drittel des Bildes ein“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 86). Den Namen der Dargestellten hat Dürer rechts oben auf dem Vorhang platziert: „ELSPET NICLAS TUCHERIN 26 ALT 1499“.
Gesicht und Blick sind nach links gerichtet. Die 26-jährige Elsbeth wendet sich nämlich ihrem Ehemann Nikolaus Tucher zu, der auf dem verschollenen linken Flügel des Ehepaar-Diptychons zu sehen war. Vom unteren Bildrand überschnitten, sind nur die Spitze ihres Daumens, des Mittel- und Ringfingers der rechten Hand sichtbar, die einen Goldring mit rot-schwarzen Steinen hochhalten. Vermutlich handelt es sich um den Trauring, der auf den Hochzeitstag verweist. Elsbeth trägt ein grünes Kleid mit Goldbordüre, darunter ein kostbares weißes Untergewand, dem die Buchstaben „WW“ aufgestickt sind. Das Kleid wird von einer Goldbrosche mit den Buchstaben N und T gehalten, den Initialen ihres Mannes.
Die Weiß in Weiß gewebte, mit ovalen Mustern versehene Haube hält ein goldenes Stirnband, das mit der bunten – bis heute nicht erklärbaren – Buchstabenreihe M H M N S K verziert ist. Das dünne weiße Tuch der Haube, das weich in die Stirn fällt und über der Schulter liegt, umfasst das Haar in einem glatten, runden Gebilde. Eine breite goldene Kordel oder Kette verschwindet an den Schultern unter dem Ziersaum des reich gefältelten Hemdes. Wie es sich damals für eine verheiratete Frau gehört, ist Elsbeths Haar von der Festhaube vollends verdeckt. Ihr Gesicht zeichnet sich durch ausgeprägte Wangenknochen und ein markantes Kinn aus; die roten Lippen sind geschlossen.
Antlitz und Gewand wurden von Dürer in sorgfältiger Feinmalerei ausgeführt, der Brokatbehang und die Landschaft – der Fensterausschnitt zeigt ein bewaldetes Areal vor fernen Bergen und unter einem bewölkten Himmel – „wirken dagegen eher summarisch, sind stärker zeichnerisch belassen“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 86).
Albrecht Dürer: Bildnis des Hans Tucher (1499); Weimar, Kunstsammlungen
Albrecht Dürer: Bildnis der Felicitas Tucher (1499); Weimar, Kunstsammlungen
Parallel zu dem Ehepaar-Doppelbildnis von Nikolaus und Elsbeth Tucher entstand 1499 ein weiteres, und zwar von seinem Bruder Hans Tucher und dessen Frau Felicitas, das sich heute in den Weimarer Kunstsammlungen befindet. Die beiden Diptychen sind kompositorisch eng aufeinander abgestimmt: Auch hier sind die Porträtierten als Brustbilder im Dreiviertelporträt und in sehr knappem Bildausschnitt dargestellt. Dürer zeigt uns ebenfalls nur einige Finger der rechten Hand, die eine Blume bzw. einen Ring halten, und wir sehen wiederum im Hintergrund einen Stoffbehang mit Granatapfel-Muster auf der einen und einen Landschaftsausblick hinter einer Steinbrüstung auf der anderen Seite.
Die Vorhänge auf diesen vier Bildnissen imitieren, so haben Vergleiche mit erhaltenen Textilien gezeigt, mit Goldfäden lancierte Stoffe oder Gewebe aus verschiedenartigen Seiden aus dem nördlichen Italien, wie sie in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hergestellt wurden. Da die Kaufmannsfamilie Tucher intensiven Handel mit Norditalien trieb, dürften die Stoffbehänge auf den Porträts „mit den Wünschen oder sogar Vorgaben der Auftraggeber zusammenhängen, da das Vorhangmotiv auf die Lebenspraxis bzw. den Beruf der Patrizierfamilie anspielt“ (Hirschfelder 2012, S. 111). Zu den Tucher-Brüdern und ihren Frauen hatte Albrecht Dürer sicherlich auch schon vor der Anfertigung dieser Bildnisse Kontakt, und zwar durch nachbarliche Nähe – wohnten sie doch am Nürnberger Milchmarkt, also unweit von Dürers Vatershaus in der Burgstraße. Die persönliche Bekanntschaft und Vertrautheit dürfte die Vergabe dieser Porträtaufträge sicherlich begünstigt haben.
Wolfgang Beurer: Porträt eines Mannes (1487); Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Michael Wolgemut: Bildnis Levinus Memminger (um 1485);
Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza
Dürer hat für die repräsentativen Tucher-Porträts auf einen Bildnistypus zurückgriffen, der bereits in den 1480er-Jahren von dem am Mittelrhein tätigen Maler Wolfgang Beurer entwickelt worden war; der Nürnberger Künstler und Beurer waren sich wahrscheinlich persönlich bekannt. Auch auf Porträt des Levinus Memminger von der Hand Michael Wolgemuts, Dürers Lehrmeister von 1486 bis 1490, ist in diesem Zusammenhang zu verweisen. Sowohl der knappe Bildausschnitt wie auch der Fensterausblick und das Brokattuch im Hintergrund könnten von diesen Vorbildern angeregt sein. Durch die Prägnanz, mit der Dürer die Züge der Dargestellten erfasst, verschiebt sich die Wertigkeit dieses Schemas; die Tucherin wirkt weit präsenter und beherrschender als die Gestalten der älteren Werke. Nicht zuletzt differenziert Dürer auch die Landschaft in einer neuartigen Weise, indem er sie einerseits mit weniger ablenkenden Details versieht und anderseits einen dramatischen Wolkenhimmel einführt, wie er dem stets blauen Äther des 15. Jahrhunderts noch fremd war“ (Kemperdick 2013, S. 98).

