Samstag, 6. Oktober 2012

Den Finger in die Wunde legen – „Der ungläubige Thomas“ von Caravaggio



Caravaggio: Der ungläubige Thomas (um 1600); Potsdam, Bildergalerie von Schloss Sansscouci
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Thomas ist der große Zweifler unter den Jüngern Jesu. Er kann nicht glauben, dass Jesus wirklich leibhaftig auferstanden ist. Er will seinen Herrn berühren, anfassen, betasten – sonst bleibt das Unvorstellbare für ihn unfasslich. Als Christus den Jüngern nach seiner Kreuzigung und Grablegung erneut erscheint, spricht er zu Thomas: „Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ (Johannes 20,27; LUT) Das ist der Moment, den Caravaggio in seinem um 1600 entstandenen Gemälde darstellt. Aber statt dieses Ereignis in einer repräsentativen Darstellung zu feiern, gleicht Caravaggios Bild „einer mysteriösen Verschwörung, in welcher der auferstandene Jesus mit seinen drei Jüngern, von prosaischer Alltäglichkeit und Alter gezeichnet, die Köpfe zusammensteckt“ (Suthor 2003, S. 267).
Caravaggio: Kreuzigung Petri (1601), Rom, Santa Maria del Popolo/Cerasi-Kapelle; der Blick Christi auf Thomas’
Finger in seiner Seitenwunde ähnelt der Reaktion des gekreuzigten Petrus, der seine an das Querholz genagelte
linke Hand ansieht
Christus nimmt die linke Bildhälfte ein. Sein dunkel gelockter Kopf und sein Hals sind stark vorgebeugt, Antlitz und die darunter liegende Brustpartie werden durch diese Haltung verschattet; die Wange ist gerötet, der Mund leicht geöffnet. Thomas und zwei andere Apostel drängen von rechts heran, sodass sein Kopf und der Schädel eines zweiten Jüngers die Mittelachse des Bildes betonen. Christus selbst führt dem Zweifler die Hand, mit dem ausgestreckten Zeigefinger bohrt er geradezu in der Seitenwunde, als könne tatsächlich nur der Tastsinn letzte Gewissheit vermitteln. Angespannt ist die Aufmerksamkeit der vier Männer auf diesen Vorgang gerichtet, „bei dem es sich fast um eine naturwissenschaftliche oder medizinische Untersuchung zu handeln scheint“ (Held 2007, S. 63). 
Alles ist auf die Seitenwunde konzentriert, alles Überflüssige weggelassen. Das Licht fällt auf den sein Grabtuch wie eine Toga tragenden Christus und auf die Hand, mit der er Thomas geradezu zur Berührung nötigt. Glenn W. Most sieht in Jesu linker Hand das eigentliche „Energiezentrum des Bildes“: sie hat Thomas’ Rechte am Gelenk gepackt „und hält sie mit männlich, ja übermenschlich kräftigem Griff, der in scharfem Kontrast zu Jesu zarter Konstitution steht“ (Most 2007, S. 209). Behutsam zieht Christus sein Gewand zur Seite; sein Mund deutet an, dass die Berührung der Wunde schmerzt. Denn Thomas’ Finger scheint dort langsam immer tiefer einzudringen. Dabei bildet wiederum seine sonnenverbrannte, derbe Hand mit dem schmutzigen, schwarzgeränderten Daumennagel einen deutlichen Kontrast zur weichen, hellen Haut des Auferstandenen. Das ist so naturalistisch geschildert, dass sich die Haut oberhalb des in die Seitenwunde eindringenden Fingers faltig aufwirft.
Die Geste des Handführens ist nicht Caravaggios Erfindung; bereits Dürer hatte sie im themengleichen Holzschnitt seiner Kleinen Passion von 1511 eingeführt. Allerdings ist Christus dort eindeutig als der Auferstandene dargestellt: Das Haupt von einem Strahlenkranz hinterfangen, mit einem athletischen Idealkörper versehen und in den Bildmittelpunkt gerückt, erscheint Christus vor seinen Jüngern. Caravaggio hingegen vermeidet alle Anzeichen von Göttlichkeit – so fehlt z. B. der Segensgestus, den wir auf Dürers Holzschnitt sehen und der auch die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio kennzeichnet (Florenz, Orsanmichele; siehe meinen Post Reiche deinen Finger her!).
Lorenzo Pericolo sieht in Verrocchios Skulptur dennoch eine mögliche Inspirationsquelle für das Potsdamer Gemälde – auch wenn es keinerlei Beleg dafür gibt, dass Caravaggio sich je in Florenz aufgehalten hat. So sei z. B. die linke Hand des Orsanmichele-Christus der Rechten des Auferstandenen in Caravaggios Bild sehr ähnlich: „not only do both hands accomplish an identical action by pulling aside the drapery that covers the side wound, but also, in both cases, the uppermost parts of the fingers dissappear from view so that only the knuckles slightly protrude and press the chest“ (Pericolo 2011, S. 461/462). Auch die herabfallenden Locken Jesu erinnern, so Pericolo, an die Haarpracht von Verrocchios Statue.
