Sonntag, 5. Februar 2017

Mord am Altar – Caravaggios „Martyrium des Matthäus“ in der Contarelli-Kapelle von San Luigi dei Francesi (3)


Caravaggio: Martyrium des Matthäus (1599/1600); Rom, San Luigi dei Francesi
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Caravaggios Berufung des Matthäus habe ich bereits vor Längerem vorgestellt (siehe meinen Post „Heimgeleuchtet“), jetzt folgt endlich auch dessen Pendant in der Contarelli-Kapelle von San Luigi dei Francesi nach: das Martyrium des Matthäus, ebenfalls 1599/1600 entstanden. Der Auftrag für die beiden Gemälde ist bereits in meinem früheren Post beleuchtet worden, das muss nicht mehr wiederholt werden.
Was ist dargestellt? Der Legende nach hat der Apostel Matthäus den Herrscher Äthiopiens, Egippus, zum Christentum bekehrt. Hirtacus, sein Nachfolger, erhebt Anspruch auf dessen Tochter Iphigenia. Es kommt zum Konflikt, da Matthäus ihr das Gelöbnis der Keuschheit abgenommen hat und den neuen König in der Kirche öffentlich zurückweist. Dieser rächt sich, indem er den Apostel während der Messe ermorden lässt.
Im Zentrum der zentrifugal angelegten Komposition steht die fast unbekleidete und ins Licht getauchte Gestalt des Attentäters. Er beugt sich zu dem bereits zu Boden gestürzten Matthäus hinunter und hat dessen Handgelenk ergriffen. „Sein Körper ist bis zum Äußersten angespannt, sein Antlitz wie von einem gewaltigen Schrei verzerrt, darin die blinde Brutalität des Geschehen anschaulich machend“ (Schütze 2009, S. 105). Dabei blicken der Scherge und sein Opfer einander direkt in die Augen. Hingestreckt auf den Altarstufen, dringt das Blut der ersten Wunde, die Matthäus bereits zugefügt wurde, aus der Brust, während der Henker ihm im nächsten Moment mit seinem Degen den endgültigen Todesstoß versetzen wird. Von oben rechts nähert sich auf einer Wolkenbank ein geflügelter Engel, den außer Matthäus niemand zu bemerken scheint. Mit seiner rechten Hand reicht er einen Palmzweig herab, das Siegessymbol für den Märtyrer. Caravaggio hat den Palmzweig nahezu parallel zu der Mordwaffe ins Bild eingefügt, um ihren inhaltlichen Zusammenhang augenfällig zu machen. Matthäus liegt kreuzförmig am Boden, das heißt: bereit, Christus „usque ad mortem“ zu folgen und als Glaubenszeuge zu sterben.
Wie in frühchristlichen Quellen berichtet, ereignet sich der Mord in einer Kirche. Direkt hinter den beiden Hauptfiguren ist der um einige Stufen erhöhte und mit einem Malteserkreuz versehene Altar sichtbar, an dem Matthäus eben noch die Messe zelebriert hat. Im Vordergrund lässt sich nur schwer ein in den Boden eingelassenenes Taufbecken erkennen, an dessen Rand drei nahezu unbekleidete Täuflinge sitzen. Der Mörder selbst ist nur mit Lendentuch und Stirnband bekleidet – vielleicht hat er sich als Täufling getarnt und auf diese Weise in den Gottesdienst eingeschmuggelt. In der rechten Bildhälfte flieht ein Knabe, wohl ein Messdiener, mit entsetzt aufgerissenem Mund und erhobenen Armen vor dem grausigen Geschehen. „Daß die Handlung ‘schrecklich zum Davonlaufen sei, ist der funktionale Sinn der extremen Gebärdenfigur, daß es sich dabei um ein Kind handelt, der zusätzliche wirkungsästhetische Kunstgriff“ (Preimesberger 1998, S. 144). Dem ausholenden Mörder am nächsten, weicht ein bärtiger Mann mittleren Altars ebenfalls entsetzt vor der Untat zurück – seine Arm-und Handhaltung spiegelt die des Märtyrers (Caravaggio wird diese Geste noch mehrfach einsetzen, z. B. im Londoner Emmausmahl), „verdeutlicht aber gerade dadurch, daß diese anders ist, denn Matthäus erschrickt nicht und wehrt auch nicht, wie es zunächst scheint, seinen Mörder ab, sondern empfängt den Engel und die Märtyrerpalme“ (Ebert-Schifferer 2009, S. 126). Direkt hinter dem Mann mit den erhobenen Händen steht noch ein weiterer, älterer Zuschauer, der mit weit aufgerissenen Augen die Szene verfolgt.
Panische Flucht angesichts des Meuchelmords
Zwei Degen sind im Gemälde sichtbar; sie überschneiden sich auf der Malfläche so, als ob sie einander berührten. Rudolf Preimesberger hält das für keinen Zufall: Für ihn ist der athletische Henker, der den Degen gezückt hält und den Apostel töten wird, nicht der einzige Mörder im Gemälde. „Den Mord am Altar hat ein anderer schon vor ihm begangen. Er wird ihn nur vollenden“ (Preimesberger 1998, S. 139). Denn am linken Bildrand verlassen zwei modisch gekleidete Jünglinge das Kircheninnere. Der mit dem Federbusch am Barett hat offenbar soeben seinen Degen in die Scheide gesteckt und schaut noch einmal zurück, ehe er sich davonmacht. „Nichts anderes kann hier ausgedrückt sein als die Flucht nach vollbrachter Tat. Er ist es, der den Heiligen, wie es in der Legende heißt und in den Darstellungen auch häufig illustriert wird, vom Rücken her durchbohrt hat und nun flieht“ (Preimesberger 1998, S. 139).
Rainald Raabe dagegen ist der Ansicht, dass es nur einen Täter gibt: Die halbnackte Zentralfigur habe dem Märtyrer gerade das Schwert aus der Wunde gezogen „und ist noch in der Rückwärtsbewegung mit der rechten Schulter und dem rechten Oberarm. Daß es sich dabei um eine Drehbewegung handelt, zeigen das ein wenig ausgestellte linke Bein und das flatternde Ende des Lendentuchs“ (Raabe 1996, S. 94/95). 