Literaturhinweise

Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010;

Hirschfelder, Dagmar: Dürers frühe Privat- und Auftragsbildnisse zwischen Tradition und Innovation. In: Daniel Hess/Thomas Eser, Der frühe Dürer. Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2012, S. 101-116;
Kemperdick, Stephan: „Nach mir selbst kunterfeit“. Bildnisse und Selbstbildnisse. In: Jochen Sander (Hrsg.), Dürer. Kunst – Künstler – Kontext. Städel Museum, Frankfurt am Main 2013, S. 92-100;

Richter, Kerstin: Unverwechselbar. Zur Porträt-Tradition bis 1500 in Deutschland und den Niederlanden. In: Messling, Guido/Richter, Kerstin (Hrsg.), Cranach. Die Anfänge in Wien. Hirmer Verlag. München 2022, S. 35-43.

(zuletzt bearbeitet am 10. August 2022)

Dienstag, 21. Januar 2014

Ein Höhepunkt höfischer Porträtkunst – Hans Holbeins Bildnis des Charles de Solier


Hans Holbein d.J.: Bildnis des Charles de Solier (um 1534/35); Dresden, Gemäldegalerie
Alte Meister (für die Großansicht einfach anklicken)
Hans Holbein d.J. wurde um die Jahreswende 1497/98 in eine Augsburger Künstlerfamilie hineingeboren; sein gleichnamiger Vater Hans Holbein d.Ä. und sein Onkel Sigmund waren ebenso Maler wie sein nur wenig älterer Bruder Ambrosius. Gemeinsam mit Ambrosius dürfte der junge Hans seine erste künstlerische Ausbildung in der väterlichen Werkstatt erhalten haben. Da offensichtlich familiäre Beziehungen in die Schweiz bestanden, zog es die beiden Malersöhne nach Abschluss ihrer Augsburger Lehrzeit nach Südwesten an den Oberrhein; im Verlauf des Jahres 1515 müssen sie in Basel angekommen sein. Als Universitätsstadt zugleich ein bedeutendes Verlagszentrum, bot Basel gerade jungen Künstlern vielfältige Erwerbsmöglichkeiten als Buchillustratoren. Darüber hinaus erwiesen sich die Brüder auch als talentierte Porträtisten. Insbesondere dem jüngeren Hans gelang es unmittelbar nach der Ankunft in Basel, die Aufmerksamkeit des dortigen Bürgermeisters Jacob Meyer zum Hasen zu wecken: Er beauftragte den noch nicht Zwanzigjährigen 1516 mit einem Doppelbildnis, das den Bürgermeister zusammen mit seiner Ehefrau Dorothea Kannengießer zeigt.
Hans Holbein d.J.: Bildnis des Jacob Meyer zum Hasen (1516); Basel, Kunstmuseum
Hans Holbein d.J.: Bildnis der Dorothea Kannengießer (1516); Basel, Kunstmuseum
Holbein entwickelt sich künstlerisch schnell weiter – ab den frühen 1520er Jahren entfalten seine Bildnisse eine immer größere maltechnische Brillanz, die vor allem an einer eminent detailrealistischen Wiedergabe aller Bildelemente ablesbar ist. Schon in Basel wird Holbein zum Porträtisten des damals bedeutendsten Humanisten in Europa: Erasmus von Rotterdam (nicht weniger als vier eigenhändige Bildnisse aus den 1520er und früher 1530er Jahren sind erhalten geblieben; siehe meinen Post „Ein Maler empfiehlt sich“). 1526 eröffnet ihm dessen Empfehlungsschreiben in London den Zugang zu Thomas More, dem führenden englischen Humanisten und späteren Lordkanzler König Heinrichs VIII. More besaß bereits ein Erasmus-Porträt von Holbein und bestellte umgehend das heute verlorene Gruppenbildnis seiner Familie, das jedoch durch mehrere Kopien, vor allem aber durch vorbereitende Studien aller Figuren überliefert ist.
