Freitag, 26. Oktober 2012

Robert Graves: Zorniger Simson

Giambologna: Samson erschlägt einen Philister (um 1562, Marmor),
London, Victoria & Albert Museum


Angry Samson

Are they blind, the lords of Gaza
In their strong towers,
Who declare Samson pillow-smothered
And stripped of his powers?

O stolid Philistines, 
Stare now in amaze
At my foxes running in your cornfields
With their tails ablaze,

At swung jaw-bone, at bees swarming
In the stark lion's hide,
At these, the gates of well-walled Gaza
A-clank to my stride.

Robert Graves



Zorniger Simson

Sind sie blind, die Herren von Gaza,
In ihren Befestigungen,
Die Simson in Kissen verschmachtet wähnen,
Die Kräfte ihm angedrungen?

O stumpfsinnige Philister,
Glotzt und staunt nur jetzt,
Wie meine Füchse in eure Kornfelder rennen,
Die Schwänze in Brand gesetzt.

Wie der Kinnbacken drischt, wie der Bienenschwarm
An den Löwenkadaver geriet,
Wie hier die Tore des wehrhaften Gaza
Scheppern vor meinem Schritt.

Robert Graves
(übersetzt von Wolfgang Held)

Dienstag, 23. Oktober 2012

Paulus am Boden – Caravaggio in der Cerasi-Kapelle von Santa Maria del Popolo (1)