Und Thomas Puttfarken setzt noch einen obendrauf, denn er deutet die Szene nochmals anders: Die vier Männer links, unter ihnen der Mörder, fliehen, denn der aufgebrachte Täufling, der sich über den sterbenden Matthäus beugt, habe die zurückgelassene Tatwaffe ergriffen. „I see the expression on his face not as a threat to the saint, but as one of horror and fury as he realizes that Matthew is dying. The precise moment we are witnissing is not the attack on the saint, but his actual death, his consummation of the ‛glory of martyrdom’, and, at the same time, the beginning, or more precisely the cause, of the public uprising of the Christian population aganist the king, as described in the Golden Legend“ (Puttfarken 1998, S. 179). Damit hätten wir im Martyrium des Matthäus ein ähnliches Verwirrspiel vor uns wie in der Berufung des Matthäus: Hier streiten sich die Gelehrten bis heute darüber, welche der Figuren eigentlich Matthäus ist. 
Posthumes Porträt Caravaggios von Ottavio Leoni (um 1614);
Florenz, Biblioteca Marucelliana
Noch tiefer im Bildgrund stehen vor einer Säule zwei weitere Figuren, die sich ebenfalls aus dem Staub zu machen scheinen, nach Preimesberger Helfershelfer, unbewaffnete Mitläufer, aber dennoch Mitschuldige. Der rechte von den beiden ist hell erleuchtet und als Selbstbildnis Caravaggios angelegt, wenn man die Gesichtszüge mit Ottavio Leonis Porträt des Malers vergleicht. Caravaggio hat sich mit einem dunklen Mantel über einem weißen Untergewand versehen; er wendet den Kopf zurück und blickt sichtlich bewegt auf das Mordopfer. Auffällig ist die linke Hand ins Bild gesetzt: Mit gespreizten Fingern, die Handfläche nach unten, wird sie extrem verkürzt waagerecht vorgestreckt. Preimesberger sieht in dieser Geste eine Darstellung des gemischten Affekts erschrockenen Mitleids“ (Preimesberger 1998, S. 143). Wenn Caravaggio sich wie Rembrandt in seiner Münchner Kreuzaufrichtung (um 1633) als einer der Schergen darstellt, dann hat das eine theologische Dimension: Er bekennt sich damit zur Mitschuld des Sünders am Leiden und Tod Christi, hier übertragen auf Leiden und Tod des Apostels.
Caravaggio: Gefangennahme Christi (1602); Dublin, National Gallery of Ireland
Caravaggio versetzt das Geschehen durch die teilweise zeitgenössische Bekleidung nicht nur  in die eigene Gegenwart, sondern inszeniert sich – wie in seiner Gefangennahme Christi – durch das Selbstbildnis als Zeuge der blutigen Begebenheit. Nur er zeigt angesichts des Mordes nicht allein Schrecken, sondern auch Mitleid. „Der Maler allein spiegelt die Handlung so, wie sie vom Betrachter erlebt werden soll, soll das Gemälde mehr sein als ein Schreckensbild, soll es mit anderen Worten auch seine sittliche kathartische Wirkung entfalten (...) Er allein, der Mitschuldige, vermittelt in seiner betroffenen Haltung, Mimik und Gestik angesichts des Martyriums nach außen zugleich ‘Schrecken’ und ‘Mitleid’, wie die beiden berühmten Kategorien im Wirkungsauftrag der Tragödie bei Aristoteles gemeinhin übersetzt und verstanden wurden (Preimesberger 1998, S. 145).
Auch Matthäus selbst ist nicht antik oder „orientalisch“ gekleidet – er trägt vielmehr ein zeitgenössisches Priestergewand. Franca Trinchieri Camiz sieht einen guten Grund für diese Aktualisierung: Ihrer Ansicht nach wurde der Apostel auf Caravaggios Gemälde ermordet, während er eine Totenmesse zelebrierte – was darauf verweist, dass es sich bei der Contarelli-Kapelle um die Grabkapelle des Kardinals Matteo Contarelli handelt: „By depicting the apostle as a contemporary priest celebrating the liturgy for the dead, Caravaggio has combined the symbolism of Matthew’s martyrdom with the reality of the ceremony celebrated daily to commemorate the cardinal’s death“ (Camiz 1990, S. 101).
Kupferstich nach Tizians 1530 entstandenem Gemälde Martyrium des 
Heiligen Petrus Martyr, das 1867 durch Feuer zerstört wurde
Die Komposition scheint Caravaggio zunächst einige Schwierigkeiten bereitet zu haben: Er hatte bereits alle Figuren vollständig als Gesamtskizze mit dem Pinsel in Bleiweiß ausgeführt, entschloss sich dann jedoch, von vorn zu beginnen. Bei diesem neuen und endgültigen Anlauf zu seinem ersten großen Historiengemälde griff Caravaggio auf ein berühmtes Werk der oberitalienischen Hochrenaissance zurück: Die Haupthandlung ist von Tizian übernommen. Der gestürzte Heilige, sein Mörder und der fliehende Begleiter entstammen – seitenverkehrt – dessen Martyrium des Heiligen Petrus Martyr. „Von dort erklärt sich auch letztlich der Gedanke, den himmlischen Lohn des Martyriums und damit den überirdischen Sinn des Geschehens der Handlung selbst zu integrieren“ (Preimesberger 1998, S. 136). Das Vorbild variierend, hat Caravaggio die Rückenfigur Tizians in eine Frontalfigur verwandelt. Preimesberger hat noch auf ein weiteres Modell für den schreiend davonstürzenden Messknaben hingewiesen: eine Skulptur aus dem antiken Statuentheater der Villa Medici in Rom. Es handelt sich um eine Tochter der Niobe (Niobide Chiaramonti genannt), „der antike Prototyp entsetzten weiblichen Fliehens“ (Preimesberger 1998, S. 141); ihre panische Flucht mit zurückgeworfenem Kopf und schreiend geöffnetem Mund ist dort durch die mörderischen Pfeile des Apoll und der Diana verursacht, die die Kinder der Niobe töten.
Niobide Chiaramonti (Mitte des 16. Jahrhunderts aufgefunden);
Rom, Vatikanische Museen
Caravaggio: Berufung des Matthäus (1599/1600); Rom, San Luigi dei Francesi
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Inhaltlich ist das Martyrium des Matthäus ohne Frage auf sein Pendant in der Contarelli-Kapelle bezogen, „denn dem sündigenden, noch nicht ganz berufenen zukünftigen Apostel setzte der Maler auf dem anderen Bild den noch lebenden, noch nicht ganz zum Märtyrer gewordenen Apostel gegenüber“ (Raabe 1996, S. 99).