Holbein blieb bis 1528 in London und kehrte dann nach Basel zurück. 1532 brach er erneut nach England auf, wo er sein Ziel, Hofmaler Heinrich VIII. zu werden, spätestens 1536 erreichte. Zunächst aber musste Holbein in London neue Auftraggeber und Förderer finden: Thomas More war wegen seines Dissenses mit dem König in der Frage der Ehescheidung von seinem Amt als Lordkanzler zurückgetreten und in Ungnade gefallen (er wurde 1535 hingerichtet); William Warham, Primas der anglikanischen Kirche, der sich von Holbein während seines ersten England-Aufenthaltes hatte malen lassen, starb 1532.
Unmittelbar nach seiner Ankunft nahm Holbein Kontakt auf zu den Hansekaufleuten aus dem Heiligen Römischen Reich, die im Londoner Stalhof ihre zentrale Niederlassung hatten. Zahlreiche der in London ansässigen Handelsherren gaben ab 1532 bei Holbein Porträts in Auftrag. Während seines Aufenthaltes als französischer Gesandter am englischen Hof zwischen April 1534 und Juli 1535 ließ sich auch Charles de Solier von Holbein porträtieren.
Das lebensgroße Bildnis zeigt den Diplomaten frontal als Dreiviertelfigur nah an die vordere Bildebene herangerückt, wobei er das Bildformat mit seiner massigen Figur fast zur Gänze ausfüllt. Höchst effektvoll heben sich das bärtige Gesicht, die Hände und das weiße Hemd, das zum Teil aus den Ärmelschlitzen hervorblitzt, vom Dunkel der kostbaren schwarzen, teils pelzbesetzten Kleidung und dem dunkelgrünen Damastvorhang ab, der den Dargestellten hinterfängt. 
Jean Clouet: Bildnis Franz I. (um 1530); Paris, Louvre
Die Maße des ungewöhnlich großen Porträts (92,5 x 75,5 cm) stimmen fast zentimetergenau mit Jean Clouets Bildnis des französischen Königs Franz I. überein. Bei Clouets Gemälde handelt es sich um ein frontal ausgerichtetes Halbfigurenporträt vor rotem Brokat, wobei der Oberkörper leicht gedreht erscheint. Der französische König trägt einen reich geschmückten schwarzen Hut mit einer weißen Straußenfeder, die Kette des St. Michael-Ordens und ein Gewand aus goldbesticktem schwarzem Samt und weißem Satin. Die linke Hand hält den goldenen Griff des Schwertes, die rechte, die auf der mit grünem Samt bedeckten Brüstung aufliegt, einen Handschuh. Für diesen Typus hatte Jean Fouquet (1420–1481) mit seinem Porträt Charles VII. das Modell geliefert.
Jean Fouquet: Bildnis Charles VII. (um 1445); Paris, Louvre