Caravaggio: Die Bekehrung des Paulus (2. Fassung, um 1604); Rom, Santa Maria del Popolo, Cerasi-Kapelle
Zwischen Juli 1599 und Juli 1600 malte Caravaggio für die Seitenwände der Contarelli-Kapelli in San Luigi dei Francesi (Rom) Die Berufung des Matthäus (siehe meinen Post Heimgeleuchtet“) und Das Martyrium des Matthäus (siehe meinen Post Mord am Altar“) – zwei Gemälde, die ihn mit einem Schlag berühmt machten. Kaum hatte Caravaggio diesen ersten großen Auftrag beendet, als im September 1600 ein neuer Vertrag für ein öffentlich zugängliches Werk mit ihm abgeschlossen wurde. Für die Familienkapelle des Tiberio Cerasi, Schatzmeister von Papst Clemens VII., sollte er in Santa Maria del Popolo erneut zwei Wandgemälde ausführen: eine Bekehrung des Paulus und eine Kreuzigung Petri. Für das Altarbild mit der Himmelfahrt Mariens und die Deckenfresken wurde Annibale Carracci verpflichtet. Die Kirche befindet sich am stadtauswärts gelegenen Ende der Piazza del Popolo. Die relativ schmale und langgestreckte Cerasi-Kapelle liegt im linken Querschiff auf der rechten Seite.
Caravaggio: Die Bekehrung des Paulus (1. Fassung; 1600/01), Rom, Sammlung Odescalchi
(für die Großansicht einfach anklicken)
Zunächst fertigte Caravaggio zwei Gemälde auf Holz an (so war es im Vertrag vorgesehen), die jedoch niemals in der Kapelle angebracht wurden. Eines davon, Die Bekehrung des Paulus (Apostelgeschichte 9,1-22), befindet sich heute in der römischen Privatsammlung Odescalchi. Caravaggio hat hier eine eng gedrängte Figurengruppe in eine landschaftliche Szenerie gesetzt (eine der wenigen, die er überhaupt gemalt hat). Die Macht des gleißenden Lichts hat Paulus zu Boden gerissen, schützend hält er sich beide Hände vor die Augen. Von rechts oben schwebt die von einem Engel begleitete Gestalt Christi mit ausgestreckten Armen auf ihn zu; „a gesture of acceptance and exhortation rather than a reprimand against the former persecutor of Christians“ (Pericolo 2011, S. 249). Ungewöhnlich an Caravaggios Gemälde ist nicht, dass Christus im Bild erscheint, sondern vielmehr seine physische Präsenz, die unmittelbare, jede Trennung zwischen himmlischer und irdischer Sphäre negierende Interaktion“ (Schütze 2009, S. 110).
Es ist eine unübersichtliche Komposition, aber Jutta Held vermutet, dass weniger ästhetische als theologische Bedenken ausschlaggebend für die Ablehnung des Bildes waren, nämlich die „respektlose Nähe, in die Caravaggio den römischen Krieger zu Christus im Himmel gesetzt hat, der sich sogar anschickt, mit Schild und Lanze gegen die Himmelserscheinung vorzugehen; ferner die heftige Geste, mit der Paulus den Anruf Christi abwehrt“ (Held 2007, S. 98). Der Widerstand des Paulus gegen die göttliche Gnade sei wohl „allzu entschieden“ ausgefallen; für den Gründungsapostel der katholischen Kirche habe man wahrscheinlich eine deutlichere Bejahung seiner Mission erwartet.
Sybille Ebert-Schifferer hält es für wahrscheinlicher, dass die Raumsituation in der Kapelle Caravaggio dazu bewog, eine zweite Fassung der Bekehrung des Paulus anzufertigen. Details des ersten Bildes wie die akribisch gemalten Pflanzen oder die ferne Landschaft im Morgenlicht seien nur aus der Nähe zu goutieren. „Den Zusammenhang der Komposition wahrzunehmen, gelingt allerdings erst aus einer Entfernung, welche die Enge der Kapelle nicht gestattet; angesichts der Höhe der Anbringung hätte der Betrachter kaum mehr als die Figur des Saulus gut sehen können“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 137).
Sebastian Schütze bietet noch eine weitere Erklärung für Caravaggios Neufassung: Die erste Version seines Bildes sei offensichtlich für die linke Seitenwand der Kapelle bestimmt gewesen. „Darauf weisen unmissverständlich die Komposition und die Lichtführung ebenso wie die sich von rechts oben nach links unten entwickelnde Narration hin“ (Schütze 2009, S. 110). Nur auf der linken Seitenwand hätte das Gemälde den Darstellungskonventionen eines Sakralraums entsprochen. Christus hätte sich dann, entlang der vom göttlichen Licht betonten Diagonalen, aus der himmlischen Sphäre und vom Altar her kommend auf den in Richtung Kirchenraum zurückweichenden Paulus zubewegt. „Da es im päpstlichen Rom, zumal in der Kapelle des päpstlichen Schatzmeisters, zwingend erscheinen musste, dem heiligen Petrus die hierarchisch höher stehende Evangelienseite zuzuweisen, verständigten sich Caravaggio und seine Auftraggeber auf die Ausführung der zweiten Fassungen, zumal der Maler vielleicht bereits einen Käufer für die ersten Bilder in Aussicht hatte“ (Schütze 2009, S. 110).
