Sonntag, 28. Januar 2018

Glaube in Ekstase – Lucas Cranachs „Büßender Hieronymus“ von 1502


Lucas Cranach d.Ä.: Büßender Hieronymus (1502); Wien,
Kunsthistorisches Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Der Gelehrte und Theologe Hieronymus (347–420) gehört zusammen mit Ambrosius, Augustinus und Gregor dem Großen zu den sogenannten vier großen Kirchenvätern der Spätantike. Dank seiner umfassenden Bildung genoss er das besondere Vertrauen von Papst Damasus I., in dessen Auftrag er die Vulgata schuf, die lateinische Übersetzung der Bibel. Wegen seiner Tätigkeit für den Papst wurde Hieronymus fast durchweg als Kardinal abgebildet, obwohl er diesen Rang tatsächlich nie bekleidete. Die scharlachrote Amtstracht kennzeichnet ihn üblicherweise selbst in jenen Darstellungen, auf denen er in der Einöde Buße für jene Sünden tut, die er während seiner Jugendjahre in Rom begangen hatte.
Auf dem Gemälde von Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553), 1502 in Wien entstanden, hat Hieronymus den Kardinalsornat abgelegt, um sich mit entblößtem Oberkörper vor einem Kruzifix kniend zu geißeln, gerahmt vom Rot seines Huts und Mantels. Von solch drastischen Bußübungen ist in den überlieferten Briefen des Kirchenvaters tatsächlich die Rede. Mit der Linken hebt der in Dreiviertelansicht gezeigte Hieronymus seinen langen, grauen Bart an, um sich selbst im nächsten Moment mit dem Stein, den er in seiner rechten Hand hält, vor die nackte Brust zu schlagen. Dabei ist die Dynamik und Expressivität seiner weit ausholenden Geste ebenso bemerkenswert wie die anatomisch genaue Darstellung des muskulösen Oberkörpers. Die Körperhaltung, der ausgestreckte rechte Arm, der angehobene Kopf und der angewinkelte linke Arm geben eine Bilddiagonale vor, die der Blickrichtung des Hieronymus folgt und direkt zum Gekreuzigten führt. Das Kruzifix steht leicht erhöht auf einem Felsen und ragt wie das Kreuz auf Cranachs Schleißheimer Kreuzigung (siehe meinen Post Zerschlagene Leiber, aufgewühlte Seelen“) diagonal in die Tiefe des Bildraums. Es entsteht der Eindruck eines Dialogs zwischen dem Kirchenvater und Christus: „Als Adressat seiner Gebete erscheint die Christusfigur dem Hieronymus nicht als hölzerne Skulptur, sondern als visionäre Verlebendigung, was Cranach durch die Verwendung von Inkarnat betont“ (Bonnet/Schmidt-Kopp 2010, S. 136). Die ekstatische Buße erscheint als Voraussetzung für diese Verlebendigung des Gekreuzigten. 
Um die Verbindung der beiden Figuren noch deutlicher zu unterstreichen, nutzt Cranach vor allem das überlange, herabwehende Lendentuch Christi: Es korrespondiert mit dem hellgrau-blauen Untergewand, das Hieronymus auf den Hüften sitzt und von einem wulstigen Knoten gehalten wird. Dieser Knoten ist auf dieselbe Weise geschlungen und sitzt auch an der gleichen Körperstelle wie der Knoten am Lendentuch des Gekreuzigten – ein Verweis darauf, dass Hieronymus auch um die imitatio Christi ringt, die rechte Nachfolge Jesu. Für den Betrachter geht es in dieser Konstellation nicht darum, selbst eine Beziehung zum Gekreuzigten aufzunehmen, er soll sich vielmehr an der inbrünstigen Kreuzesverehrung und Bußhaltung des Eremiten orientieren: Nur so wird sich das Mysterium des Glaubens, das Cranach ihm vor Augen führt, auch für ihn ereignen.