Clouets imposantes Bildnis von Franz I. war offensichtlich auch in England bekannt und diente Holbein als Vorbild. „Es ist nachvollziehbar, dass der Botschafter, der Frankreich und dessen Interessen am englischen Hof vertrat, sein Bildnis als dezidiertes Manifest französischer Hofkultur, Machtdemonstration und Loyalität gegenüber Franz I. verstanden wissen wollte“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 376). Holbein platziert den Gesandten ebenfalls vor einem stoffdrapierten Hintergrund. Charles de Solier zeigt sich allerdings anders als der halbfigurig porträtierte französische König bis unterhalb der Hüften. Die Ärmel seines breitschultrigen Mantels reichen bis an die Bildränder, werden aber nur wenig überschnitten. Kopf und Körper sind frontal ausgerichtet; die Beleuchtung kommt deutlich von links, deswegen ist die dem Licht abgewandte Gesichtshälfte verschattet. Die strenge Frontalität „bewirkt eine ungemein zwingende Konfrontation des Betrachters mit dem Dargestellten, da weder Blick noch Körperhaltung auf etwas anderes als das Gegenüber ausgerichtet zu sein scheinen“ (Bonnet/Kopp-Schmidt 2010, S. 376).
Die Präsenz de Soliers wird gesteigert durch das Gewand nach französischer Mode mit seinen ausladenden, geschlitzten und von Goldnesteln zusammengehaltenen Ärmeln und dem schwarzen, mit braunem Fell gefütterten Mantel. Er trägt ein mit der Kopfbedeckung des französischen Königs fast identisches Barett mit Goldapplikationen und einer Agraffe am hochgestellten Rand. Die Haare des Gesandten sind bereits ergraut, während sein akkurat geschnittener Vollbart noch Strähnen der ursprünglich rötlich-blonden Farbe zeigt. Auf den eindringlichen Blick hatte sich Holbein bereits in der vorbereitenden Kreidestudie, die er dem Porträt zugrunde legte, konzentriert.
Holbeins Vorzeichnung befindet sich ebenfalls in Dresden (Kupferstich-Kabinett)
Wie bei Clouet ziehen auch de Soliers Hände die Aufmerksamkeit auf sich, hier in Höhe der Hüften. In der bloßen rechten Hand hält er einen hirschledernen Stulphandschuh, mit der behandschuhten Linken umfasst er die Scheide eines kostbaren goldenen Dolches, der an einer blau-goldenen Kette von seinem Gürtel herabhängt. Zusammen mit der schweren Goldkette verdeutlichen sie den hohen sozialen Status des Gesandten.
Werkstatt des Hans Holbein d.J.: Bildnis Heinrich VIII. (um 1535-40); Rom, Galleria Nazionale
Das Bildnis Charles de Soliers bildet ohne Frage einen Höhepunkt der höfischen Porträtkunst Holbeins. Dafür sorgt nicht nur die Kostbarkeit der illusionistisch genau gemalten Stoffe wie Samt, Seide, Atlas oder Pelz, sondern vor allem die geradezu einschüchternde Persönlichkeit des Gesandten. Holbeins Bildnis nimmt außerdem die ganzfigurige Darstellung Heinrich VIII. vorweg, die Holbein 1537 für die Privy Chamber in Whitehall Palace angefertigt hatte. Das Original ist verloren (es wurde 1698 bei einem Brand zerstört); seine Gestaltung, die den Typus des Königsporträts Heinrich VIII. festlegte und den unbedingten Machtanspruch des Königs ins Bild setzt, blieb aber durch Kopien und die Entwürfe Holbeins erhalten.
Hans Holbein d.J. war nur etwas über ein Jahrzehnt Arbeits- und Lebenszeit in England vergönnt – er starb, vermutlich an der Pest, am 29. November 1543 in London.