Albrecht Dürer: Der ungläubige Thomas; Holzschnitt aus der „Kleinen Passion“ (1511)
Andrea del Verrocchio: Der ungläubige Thomas (um 1470-1479); Florenz, Orsanmichele
Die drei Jünger Jesu sind in sattem Rot und Braun gehalten, das mit der fahlen Blässe Jesu kontrastiert. Ihre rustikalen Oberkleider bestehen aus grobem Tuch, die Leiber wirken vierschrötig, kompakt und kräftig; alle drei sind mindestens eine Generation älter als Jesus. Thomas hat die linke Hand, den gebeugten Oberkörper stützend, gegen die Hüfte gestemmt, sodass der linke Ellenbogen förmlich aus dem Bildraum herauszustechen scheint und dem Betrachter irritierend nahe kommt. An der linken Schulter seiner Jacke ist die Naht aufgeplatzt und lässt das weiße Unterhemd aufscheinen. Der senkrechte Riss dort ist das Gegenstück zu der waagrecht klaffenden Wunde in Jesu Seite – Jürgen Harten sieht darin einen Hinweis auf die Nachfolge Christi. Der dunkle Mantel, der über Thomas rechter Schulter liegt und von der linken heruntergeglitten ist, isoliert ihn von den beiden Zeugen, die neben bzw. hinter ihm stehen.
Thomas ist von Staunen überwältigt. Die Furchen auf seiner Stirn sind so tief eingeschnitten und durch Licht-Schatten-Kontraste so stark betont, dass sie nach Jesu Seitenwunde das markanteste Stück Haut auf dem ganzen Gemälde bilden. Sie zeigen, dass Thomas die Augen so weit aufgerissen und die Brauen so weit hochgezogen hat, wie es überhaupt nur geht. „Thomas himself strains forward with wide open eyes as if to look as closely as possible at what he himself is doing and feeling, as if he cannot quite believe the witness of his sense of touch without the further confirmation of sight (Fried 2010, S. 84). Vor allem aber verdeutlichen die Stirnfalten die Anstrengung, das Auferstehungswunder zu begreifen. 
Im Gegensatz dazu haben die beiden anderen Jünger die Augenbrauen zur Nasenwurzel hin zusammen- und nach unten gezogen. Sie wirken beinahe wie gewissenhafte empirische Forscher, die sich einem ungewöhnlichen Phänomen gegenübersehen; sie wollen sicher sein, dass ihnen auch nicht die kleinste Einzelheit entgeht. „Mit gutem Grund hat Caravaggio alle Einzelheiten ihrer Gestalt, die nicht direkt mit ihrer Sehtätigkeit zusammenhängen, im dunkeln gelassen: ihr Wesen erschöpft sich im Sehen. Sie sind Beobachter und Zeugen, stehen kraft ihres Sehvermögens für die Wahrheit des Wunders ein, während Thomas mit dem Tastsinn an dem Wunder teilhat“ (Most 2007, S. 246).
Es ist das zweifache Eindringen von Zeigefinger und Blick in die Wunde Jesu, das die Berührung des Thomas so schockierend eindrücklich macht
Der ungläubige Thomas ist durch und durch ein Werk Caravaggios, geradezu ein Meilenstein in seiner künstlerischen Entwicklung: Verzicht auf Details und Dekor, Beschränkung auf wenige, nah und vor dunklem Grund gesehene Personen, die, wie auf einer effektvoll ausgeleuchteten Bühne, im Augenblick der größten Dramatik wie eingefroren festgehalten sind. Durch die Wahl des Halbfigurenbildes rückt Caravaggio die Szene dicht an den Betrachter heran. Er vermag wie Thomas an die Gestalt Christi heranzutreten und wird damit zu einem der Zweifler, „die nicht glauben können, ohne zu sehen, denn in dem Augenblick, in dem er das Bild betrachtet, sieht er ja hin – im Gegensatz zu denen, die Christus preist: ›Selig, die nicht sehen und doch glauben‹“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 170).
Mieke Bal hat in ihrer Deutung von Caravaggios Ungläubigem Thomas allerdings auch auf die homosexuelle Dimension des Bildes hingewiesen: Sie ergibt sich durch das frappierende Motiv der Penetrierung, das noch verstärkt wird, indem Christus das Handgelenk von Thomas ergreift, um ihn anzuleiten. Leicht zu übersehen und deswegen verdeckt anstößig ist der freigelegte rechte Oberschenkel Jesu: „Der Betrachter wird quasi auf den zweiten Blick, die Draperie des Stoffes auf dem Körper Christi nachvollziehend, unerwartet die Möglichkeit der Nacktheit seines uns verborgenen Gesäßes realisieren“ (Suthor 2002, S. 271). Auch der Altersunterschied zwischen Jesus und den deutlich älteren Jüngern trägt nach Mieke Bal zur homosexuellen Spannung des Gemäldes bei: Ihre stierende Blicke seien unmissverständlich auf den Körper Jesu als Objekt des Begehrens fixiert. So weit möchte ich dann aber doch nicht gehen: Auch wenn die Szene latent sexualisiert ist, kann ich ein Begehren im Balschen Sinne bei den Jüngern nicht entdecken.