Lucas Cranach d.Ä.: Klage unter dem Kreuz (Schleißheimer Kreuzigung, 1503);
München, Alte Pinakothek (für die Großansicht einfach anklicken)
Üblicherweise wurde die Wüste von Chalcis in Syrien, in die sich der bußfertige Hieronymus vier Jahre lang zurückgezogen hatte (von 374 bis 379), als Einöde außerhalb der Zivilisation dargestellt. Cranach verlegt das Geschehen in wildbewachsene Gefilde mitteleuropäischer Prägung und rückt die urwüchsige Vegetation nah an den Kirchenvater heran:  Hieronymus befindet sich nicht vor, sondern in der Landschaft. Die wulstigen Äste des Baums am linken Bildrand greifen dabei das Bewegungsmotiv des halbnackten Mannes ebenso auf wie die Neigung des Busch- und Baumwerks, die das Kruzifix hinterfangen. Das Gebäude mit einer Kapelle rechts im Hintergrund soll vermutlich das später von Hieronymus gegründete Kloster in Bethlehem andeuten.
Albrecht Dürer: Hieronymus in der Wüste (1497); Kupferstich
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Vor Hieronymus hat sich der Löwe niedergelassen, dem der Kirchenvater der Legende nach einen Dorn aus der Pfote zog und der ihm daraufhin als Begleittier folgte. Sein Aussehen verweist auf Cranachs wichtigste Quelle bei der Konzeption seines Bildes: Albrecht Dürers Kupferstich gleichen Themas, entstanden um 1497 (siehe meinen Post „Löwe mit Greis“). Der Löwe von Cranach und von Dürer bilden ein direktes Pendant. Auch den asketisch-muskulösen Oberkörper des Hieronymus hat Cranach von Dürer entlehnt. Doch so eindrücklich Dürers Schilderung der Einöde in Form von kantigen, nur spärlich bewachsenen Felsen auch ist, „erst Cranach erreicht die atmosphärische Dichte und die endgültige Verschmelzung von Bildpersonal und Naturraum“ (Bonnet/Schmidt-Kopp 2010, S. 13). Dürer zeigt uns einen stillen Asketen – ganz anders dagegen der Büßer von Cranach, dessen heftige innere Erregung in seiner ausdrucksvollen Gestik sichtbar wird.
Lucas Cranach d.Ä.: Bildnisse des Dr. Johannes Cuspinian und seiner Frau Anna Putsch (1502/03);
Winterthur, Sammlung Oskar Reinhart (für die Großansicht einfach anklicken)
In der linken oberen Ecke des Gemäldes hocken eine Eule und ein Papagei im knorrigen Geäst eines alten Baumes. Sie verweisen auf den möglichen Auftraggeber des Hieronymus-Bildes, den Wiener Arzt Johannes Cuspinian, auf dessen Doppelbildnis mit seiner Ehefrau Anna dieselben Vögel vorkommen. Sie dienen dort als Symbole des melancholischen und des sanguinischen Temperaments. Gerade bei den Humanisten der Wiener Universität, unter denen Cuspinian eine führende Rolle einnahm, erfreute sich Hieronymus als Übersetzer der Bibel ins Lateinische und als Vorbild einer vom christlichen Glauben geleiteten Gelehrsamkeit großer Beliebtheit. Cranach war 1502 mit etwa 30 Jahren nach Wien gekommen und schuf dort mit seinem Hieronymus-Gemälde das erste datierte Tafelbild, das wir von ihm kennen. Er hielt sich bis 1504 in Wien auf und wurde danach (ab 1505) Hofmaler des Kurfürsten Friedrich des Weisen in Wittenberg.

Lucas Cranach d.Ä.: Büßender Hieronymus (1509), Holzschnitt
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1509 hat Cranach den büßenden Hieronymus auf einem Holzschnitt nochmals in einer Landschaft dargestellt: Der Eremit kniet auch hier vor einem Kruzifix, blättert aber in einem (Gebet-)Buch; der neben ihm liegende Löwe hat den Kopf leicht erhoben und fixiert den Betrachter drohend. Vorne rechts sind Kardinalshut und -mantel auf einem Baumstumpf abgelegt. Zusammen bilden diese Elemente ein Dreieck, das den Vordergrund füllt und als erzählerische Ebene von der Landschaft absetzt. Die Gruppe des Hieronymus mit seinem Löwen ist wiederum seitenverkehrt von Dürers Kupferstich übernommen. Doch während Dürer den Einsiedler in einer unwirtlich-einsamen Felsschlucht ansiedelt, ist die ländliche Natur bei Cranach von idyllisch-heiterer Stimmung geprägt – von religiöser Inbrunst, wie sie das Wiener Gemälde zeigt, ist weit weniger zu spüren, Hieronymus wirkt fast ausgeglichen. 