Literaturhinweise
Bätschmann, Oskar/Griener, Pascal: Hans Holbein. DuMont Buchverlag, Köln 1997, S. 134-135;
Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010;
Marx, Harald: Das Bildnis des Charles de Solier, Sieur de Morette, von Hans Holbein dem Jüngeren. In: Hans Holbein der Jüngere. Akten des Internationalen Symposiums Kunstmuseum Basel, 26.–28. Juni 1997. Verlag Karl Schwegler, Zürich 1999, S. 263–279;
Sander, Jochen: Gebt dem König, was des Königs ist! Hans Holbein d.J. als Bildnismaler in Basel und London. In: Sabine Haag u.a. (Hrsg.), Dürer – Cranach – Holbein. Die Entdeckung des Menschen: Das deutsche Porträt um 1500. Hirmer Verlag, München 2011, S. 139-143.

(zuletzt bearbeitet am 9. Juni 2020)

Montag, 13. Januar 2014

Schmerzvolles Erinnern – Ernst Barlachs Güstrower Ehrenmal


Ernst Barlach: Schwebender Engel (1927); Güstrow, Dom
Ernst Barlach (1870-1938) hat 1927 für den gotischen Dom im mecklenburgischen Güstrow einen Bronzeengel gestiftet, der dort in einem Seitenschiff installiert wurde. Nur die Gusskosten musste die evangelische Gemeinde bezahlen. Die Plastik sollte an die Toten des Ersten Weltkrieges erinnern. Die über zwei Meter lange Skulptur, seither Güstrower Ehrenmal genannt, entsprach allerdings nicht dem damaligen Idealbild eines Mahnmals für gefallene Kriegshelden. Denn Barlach hatte mit der engelhaften, die Arme demütig vor der Brust gekreuzten Figur eine Gestalt entworfen, die kaum den Denkmalsvorstellungen einer gekränkten Nation entsprach. Stahlhelmbewehrt oder in heroischer, muskelgepanzerter Nacktheit sollten die „fürs Vaterland Gefallenen“ erscheinen und so dem elenden Tod im Schützengraben Sinn und Glanz verleihen. Wie sehr sich Barlachs Schwebender Engel von den zeitgenössischen, oft antikisierenden und pathetischen Soldatendenkmälern unterscheidet, macht der Vergleich mit Skulpturen von Wilhelm Wandschneider oder Georg Kolbe deutlich. 
Wilhelm Wandschneider: Trauernder Soldat (1936); Schwerin, Alter Friedhof
Georg Kolbe: Stralsunder Ehrenmal (1936);
Stralsund, Marinemuseum Dänholm
Am 24. August 1937 ließ denn auch die Kirchenleitung die „entartete Figur“ entfernen und nach Schwerin bringen, da der „slawische Engel von Barlach nicht würdig war, den Dom zu schmücken“ (Billstein 1988). Vier Jahre später lieferte der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Mecklenburg die Bronzefigur an die Kreisleitung der NSDAP Schwerin-Mitte aus – „zum Zwecke der Einschmelzung für die Wehrwirtschaft“. Der Erlös ging an die Kirche, heißt es.
Freunde Barlachs hatten das Unheil geahnt und Vorsorge getroffen. Schon 1939 ließen sie vom Original-Werkmodell einen zweiten Engel gießen, den sie versteckten. Sie taten gut daran, denn 1944 zerstörten Bomben das in Berlin aufbewahrte Gipsmodell. Der Zwillingsengel hingegen überlebte Krieg und Nationalsozialismus in einer Scheune in der Lüneburger Heide. Barlach selbst hatte diese Vermehrung seiner Plastik nicht mehr erlebt; er war im Oktober 1938 gestorben, noch vor dem Zweitguss.
Der Zweitguss wurde 1952 den Kölner Museen angeboten, und, weil nach Ansicht des damaligen Direktors nicht für ein Museum geschaffen, in der Antoniter-Kirche aufgehängt. Doch zuvor hatte sich auch dieser nunmehr „Kölner Engel“ fortgepflanzt – nach dem Wunsch der Barlach-Gesellschaft wurde eine Kopie für den Güstrower Dom gefertigt, die Heimatkirche der ersten zerstörten Skulptur. Finanziert wurde dieser dritte Guss und das dafür vom „Kölner Engel“ abgenommene Gipsmodell durch den Verkauf des Engels an die Antoniter-Gemeinde.