Der ungläubige Thomas entstammt der Sammlung des römischen Marchese Vincenzo Giustiniani, die der preußische König Friedrich Wilhelm III. 1815 nahezu geschlossen erwerben konnte. Der Caravaggio-Förderer Giustiniani besaß fünf Bilder des wegweisenden Barockmalers: Christus am Ölberg, Der Evangelist Matthäus mit dem Engel und das Brustbild einer jungen Frau sind mit großer Wahrscheinlichkeit im Mai 1945 bei einem Brand im Flakbunker Berlin-Friedrichshain zerstört worden; die beiden Gemälde Amor als Sieger und Der ungläubige Thomas sind dagegen erhalten geblieben – es handelt sich um die einzigen wissenschaftlich gesicherten Caravaggio-Bilder in deutschen Museen.
Caravaggio: Matthäus mit dem Engel (1599); Kriegsverlust
Caravaggio: Christus am Ölberg (um 1605), Kriegsverlust; für den Petrus hier im Vordergrund und den hinteren Apostel im Ungläubigen Thomas hat Caravaggio offensichtlich das gleiche Modell eingesetzt
Caravaggio: Brustbildnis einer jungen Frau (um 1601); Kriegsverlust
Caravaggios eindrückliche Komposition hat auch die von ihm beeinflussten Maler (Caravaggisten genannt) zu ähnlichen Bildern angeregt: So hat hat Matthias Stomer (1600–1652) das Thema in einem Hochformat umgesetzt, während Hendrik ter Brugghen (1588–1629) den in die Wunde eindringenden Finger besonders betont, indem er die rechte Hand des Jüngers vor dem hell erleuchteten Oberkörper Christi verschattet.
Matthias Stomer: Der ungläubige Thomas (um 1641/49); Museo del Prado, Madrid
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Hendrik ter Brugghen: Der ungläubige Thomas (um 1622); Amsterdam Rijksmuseum
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Literaturhinweise
Bal, Mieke: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History. University of Chicago 1999, S. 32 ff.;
Benay, Erin E.: Touching is Believing: Caravagio’s Doubting Thomas in Counter-Reformatory Rome. In: Lorenzo Pericolo/David M. Stone (Hrsg.), Caravaggio. Reflections and Refractions. Ashgate, Burlington 2014, S. 59-82; 
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009;
Fried, Michael: The  Moment of Caravaggio. Princeton University Press, Princeton and Oxford 2010, S. 83-86;
Harten, Jürgen: Bei Caravaggio. Die Annäherung des im Bild Erblickten an den Betrachter. In: Nike Bätzner (Hrsg.), Die Aktualität des Barock. Diaphanes, Zürich/Berlin 2014, S. 23-41;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage);
Hurttig, Marcus Andrew: Caravaggios Ungläubiger Thomas. Eine ikonographische Untersuchung. Verlag Valentin Koerner, Baden-Baden 2014;
Koos, Marianne: Kunst und Berührung. Materialität versus Imagination in Caravaggios Gemälde des „Ungläubigem Thomas“. In: Johann Anselm Steiger (Hrsg.), Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Band 2. Harrossowitz Verlag, Wiesbaden 2005, S. 1135-1151; 
Koos, Marianne: Haut als mediale Metapher in der Malerei von Caravaggio. In: Daniela Bohde/Mechthild Fend (Hrsg.), Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2007, S. 65-85;
Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusionen in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien. Wilhelm Fink Verlag. München 2001, S. 259-261; 
Most, Glenn W.: Der Finger in der Wunde. Die Geschichte des ungläubigen Thomas. C.H. Beck, München 2007, S. 201-258;
Pericolo, Lorenzo: Painting and Meta-Narrative in Caravaggio’s The Incredulity of Saint Thomas and The Martyrdome of Saint Ursula. In: Lorenzo Pericolo, Caravaggio and Pictoral Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting. Harvey Miller Publishers, Turnhout 2011, S. 447-479;
Pichler, Wolfram: Die Evidenz und ihr Doppel. Über Spielräume des Sehens bei Caravaggio. In: Vera Beyer u.a. (Hrsg.), Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin. Wilhelm Fink Verlag, München 2006, S. 126-156;
Squarzina, Silva Danesi (Hrsg.): Caravaggio in Preußen. Die Sammlung Giustiniani und die Berliner Gemäldegalerie. Mailand 2001;
Suthor, Nicola: Bad touch? Zum Körpereinsatz in Michelangelos/Pontormos ›Noli me tangere‹ und Caravaggios ›Ungläubigem Thomas‹. In: Valeska von Rosen u.a. (Hrsg.): Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2003, S. 261-281;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 26. März 2020) 

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