Raffael: Bekehrung des Paulus, Wandteppich; Kartons von Raffael (1515/16), Teppich von Pieter van Aelst (1517-19),
Rom, Vatikanische Museen
Für die erste Fassung der Bekehrung des Paulus hat sich Caravaggio unter Umständen von einem Teppichentwurf Raffaels anregen lassen. Die Haltung des am Boden liegenden Paulus und die von Christus sind vergleichbar; „Caravaggio took up the attitude of Raphaels Saul by turning it nearly upside down, and by inverting the posture of his legs: the right stretched, the left bent, with which a fallen sword also happens to rhyme in the tapestry“ (Pericolo 2011, S. 258). Raffaels Paulus akzeptiert jedoch ergeben den göttlichen Anruf, zudem erscheint die himmlische Gruppe in weit größerem Abstand. 
Die Cerasi-Kapelle in Santa Maria del Popolo: links Caravaggios Kreuzigung Petri, rechts seine Bekehrung des Paulus; das Altarbild stammt von Annibale Carracci
In seiner Neufassung (diesmal auf Leinwand) hat Caravaggio Figurenzahl und Details dann radikal reduziert; er zeigt nur noch die Lichterscheinung, aber nicht mehr Christus. In vorderster Bildebene liegt, die ganze Breite des Gemäldes einnehmend, der rücklings zu Boden geworfene, erblindete Paulus. Links und rechts von ihm sind Schwert und Helm zu sehen. Er ist von göttlichem Licht getroffen, das ihn innerlich erleuchtet, geradezu erglühen lässt und dem er sich mit weit geöffneten Armen ergibt. Die Quelle dieses Lichts ist nicht erkennbar. 
Paulus wird von Caravaggio nun erheblich jünger, bartlos und in kühner Verkürzung wiedergegeben. Statt des edlen, sich aufbäumenden Schimmels hat er ein schweres, geschecktes Pferd mit gesenktem Kopf gemalt, das fast vollständig die obere Bildhälfte einnimmt. Es hebt ruhig und behutsam den Huf, um seinen Herrn nicht zu verletzen. Aus dem kampfbereiten greisen Soldaten mit dem Halbmond auf seinem Schild – wir befinden uns ja in der Nähe von Damaskus! – wird ein einfacher, unbeteiligt wirkender alter Mann mit bloßen Beinen, der das Pferd am Zaumzeug führt und ihm beruhigend die Hand auf die Nüstern legt. Caravaggio verlegt das Geschehen von der Landschaft in einen Stall – das Ross ist noch gar nicht gesattelt. Auch Pferd und Reitknecht werden von dem Licht gestreift, sind also von dem Gnadenereignis nicht ausgeschlossen. Für den perspektivisch von schräg rückwärts gesehenen Gaul hat Caravaggio übrigens auf Albrecht Dürers Kupferstich Das Große Pferd von 1505 zurückgegriffen (siehe meinen Post Dürers Pferde“) .
Albrecht Dürer: Das Große Pferd (1505), Kupferstich
In der ersten Fassung hatte die Wucht des Ereignisses noch einen ganzen Ast abbrechen lassen. Panik und Schrecken sind jetzt einer mystischen Stimmung gewichen. Vor allem aber ist die Figur Christi verschwunden. Seine Nähe und die Wirkung seiner Worte (Saul, Saul, was verfolgst du mich?“, Apostelgeschichte 9,4; LUT) werden nur durch das dramatisch einfallende Licht veranschaulicht. Was hier Bedeutsames passiert, spielt sich allein in Paulus ab. So viel steht fest: Die temporäre Erblindung steht sinnbildlich für seine frühere spirituelle Blindheit. Aber als Betrachter können wir nur ahnen, was in dem Apostel vor sich geht: Es ist ein Sehen bei gleichzeitiger physischer Blindheit“ (Oy-Marra 2013, S. 295). Wohl kein Maler vor Caravaggio und zu seiner Zeit hat die religiöse Erweckung derart radikal als ein subjektives, inkommensurables, empirisch nicht faßbares Geschehen gedeutet, das lediglich den einzelnen betrifft“ (Held 2007, S. 101). In Raffaels Wandteppich liegt der Bekehrte zwar ebenfalls am Boden, wendet sich aber mit vollem Bewusstsein der himmlischen Erscheinung zu. Damit verdeutlicht er seine innere Zustimmung zur Berufung durch Christus. Dass der Mensch sich frei entscheiden kann, war für die Humanisten der Renaissance von größter Bedeutung, damit begründeten sie seine besondere Würde. Caravaggio dagegen betont die Ergebenheit des von Gott überwältigten und erwählten Paulus, der die himmlische Gnade mit ausgestreckten Armen empfängt. Der freie Wille und die eigene Entscheidung spielen bei dieser Bekehrung keine Rolle.
Für Caravaggio-Fans ein Must: Santa Maria del Popolo in Rom