Der Zweitguss des „Schwebenden Engels“ in der Kölner Antoniterkirche
Wieder bereitete der Engel Ärger. Die Amerikaner wollten das „wehrwichtige Material“ nicht in die „Ostzone“ reisen lassen. Erst nach langen Verhandlungen gelangte die Bronzeskulptur im Februar 1953 nach Güstrow, und Bertolt Brecht, nicht gerade ein Rechtgläubiger, schwärmte: „Solche Engel gefallen mir. Und obwohl man weder einen Engel noch einen Mann je hat fliegen sehen, so ist doch das Fliegen glorios dargestellt“ (Brecht 1993, S. 199).
Ernst Barlach war einer der vielen Künstler, die 1914 den Ausbruch des Ersten Weltkriegs begeistert begrüßten. Er hoffte, dass dieser Krieg wie ein notwendiges Fegefeuer zur „Weiterung und Erhöhung des Volkes“ führen würde (Brief an Karl Barlach vom 17. August 1914). Aber von der Idee, mit einem erschreckenden Gewaltsturm könne eine verworfene Menschheit aufgerüttelt und aus ihrer Dumpfheit erlöst werden, wurde Barlach schnell kuriert. Allein schon die sechswöchige Blitzausbildung als Reservist im Januar und Febraur 1916 machte ihm klar, dass Kampf und tausendfacher Tod auf den Schlachtfeldern keine „Erneuerung“ hervorbringen würden. Die zunächst ernüchternden, später erschütternden Nachrichten von Freunden an der Front verwandelten den Kriegsbegeisterten in einen Verkünder des Friedens, der sein Denkmal für die Gefallenen nur als Mahnmal errichten konnte und wollte.
Die langgestreckte, lebensgroße Figur schwebt mit erhobenem Kopf in waagrechter Lage und wird von einer Kette gehalten. Die kräftige Gestalt ist, die nackten Füße ausgenommen,  bekleidet und trägt ein Gewand, dass sie wie eine Haut umgibt. Es ist knöchellang und fällt strahlenförmig-streng mit jeweils drei Gewandfalten nach allen Seiten. Die ausgeschnittenen Ärmel und der kragenlose Halsausschnitt bilden scharfe Linien in der Metalloberfläche. Die Form des Gewandes gleicht „einem in die Schwebe gebrachten Kubus, der in der Rückenlinie nach oben fast waagerecht und nach unten leicht schräg abgesenkt wurde“ (Laudan 1998, S. 70). Die vor der Brust verschränkten Arme tragen sowohl zur Geschlossenheit der Figur bei als auch zum Ausdruck tiefer Verinnerlichung und Stille. „Hinter den zeichenhaft gehaltenen Armen sind Leben und Tod überwunden, Leid, Geschrei, Schmerzen verschlossen und festgehalten, wie eine aufnotierte Erinnerung in einer Rolle oder in einem Gefäß“ (Laudan 1998, S. 70). Barlach selbst erklärte, dass der Schwebende Engel das „schmerzvolle Erinnern“ schlechthin symbolisieren solle (Brief an Karl von Seeger am 6. Februar 1929).
Kopf des „Schwebenden Engels“ (© Karl-Heinz Köpnick) 
Käthe Kollwitz (1867–1945)
In der Folge der Entwurfszeichnungen zum Güstrower Ehrenmal ist es vor allem der Ausdruck des Gesichts, der sich wandelt. Barlach schwankt zwischen Schmerz und friedlichem Lächeln – bis er dem Engel die ernsten Züge der Kollegin Käthe Kollwitz verleiht. Den Verleger Reinhard Piper lässt er wissen, dass dies nicht bewusst geschehen sei: „In den Engel ist mir das Gesicht von Käthe Kollwitz hineingekommen, ohne daß ich es mir vorgenommen hatte“ (Piper 1991, S. 421).
Ernst Barlach: Magdeburger Mal (1927-1929); Magdeburg Dom
Ernst Barlach: Hamburger Ehrenmal (1931); Hamburg,
Schleusenbrücke beim Rathausmarkt
In den Jahren 1926 bis 1931 schuf Barlach neben dem Schwebenden Engel das Magdeburger Mal (1927-1929) sowie das Hamburger Ehrenmal (1931), darüber hinaus entstanden Entwürfe für Malchin und Stralsund, deren Ausführung durch den wachsenden Einfluss reaktionärer Kräfte jedoch verhindert wurde.