Der Büßende scheint mit der Landschaft eins geworden, sie wäre aber auch ohne ihn bildwürdig. Ihr im Vergleich zu Dürers Kupferstich gesteigerter Stellenwert zeigt sich auch im maßstäblichen Verhältnis des Menschen zur Natur. Die hoch aufragende, mächtige Eiche, echoartig wiederholt in der schmaleren Föhre weiter hinten, überragt den Eremiten um das Doppelte, geht noch über den Bildrand und wird zum eigentlichen Blickfang des Blattes. Hinter ihr erstreckt sich die Landschaft in die Tiefe; im Mittelgrund ist eine plätschernde Quelle und eine teilweise vom Baum verdeckte Kapelle, im Hintergrund eine Siedlung mit Kirche zu erkennen. Mit Landschaften wie dieser wird Cranach zum einflussreichen Mitbegründer der sogenannten Donauschule, als deren prominentester Vertreter Albrecht Altdorfer (1480–1538) gilt.
Albrecht Altdorfer: Büßender Hieronymus (1507); Berlin, Gemäldegalerie
Der jüngere Altdorfer wiederum griff 1507
in einem kleinformatigen Gemälde (23,5 x 20,4 cm) Cranachs Bildschöpfung von 1502 auf, wiederholte die Komposition aber seitenverkehrt und variierte die Landschaftsstaffage. Die expressive Gestik ist bei Altdorfers Hieronymus reduziert; wichtigste Ergänzung ist ein Buch, das der büßende Asket in der linken Hand hält, wohl die von ihm ins Lateinische übersetzte Heilige Schrift.

Literaturhinweise
Brinkmann, Bodo (Hrsg.): Cranach der Ältere. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2007, S. 118;
Bonnet, Anne-Marie/Kopp-Schmidt, Gabriele: Die Malerei der deutschen Renaissance. Schirmer/Mosel, München 2010, S. 136;
Heiser, Sabine: Das Frühwerk Lucas Cranachs des Älteren. Wien um 1500 – Dresden um 1900. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 2002, S. 73-77;
Reuße, Felix: Albrecht Dürer und die europäische Druckgraphik. Die Schätze des Sammlers Ernst Riecker. Wienand Verlag, Köln 2002, S. 30;  
Roller, Stefan/Sander, Jochen (Hrsg.), Fantastische Welten. Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500. Hirmer Verlag, München 2014, S. 52; 
Stadlober, Margit: Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils. Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2006, S. 164-173.

(zuletzt bearbeitet am 29. November 2021) 

Sonntag, 21. Januar 2018

Großer Auftritt der Zentralperspektive – Masaccios Trinitätsfresko in Santa Maria Novella (Florenz)


Masaccio: Trinität (um 1425/28); Florenz, Santa Maria Novella
Das berühmte Trinitätsfresko des Malers Masaccio (1401–1428) ist eines seiner Hauptwerke und eines der bedeutendsten Gemälde der italienischen Frührenaissance überhaupt. 6,67 m x 3,17 m groß und zwischen 1425 und 1428 entstanden, befindet es sich im dritten Joch des westlichen Seitenschiffes der Dominikanerkirche Santa Maria Novella in Florenz. In der Geschichte der Zentralperspektive ist es „eine Inkunabel“ (Hertlein 1979, S. 4): Zum ersten Mal sind Figuren und Raum zentralperspektivisch durchkonstruiert und auf den Betrachter im Kirchenraum bezogen.
Masaccio präsentiert die göttliche Dreieinigkeit in einem illusionistisch gemalten Kapellenraum mit längsrechteckigem Grundriss, der von einem kassettierten Tonnengewölbe bedeckt wird. Der Raum öffnet sich in einer rundbogigen Arkade, die auf Säulen mit ionischen Kapitellen aufliegt. Die gleiche Arkade findet sich auch am hinteren Ende der Kapelle; an sie schließt sich eine halbkreisförmige Apsis an, deren Wölbung links und rechts neben der Gestalt Gottvaters nur wenig sichtbar ist. Der untere Teil der Apsis ist durch einen Einbau verstellt, bei dem es sich um ein Grabmal handeln könnte. Die Kassettendecke ruht rechts und links auf einem von Säulen getragenen Architrav. Zwei gewaltige, kannelierte Pilaster mit Kompositkapitellen bilden die äußere Umrahmung des Freskos. Sie tragen einen detailliert gearbeiteten Architrav und vermitteln zusammen mit den beiden vorderen Säulen, dem Rundbogen der Arkade sowie den Muschel-Tondi der Architektur die Anmutung eines antik-römischen Triumphbogens.