Literaturhinweise
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage);
Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson, London 1983, S. 121-132; 
Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. Wilhelm Fink Verlag, München 2001, S. 273-274;
Pericolo, Lorenzo: „Completely Bereft of Action“: Narrative Blindness and the Heroic Horse in the Cerasi Conversion of Saint Paul. In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers, Turnhout 2011, S. 243-263 
Oy-Marra, Elisabeth: Die Konversion des Saulus/Paulus am Beispiel Parmigianinos, Michelangelos und Caravaggios. In: Ricarda Matheus u.a. (Hrsg.), Barocke Bekehrungen. Konversionsszenarien im Rom der Frühen Neuzeit. transcript Verlag, Bielefeld 2013, S. 279-299;
Racco, Tiffany A.: Darkness in a Positive Light: Negative Theology in Caravaggio’s Conversion of Saint Paul. In: artibus et historiae 73 (2015), S. 285-298
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2009, S. 105-111;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 1. Oktober 2020)

Donnerstag, 18. Oktober 2012

Der Pinselstrich zeigt die Persönlichkeit – Rembrandts Bildnis des Jan Six (1654)

Rembrandt: Bildnis des Jan Six (1654); Amsterdam, Six Collection (für die Großansicht einfach anklicken)
Wenn ein Porträt von Rembrandt in der kunsthistorischen Literatur geradezu bejubelt wird, dann das von Jan Six (1654 entstanden). Simon Schama hält es für das bedeutendste Bildnis des 17. Jahrhunderts (Schama 2000, S. 578). Grund für diese Begeisterung ist zum einen die äußerst lockere Malweise: Sie lässt sich besonders gut an den goldenen Tressen des roten Mantels erkennen, die Rembrandt nur mit Tupfen und breiten Pinselstrichen in dünn aufgetragener gelber Farbe ausgeführt hat. Doch auch die Manschetten und Handschuhe sind mit einer scheinbar achtlosen Lässigkeit gemalt, die an die besten Arbeiten von Frans Hals (1582–1666) erinnert.
Frans Hals: Willem Coymans (1645); Washington D.C., National Gallery of Art
Rembrandt hat Jan Six (1618–1700) beim Anziehen seiner Handschuhe verewigt, wodurch das Porträt wie eine Momentaufnahme wirkt. Der locker auf der Schulter liegende Mantel verstärkt den flüchtigen Charakter des beinahe quadratförmigen Bildes. Jan Six steht aufrecht vor uns, eine lebensgroße, als Kniestück wiedergegebene Gestalt vor dunklem, nicht näher bestimmbaren Hintergrund. Seine Position ist gegenüber dem Betrachter leicht erhöht, der Kopf etwas nach vorne und nach rechts gebeugt – eine durchaus ungewöhnliche Pose für ein holländisches Porträt des 17. Jahrhunderts: „Usually, when the portrayed person is standing, the head is also held up, giving the figure a significance of pride or arrogance, as in the portraiture of Frans Hals or Van Dyck“ (Freedman 1985, S. 92). Am sorgfältigsten hat Rembrandt das Gesicht des Porträtierten ausgearbeitet: Von rotbraunen Locken gerahmt, ist es besonders gekennzeichnet durch die lange gerade Nase, die in verschiedene Richtungen blickenden dunklen Augen sowie das breite, von tiefen Falten umgebene Kinn.
Der Vater von Jan Six hatte sein Vermögen in der Seiden- und Tuchindustrie erworben – er starb allerdings zwei Monate vor der Geburt seines Sohnes. Nach dem Tod ihres Mannes führte die Mutter den Familienbetrieb mit fester Hand weiter. Die Einkünfte daraus und die Investitionen in Immobilien machten sie und ihre Kinder zu einer der reichsten Familien von Amsterdam. Jan Six selbst studierte an der Universität Leiden die vrije kunsten, die Freien Künste, hielt sich aber abseits vom Familienbetrieb. Seit 1656 war er Mitglied des Amsterdamer Stadtrates, 1691 wurde er zum Bürgermeister ernannt.
Rembrandt: Bildnis des Jan Six (1647); Radierung
Rembrandt muss seinen Auftraggeber recht gut gekannt haben, die beiden Männer waren wohl miteinander befreundet. Der älteste Beleg für den Kontakt zwischen ihnen ist ein Porträt von Jan Six, das Rembrandt 1647 radierte, also sieben Jahre vor unserem Gemälde: Der noch junge Mann lehnt ganzfigurig an der Fensterbrüstung und liest im Tageslicht ein Manuskript. Die Dokumente auf dem Stuhl im Vordergrund, das Wandgemälde sowie Degen und Schultergurt verweisen auf die verschiedenen Facetten von Six’ Leben: sein wissenschaftliches Interesse, seine Kunstsammlung und seine Mitgliedschaft in