Literaturhinweise
Billstein, Heinrich: Ein Engel zuviel. In: DIE ZEIT vom 30. September 1988;
Brecht, Bertolt: Werke. Band 23. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1993;
Laudan, Ilona: Ein Engel für den Güstrower Dom. Zur Entstehungsgeschichte des Güstrower Ehrenmals. In: Piper, Reinhard: Vormittag. Mein Leben als Verleger. Piper Verlag, München 1991;
Probst, Volker (Hrsg.), Ernst Barlach – Das Güstrower Ehrenmal. Zum 60. Todestag von Ernst Barlach. E.A. Seemann Verlag, Leipzig 1998, S. 10-85.

(zuletzt bearbeitet am 8. Juni 2020)

Freitag, 10. Januar 2014

Kein Entrinnen, nirgends – Pieter Bruegel d.Ä. malt den „Bethlehemitischen Kindermord“


Pieter Bruegel d.Ä.: Der Bethlehemitische Kindermord (um 1564; originale, in Details übermalte Fassung);
Surrey, Hampton Court (für die Großansicht einfach anklicken) 
Pieter Bruegel d.J.: Der Bethlehemitische Kindermord (um 1564/66, Kopie); Wien, Kunsthistorisches Museum
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Das Neue Testament erzählt nur in einem einzigen Vers vom „Bethlehemitischen Kindermord“, und zwar in Matthäus 2,16 (LUT): „Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte.“ Pieter Bruegel d.Ä. (1525/30–1569), der bedeutendste niederländische Maler des 16. Jahrhunderts, hat für seine Darstellung dieses biblischen Ereignisses die Kulisse einer verschneiten flämischen Stadt gewählt. Man sieht weder Vegetation, noch Architektur, noch Gewänder, die auch nur einen Hauch des Vorderen Orients vermitteln könnten. Vermutlich unterscheidet sich kaum ein anderer Ort der Welt stärker vom historischen Bethlehem. Einzig der Stern im Schild des Gasthauses erinnert noch an die biblische Geschichte.
Dieser Stern ist jedoch nur in einer Kopie des Bildes von Pieter Bruegel d.J. zu sehen. Denn das Original von Bruegels Gemälde – es befindet sich in Hampton Court südwestlich von London – wurde in Details übermalt. Ein späterer Besitzer hatte die Szenerie als derart grausam empfunden, dass er viele der ermordeten Kinder durch Vögel und andere Motive ersetzen ließ. Offensichtlich glaubte dieser Eigentümer, „dass der Künstler das Thema zu blutrünstig dargestellt und dadurch das Decorum verfehlt habe“ (Müller 2009, S. 137). Die Fassung im Kunsthistorischen Museum Wien ist zwar später entstanden, zeigt uns aber den ursprünglichen Zustand des Bildes.
Mit äußerster Grausamkeit gehen die Soldaten gegen die Zivilbevölkerung vor. Die Schergen schleppen die Kinder vor den schwarzgekleideten Mann in der Bildmitte und massakrieren sie vor dessen Augen. Diese improvisierte Hinrichtungsstätte ist das eigentliche Zentrum des Gemäldes. Von hier geht der Befehl zur Tötung aus, hierher kehren die Häscher zurück, um die Morde auszuführen. Viele Kinder liegen bereits tot im Schnee und werden von ihren Müttern beweint.
Nicht Truthähne werden hier getötet, wie die Übermalung des Originals zeigt, sondern
Wickelkinder (für die Großansicht einfach anklicken)
Links vorn erkennt man eine junge Frau, die versucht, ihr Kind zu retten. Sie wird von einem Soldaten verfolgt, der schon das Schwert gezückt hat. Nicht er allerdings, sondern der Reiter, dessen Pferd nicht ohne Eleganz herangaloppiert, wird die Frau im nächsten Moment erreichen und niederstoßen, um das Kind zu töten. Freudig springt der Hund nebenher, als ginge es darum, ein Wild zu jagen. Unmittelbar rechts von dieser Szene kniet ein Mann nieder, um zwei Reiter um Gnade für die Kinder zu bitten. Ehrfürchtig hat er seine Mütze abgenommen. Doch die beiden rot gewandeten Offiziere nehmen den Mann gar nicht wahr oder ignorieren ihn schlicht.
Hilflos sind die Menschen den Soldaten ausgeliefert; überall im Bild treffen wir auf Verzweiflung und tiefe Niedergeschlagenheit, Fassungs- und Ratlosigkeit. Im Mittelgrund erkennt man auf der rechten Seite, wie ein Häscher in ein Haus eindringt, während eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm durch einen Seiteneingang zu fliehen versucht. Hier wartet jedoch schon ein weiterer Scherge, der diese Fluchtmöglichkeit offensichtlich vorausgesehen hat. Auf der gegenüberliegenden Seite ist ein aufgebrachter Mann zu sehen, der wohl auf den Henkersknecht vor ihm losgehen würde, hielten ihn seine Nachbarn nicht zurück. Unmittelbar daneben versucht ein Vater, seine kleine Tochter, auf die er mit dem linken Zeigfinger weist, gegen seinen Sohn, der gerade von einem Soldaten weggetragen wird, zu tauschen.