Fällt nicht sofort ins Auge: die Taube als Symbol des Heiligen Geistes
Gottvater steht auf einer von Konsolen getragenen Basis und stützt mit beiden Händen das Kreuz, an dem Christus hängt. Der Sohn Gottes ist ebenso groß wie Gottvater. Die beiden Köpfe, durch die Taube des Heiligen Geistes verbunden, sind einander in ihren Gesichtszügen, dem langen, sich an Schläfen und Wangen anschmiegenden Haupthaar wie auch im Schnitt des Bartes vollkommen ähnlich. Der realistisch wiedergegebene Leib des Gekreuzigten reicht zu den Gestalten von Maria und Johannes hinab. Der Lieblingsjünger Jesu blickt zu Christus empor, die Hände im Trauergestus ineinandergelegt. Maria weist mit ihrer Rechten auf den Gekreuzigten; sie blickt zwar in Richtung des Betrachters, scheint ihn aber nicht mehr wahrzunehmen, da sie in ihrem Schmerz über das Leiden ihres Sohnes wie versteinert wirkt. Maria und Johannes demonstrieren dem Gläubigen vor dem Bild, mit welcher inneren Haltung er die Szene betrachten soll: Es geht um compassio. Gemeint ist damit das Miterleben und Miterleiden der Passion Jesu, die Einfühlung in seinen Leidensweg. Man kann die compassio als das zentrale Frömmigkeitsmotiv des 15. Jahrhunderts bezeichnen.
Maria und Johannes zeigen uns,
was wir beim Anblick des Gekreuzigten empfinden sollen
Das betende Stifterpaar, im reinen Profil dargestellt, ist von der Kreuzszene zweifach getrennt: Es befindet sich außerhalb des Kapellenraums und kniet eine Stufe unter dessen Fußboden. Um wen es sich bei den beiden Stiftern handelt, ist unsicher; der Mann trägt die rote Amtstracht eines Priors der Florentiner Republik – er dürfte also zu den führenden Politikern seiner Zeit gehört haben. Seine Frau im blauen Gewand und er blicken sich direkt an, „so als wären sie sich selber gegenseitig Andachtsgegenstand. Die vier Himmlischen nehmen denn auch ihrerseits vom Stifterpaar keine Notiz“ (Perrig 1986, S. 30). Unter den Stiftern befindet sich noch eine dritte Zone: Sie zeigt vor einer flachen Nische einen Sarkophag, auf dem ein Skelett liegt. Die Nische ist mit einer italienischen Inschrift in Capitalis-Lettern versehen: „IO. FU. QUEL. CHE. VOI. SETE: E QUEL. CHI SON. VOI. ACO. SARETE“ („Ich war, was ihr seid, und was ich bin, werdet ihr sein“). Ein gemaltes Säulenpaar ist wohl als optische Stütze für den oberen Vorsprung gedacht, auf dem die Stifter knien.
Thema des Feskos sind Tod und Auferstehung, Gericht und Erlösung
Obwohl sich die beiden Stifter gegenseitig anblicken, besteht zwischen ihnen und den himmlischen Figuren eine innige Beziehung. Denn die Stifter besitzen mindestens die gleiche Körpergröße wie Gottvater und Christus. Außerdem wiederholen sich die Farben ihrer Gewänder nicht nur in den Kassetten des Tonnengewölbes, sondern – geringfügig variiert – auch in den Gewändern der anderen Gestalten. Das Hellrot der Prior-Tracht des Mannes entspricht dem Hellrot sowohl des Johannes-Mantels als auch des Untergewandes Gottvaters, das Blau des Frauenmantels dem Blau des gottväterlichen Obergewandes wie auch dem Mantel Mariens. „Drittens haben die absolute Profilansicht des Stifterpaares und dessen geradeaus gerichtete Blicke ihr geometrisch exaktes Äquivalent in Gottvaters absoluter Frontalität“ (Perrig 1986, S. 31). Das rechte Auge des Mannes und das linke der Frau bilden die Basiseckpunkte von zwei gleich großen, gegensätzlich gerichteten Dreiecken – einem aufwärts gewendeten, dessen Spitze in der Stirn Christi, und einem abwärts gerichteten, dessen Spitze in der Skelettmitte liegt. „Jedes der beiden gleichseitigen Dreiecke deutet an, was das Stifterpaar von seinem Standort aus nicht sehen kann, worauf es in seinem Gebet jedoch innerlich ausgerichtet ist“ (Perrig 1986, S. 31).