 der Bürgerwehr. Die Auswahl der Bilddetails ist alles andere als zufällig und wahrscheinlich in gemeinsamer Beratung mit dem Künstler erfolgt.
In dem 1654 gemalten Porträt in Dreiviertelansicht jedoch wurde auf jegliches Beiwerk verzichtet. Fast das gesamte linke Drittel der Leinwand ist lediglich mit dick aufgetragenem Schwarz bedeckt, aus dem Jan Six hervortritt. Nichts scheint ausdrücklich auf die Persönlichkeit oder den sozialen Hintergrund des Dargestellten hinzuweisen. Doch es ist die von Jan Six eingenommene Pose, die ihn deutlich charakterisiert: Einer der von ihm bevorzugten Autoren war der Italiener Baldassare Castiglione (1478–1529). Der erläutert in seinem 1528 veröffentlichten und viel gelesenen Handbuch Il Cortegiano („Das Buch vom Hofmann“), das der ideale Höfling vor allem sprezzatura besitzt. Damit meint er eine natürlich wirkende Nonchalance sowie die Fähigkeit, Anstrengungen als mühelos erscheinen zu lassen. In der Bibliothek von Jan Six befanden sich mehrere Ausgaben dieses Buches. „Die Entscheidung, sich bei einer informellen, alltäglichen Beschäftigung wie dem Anziehen von Handschuhen porträtieren zu lassen und durch Pose und Blick den Eindruck zu erwecken, als habe der Maler ihn dabei überrascht, kann ganz im Sinne des Begriffes der Sprezzatura aufgefasst werden“ (van der Ploeg 2007, S. 202). Schama betont nachdrücklich den Zusammenhang zwischen diesem Konzept und der scheinbar legeren Malweise Rembrandts: „Das größte Kompliment, das Rembrandt seinem Förderer erweisen konnte, war jedoch, die Farben so auf die Leinwand zu bringen, dass sie den Anschein von reiner sprezzatura erweckte, wodurch alle genau kalkulierten Effekte in der Verkleidung eleganter Spontaneität erschienen, genau wie Castiglione es verlangt hatte“ (Schama 2000, S. 580). Der Pinselstrich entspricht der Persönlichkeit der dargestellten Figur.
Raffael: Bildnis des Baldassare Castiglione (1514/15); Paris, Louvre
Um 1650 war es in Holland üblich, dass Männer, die in ihrer öffentlichen Rolle als Regierungsbeamter, Händler, Geistlicher oder Vertreter eines anderen Amtes porträtiert wurden, dezent in Schwarz gekleidet gingen. Die auffällige rote Farbe von Jan Six’ französischem Mantel verweist daher ausdrücklich darauf, dass er hier als Privatperson wiedergegeben ist. Unter diesem roten Umhang und über einem gelben Wams trägt er einen knielangen Reitrock bzw. einen Kasack aus derbem Wollstoff. Vermutlich sollte damit auf das Reiten und Jagen als Zeitvertreib der höheren Klassen hingewiesen werden – Aktivitäten, die nach Castigliones Ideal ebenfalls zum Leben eines perfekten Gentlemans gehören. 
Jan Six salopp getragene, vor allem aber praktische Kleidung zeigt ihn als Mann, für den weniger Status als vielmehr Geist und Kultur entscheidenden Stellenwert besitzen. Denn Jan Six war begeistert von Kunst und Literatur und richtete sein Leben so ein, dass sie eine bestimmende Rolle darin spielen konnten. Auch hier ähnelt er Castigliones Idealbild eines perfekten Höflings: ein Kunstliebhaber, der mehrere Sprachen spricht, hoch gebildet und sein Leben dem Studium widmend; zugleich ein Mann von Welt und auch ein Gentleman, ebenso aber auch ein guter Soldat und Reiter. Ein entscheidendes Element in Castigliones Beschreibung bildet die ausgewogene Balance zwischen dem geistigen und dem aktiven, dem inneren und dem äußeren Leben, der vita contemplativa und der vita activa.
Rembrandt: Aristoteles vor der Büste des Homer (1653); New York, Metropolitan Museum of Art
Luba Freedman hat das gesenkte Haupt und den nachdenklichen, eigentlich nach innen gerichteten Blick des Jan Six mit Rembrandts Bild Aristoteles vor der Büste des Homer in Verbindung gebracht (1653; siehe meinen Post Antikes Dreigestirn“). Dort ist der antike Philosoph mit ähnlich gebeugtem Kopf dargestellt. „Jan Six’s shadowy face with dark almond-shaped downcast eyes and sallow complexion is characteristic of a man deeply melancholic“ (Freedman 1985, S. 103/105). Seit Aristoteles die Frage gestellt hatte, warum alle herausragenden Menschen, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, Melancholiker seien, galt die Melancholie als Temperament der Denker und „Kreativen“. Jan Six dürfte daher mit Rembrandts Charakterisierung sehr einverstanden gewesen sein.