Immer aufs Neue hoffen wir, dass es doch wenigstens einer Mutter gelänge, den Mördern zu entkommen – um dann feststellen zu müssen, wie aussichtslos das ist. Das Dorf selbst wirkt dabei wie „ein großes optisches Gefängnis“ (Müller 2009, S. 142). Uns als Betrachter weist der gewählte Bildausschnitt einen distanzierten Standort zu: Es ist, als würden wir aus dem Fenster eines Hauses herunterschauen, das sich auf Höhe der gegenüberliegenden Dächer befindet. 
Die Häuser links und rechts der Straße rahmen das Geschehen und führen gleichzeitig in die Tiefe des verschlossenen Bildraums. Wie einer undurchdringlichen Phalanx sieht sich der Betrachter den schwerbewaffneten Lanzenreitern gegenüber, in deren Mitte der schwarzgekleidete Anführer auf seinem Pferd sitzt. Falls den Häschern aber doch ein Kind entwischen sollte, ist für diesen Fall auf der Brücke im Hintergrund eine berittene Wache aufgestellt. So kann man oberhalb des angebundenen Pferdes links eine Person erkennen, die versucht, sich mit einem Kind davonzuschleichen. Doch der Betrachter weiß, dass dies erfolglos sein wird, scheint man doch die Brücke passieren zu müssen ...
Selbst die Häuser bieten den Menschen kein Schutz vor den Soldaten, die nicht eher ruhen zu wollen scheinen, bis sie auch die letzten Kinder gefunden und umgebracht haben. Vorne rechts brechen finstere Gestalten auf Befehl ihres Hauptmanns in ein Haus ein, während eine andere Gruppe dabei ist, durch ein Fenster einzudringen. Dafür hat sie eigens ein Fass gegen die Hauswand gestellt, das als Tritt benutzt wird. Anders dagegen der große Spürhund im Vordergrund, der nur widerwillig seiner Aufgabe nachkommen will: Die Jagd auf Kinder scheint mit dem Instinkt des Tieres nicht vereinbar zu sein.
In der linken Bildhälfte erkennt man einen Reiter, der gegen eine Hauswand pinkelt, während ein Mann sein Pferd hält (ein Detail, das man übrigens auch in Bruegels Volkszählung zu Bethlehem findet; siehe meinen Post „Bethlehem in Flandern“). Das „dringende Bedürfnis“ des Soldaten hat dazu geführt, dass die bereits erwähnte fliehende Person im linken Hintergrund hat vorbeischlüpfen können. Doch schon im nächsten Moment wird sich dieser vermeintlich friedliche, von seinem Harndrang getriebene Mensch in einen Mörder zurückverwandeln.
Zu der Hinrichtungsszene in der Bildmitte gehören auch zwei Frauengestalten, von denen die eine im Klagegestus die Hände erhoben und die andere in ihrem Schmerz ihr Gesicht mit den Händen bedeckt. Sie gehören zum typischen Bildpersonal einer Kreuzigung. „Durch dieses Versatzstück aus der Kreuzigungsikonographie ergibt sich ein typologischer Hinweis für das Verständnis der Tafel, denn die Kinder werden dadurch zu Protomärtyrern erklärt und weisen auf das Martyrium Christi voraus“ (Müller 1998, S. 287). Auch bei den Reitern mit den aufgerichteten Lanzen kann man an eine Kreuzigungsszene denken.
In der kunsthistorischen Forschung ist der Bethlehemitische Kindermord von Bruegel immer wieder mit der spanisch-habsburgischen Fremdherrschaft in den südlichen Niederlanden in Verbindung gebracht worden. Dabei wurde der schwarze Anführer im Zentrum des Bildes mit Herzog Alba gleichgesetzt, der seit 1567 Statthalter in den habsburgischen Niederlanden war und dort ein Terrorregime errichtete. Damit begann ein über 80 Jahre andauernder Befreiungskrieg. Der jugendliche Bote rechts, um dessen Pferd sich mehrere Bewohner scharen, trägt den Habsburger Doppeladler auf seiner Brust – ein eindeutig zeitgeschichtlicher Hinweis. Der Doppeladler findet sich auch am Dachfirst des Hauses, das auf der vertikalen Bildachse platziert ist. Keine Frage: Bruegel bezieht mit seinem Bild eindeutig Partei gegen die brutalen Besatzer und Unterdrücker.

Literaturhinweise
Gräf, Christian: Die Winterbilder Pieter Bruegels d.Ä. Jahreszeitliche Erscheinungen des Winters als Bedeutungs- und Stimmungsträger. VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2009;
Müller, Jürgen: Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. am Beispiel seiner Darstellung des Bethlehemitischen Kindermordes. In: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 8 (1998), S. 273-296;
Müller, Jürgen: Spuren im Schnee – Anmerkungen zu zwei „Winterbildern“ Pieter Bruegels d.Ä. In: Kirsten Kramer/Jens Baumgarten (Hrsg.), Visualisierung und kultureller Transfer. Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 2009, S. 133-150;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 9. Juni 2020)