Literaturhinweise
Camiz, Franca Trinchieri: Death and Rebirth in Caravaggio’s Martyrdom of. St. Matthew. In: artibus et historiae 22 (1990), S. 89-105; 
Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 119-128;
Held, Jutta: Caravaggio. Politik und Martyrium der Körper. Reimer Verlag, Berlin 2007 (zweite Auflage), S. 85-90;
Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson, London 1983, S. 102-117;
Lechner, Sonja: NUDA VERITAS – Caravaggio als Aktmaler. Rezeption und Revision von Aktdarstellungen in der römischen Reifezeit. scaneg Verlag, München 2006, S. 211-239;
Olson, Todd P.: Caravaggio’s Martyrdom of St. Matthew. In: Representations 77 (2002), S. 107-142;
Preimesberger, Rudolf: Caravaggio im ‘Matthäusmartyrium’ der Cappella Contarelli. In: Peter K. Klein/Regine Prange, Zeitenspiegelung. Zur Bedeutung von Traditionen in Kunst und Kunstwissenschaft. Festschrift für Konrad Hoffmann. Dietrich Reimer Verlag, Berlin1998, S. 135-149; 
Puttfarken, Thomas: Caravaggio’s ‘Story of St Matthew’: A challenge to the conventions of painting. In: Art History 21 (1998), S. 163-181; 
Raabe, Rainald: Der Imaginierte Betrachter. Studien  zu Caravaggios römischem  Werk. Georg Olms Verlag, Hildesheim 1996, S. 88-99;
Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Köln 2011
von Rosen, Valeska: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600. Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 261-228.

(zuletzt bearbeitet am 15. Februar 2022)

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