Literaturhinweise
Alpers, Svetlana: Rembrandt als Unternehmer. Sein Atelier und der Markt. DuMont Buchverlag, Köln 1989, S. 202-203;
Dickey, Stephanie S.: Rembrandt: Portraits in Print. John Benjamins Publishing Company, Amsterdam/Philadelphia 2004, S. 115-119;
Freedman, Luba: Rembrandt’s Portrait of Jan Six. In: artibus & historiae 12 (1985), S. 89-105;
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000;
van der Ploeg, Peter: Porträt des Jan Six, 1654 (Nr. 57). In: Rudi Ekkart/Quentin Buvelot (Hrsg.), Holländer im Porträt. Meisterwerke von Rembrandt bis Frans Hals. Belser Verlag, Stuttgart 2007.

(zuletzt bearbeitet am 29. März 2022)

Sonntag, 14. Oktober 2012

Eisiges Schweigen – Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“

Caspar David Friedrich: Der Mönch am Meer (1809/10); Berlin, Alte Nationalgalerie, restauriert von 2013-2015
(für die Großansicht einfach anklicken)
Über einem schmalen, sandigen Küstenstreifen mit der einsamen Gestalt eines Eremiten und einem dahinter sich ausdehnenden Meer breitet sich, vier Fünftel der Bildhöhe einnehmend, eine zerfetzte, oben ins Blau sich öffnende Wolkenwand aus. Die gerade, ungewöhnlich tief liegende Horizontlinie wird durch nichts unterbrochen, nur einige Möwen umflattern den Einsiedler, der gedankenversunken seinen Kopf in die Hand stützt. „Seine Silhouette hebt sich halb vor dem Strand, halb vor dem Meer ab, damit beiden zugeordnet, zugleich aber auch, verglichen mit den Schaumkronen oder dem Gras, keinem dieser Bereiche fest verbunden“ (Börsch-Supan 1965, S. 64). Eine Zone, wo die Wellen an den Strand spülen, gibt es nicht. Caspar David Friedrich (1774–1840) zeigt das Meer als Element, das wie durch einen Abgrund vom betretbaren Boden getrennt ist.
In einem Brief von vermutlich 1810 oder Anfang 1811 erklärt Friedrich zu seinem Seestük genannten Bild, im Vordergrund finde sich „ein öder sandiger Strand, dann, das bewegte Meer, und so die Luft. Am Strandte geht Tiefsinnig ein Mann, im schwarzen Gewande; Möfen fliegen ängstlich schreient um ihn her, als wollten sie Ihm warnen, sich nicht auf ungestümmen Meer zu wagen. – Dies war die Beschreibung, nun kommen die Gedanken: Und sännest Du auch vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zur sinkenden Mitternacht; dennoch würdest du nicht ersinnen, nicht ergründen, das unerforschliche Jenseits! Mit übermüthigen Dünkel, wennest [wähnst] du der Nachwelt ein Licht zu werden, zu enträzlen der Zukunft Dunkelheit! Was heilige Ahndung nur ist, nur im Glauben gesehen und erkannt; endlich klahr zu wissen und zu Verstehn! Tief zwar sind deine Fußstapfen am öden sandigen Strandte; doch ein leiser Wind weht darüber hin, und deine Spuhr wird nicht mehr gesehen: Thörigter Mensch voll eitlem Dünkel!“ (Zimmermann 2000, S. 213).
Während der monatelangen Arbeit an diesem Gemälde – bis dahin das größte Friedrichs (110 x 171,5 cm) – hat der Maler die dargestellten Gegenstände immer mehr reduziert und so die Bildaussage immer weiter radikalisiert: Am Himmel verschwinden der Mond und der Morgenstern, auf dem Meer werden zwei Segelschiffe übermalt. Als das Bild 1810 in Berlin gezeigt wurde, hat der Dichter Heinrich von Kleist die Kühnheit des Gemäldes erkannt und kongenial beschrieben. Er arbeitete einen Text seines Kollegen Clemens Brentano radikal um und veröffentlichte ihn unter dem Titel Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft in den „Berliner Abendblättern“. Dort heißt es: „Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunct im einsamen Kreis. Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnißvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da (...), und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob Einem die Augenlieder weggeschnitten wären“ (Brinkmann 1981, S. 181). In seiner legendären Bildbeschreibung bezeichnete Kleist übrigens die dunkel gewandete Figur als Kapuziner und legte damit den Grundstein für die seither gängige Interpretation des Mannes als Mönch.
Ohne Mond und Boote ist nichts mehr geblieben, das die Gedanken des einsamen Alten am Ufer ablenken könnte von der Unendlichkeit, die ihn umgibt und der er ohnmächtig ausgeliefert ist. Diese winzige Figur verkörpert „Abgeschiedenheit von allem: von Kultur und Zivilisation, von geschichtlich näher bestimmbaren Zusammenhängen, von menschlicher Gemeinschaft, ja, von jeglichem organischen oder nennenswerten pfanzlichen Leben“ (Traeger 1979, S. 104). Es ist diese kleine Gestalt – die einzige Andeutung einer Vertikalen –, die uns geradewegs in Friedrichs Bild hineinzieht. „... und so ward ich selbst der Kapuziner“, schrieb Kleist. Durch ihn und wie er sind wir mit der Landschaft konfrontiert, erfassen wir die gewaltigen Größenverhältnisse der Natur, spüren wir, wie klein und wehrlos, wie verlassen der Mensch in der unfassbaren Weite des Universums ist.
„Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.
 Blaise Pascal
Der von spärlichem Gras bewachsene Streifen Strand, auf dem der Eremit sich aufhält, schrumpft geradezu zum Nichts zusammen, wenn man ihn mit der verzehrenden Größe des Himmelsraumes vergleicht. Denn dieses Bild endet nicht mit dem Rahmen. Strand, Meer, Horizontlinie gehen zu beiden Seiten endlos weiter, und auch die Wand des Himmels wächst noch höher hinauf — wie hoch? So findet sich der Mensch im Kosmos vor: allein und verloren, gefangen auf einer Erdenwüste, dem Tode preisgegeben – wahrhaft beklemmende Empfindungen, die Friedrich hier meisterhaft gestaltet.
Noch heute kann das Bild die existenzielle Erschütterung auslösen, die Kleist angesichts des Gemäldes empfunden hat: Der grenzenlosen Weite dieses Raumes ausgesetzt, wird der Mensch sich seiner Nichtigkeit bewusst; ein vergängliches, bedeutungsloses Wesen, steht er den unbegreiflichen, bedrohlichen Ausmaßen eines Kosmos gegenüber, der auf seine Fragen nur mit einem ewigen, eisigen Schweigen zu antworten scheint.
Caspar David Friedrich: Abtei im Eichwald (1809/10); Berlin, Alte Nationalgalerie (für die Großansicht einfach anklicken)
Friedrich hat den Mönch am Meer zusammen mit einem Gegenstück gemalt, der Abtei im Eichwald (siehe meinen Post Das Geheimnis des Grabes). Das mag verwundern, weil die beiden Bilder im formalen Aufbau sehr verschieden sind. Friedrich reichte sie 1810 verspätet zur Berliner Akademie-Ausstellung ein, wo sie von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen auf Veranlassung des damals fünfzehnjährigen Kronprinzen gekauft wurden. Im Katalog waren die beiden Gemälde unter einer Nummer mit dem schlichten Titel Zwei Landschaften verzeichnet.

Literaturhinweise
Begemann, Christian: Brentano und Kleist vor Friedrichs Mönch am Meer. Aspekte eines Umbruchs in der Geschichte der Wahrnehmung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 89-145;
Börsch-Supan, Helmut: Bemerkungen zu Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 19 (1965), S. 63-76;
Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrichs Landscapes with Self-Portraits. In: The Burlington Magazine 114 (1972), S. 620-630;
Brinkmann, Bodo: Zu Heinrich von Kleists „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 44 (1981), S. 181-187;
Burwick, Roswitha: Verschiedene Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft: Arnim, Brentano, Kleist. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 107 (1988), S. 33-44;
Cibura, Sabine: Die übermalten Schiffe in Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“. Neue Erkenntnisse nach der Restaurierung des Gemäldes in der Alten Nationalgalerie Berlin. In: Deutsches Schiffahrtsarchiv 38 (2015), S. 381-391;
Illies, Florian: Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, S. 107-111;
Janz, Rolf-Peter: Mit den Augen Kleists: Caspar David Friedrichs Mönch am Meer. In: Kleist-Jahrbuch 2003, S. 137-149;
Meyertholen, Andrea: On Heinrich von Kleist, Caspar David Friedrich, and the Emergence of Abstract Art. In: The German Quarterly 86 (2013), S. 404-420;  
Mösl, Kristina: Friedrich Preißler Raffael. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Mönchsfigur in Caspar David Friedrichs Mönch am Meer. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 74 (2020), S. 121-130; 
Noll, Thomas: Die allegorische Landschaft bei Caspar David Friedrich. Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 72 (2011), S. 281-296;
Scholl, Christian: Bildobjekt und Allegorie – Caspar David Friedrichs Selbstdeutungen zu „Mönch am Meer“, „Abtei im Eichwald“ und „Tetschener Altar“. In: Susanne H. Kolter u.a. (Hrsg.), Forschung 107. Kunstwissenschaftliche Studien Band 1. Herbert Utz Verlag, München 2004, S. 85-122;
Traeger, Jörg: Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich. In: Hamburger Kunsthalle (Hrsg.), Runge. Fragen und Antworten. Ein Symposion der Hamburger Kunsthalle, Prestel-Verlag, München 1979, S. 96-114;
Zimmermann, Jörg: Bilder des Erhabenen – Zur Akualität des Diskurses über Caspar David Friedrichs Mönch am Meer. In: Wolfgang Welsch/Christine Pries (Hrsg.), Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-François Lyotard. VCH, Weinheim 1991, S. 107-127;
Zimmermann, Reinhard: Das Geheimnis des Grabes und der Zukunft. Caspar David Friedrichs Gedanken in den Bilderpaaren. In: Jahrbuch der Berliner Museen 42 (2000), S. 187-257.

(zuletzt bearbeitet am 14. März 2024)