Masaccios gemalter Raum ist für den Betrachter zwar nicht „betretbar“, aber dennoch „ganz außerordentlich gegenwärtig“ (von Simson 1966, S. 125), und zwar nicht nur wegen des perspektivischen Illusionismus, sondern mehr noch durch die Ähnlichkeit der Architekturformen mit wichtigen Florentiner Bauten von Filippo Brunelleschi (1377–1466): der Sagrestia Vecchia (San Lorenzo) sowie dem Portikus des Ospedale degli Innocenti (1419 begonnen; siehe meinen Post Paukenschlag der Renaissance-Architektur). Die Joche dieser Vorhalle zeigen in Aufbau und Gliederung alle Elemente der Trinitätsarchitektur: rahmende Pilaster, eingestellte Säulen, plastisch gestufte Rundbogen und profiliertes Gesims. Masaccios Kapellenfront hat ohne Frage auch große Ähnlichkeit mit Donatellos Nische für die Statue des Hl. Ludwig an der Fassade der Florentiner Kirche Orsanmichele. Donatello schuf mit dieser Figur 1423 seinen ersten Bronzeguss. Sie zeigt in Stellung, Handhaltung und Faltenwurf deutliche Verwandtschaft mit der Maria in Masaccios Fresko. Die Ludwigsstatue blieb bis 1460 an ihrem Ort und wurde dann in die Kirche Santa Croce gebracht. Ihre Stelle nahm schließlich die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio ein, die zwischen 1470 und 1479 entstand.
Filippo Brunelleschi: Portikus des Ospedale degli Innocenti in Florenz (1419-1445)
Donatellos Nische an der Außenfassade von Orsanmichele,
ursprünglich mit der Statue des Hl. Ludwig besetzt
Masaccio hat die Zentralperspektive des Freskos höchstwahrscheinlich unter Anleitung oder sogar mit Hilfe seines Freundes Brunelleschi entworfen. Sie weist uns einen bestimmten Platz vor dem Gemälde an: Durch den tief gelegten Fluchtpunkt (der der Augenhöhe eines erwachsenen Betrachters entspricht) blicken wir steil hinauf zur Dreieinigkeit. Zugleich entrückt uns die Perspektive die Stifter, die, in der Nähe von Maria und Johannes, weder dem Bereich der Lebenden noch dem des Todes angehören. Und schließlich lässt uns die Perspektive in Aufsicht auf Sarkophag und Skelett wie in das Reich des Todes hinabblicken. „Masaccios Fresko bezeugt die Gemeinsamkeit der Lebendigen und der Toten unter der Allmacht Gottes, das Aneinandergrenzen von Leben und Tod, endlich die Gegenwart von Gericht und Erlösung auf eine Weise, die vor ihm unbekannt war“ (von Simson 1966, S. 158). Alexander Perrig betont die Schlüsselstellung des Stifterpaars, das dem Betrachter „eine klare Andachts- und Glaubensanweisung“ (Perrig 1986, S. 31) erteilt: Die beiden Figuren fordern ihn dazu auf, beim Gedanken an die Unausweichlichkeit des Todes (der untere Bereich des Freskos) sich betend ebenso der durch das Sterben Jesu erwirkten Erlösung zu vergewissern (obererer Bereich des Freskos).
Masaccio zeigt uns die Trinität im Bildtypus des „Gnadenstuhls“, der sich bis ins frühe 12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt: Gottvater präsentiert dem Betrachter seinen Sohn Jesus Christus, der für die Sünden der Menschheit am Kreuz gestorben ist. Der Begriff „Gnadenstuhl“ geht auf Martin Luthers Übersetzung einer Textstelle aus dem Hebräerbrief zurück: „Darum laßt uns hinzutreten mit Freudigkeit zu dem Gnadenstuhl, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden auf die Zeit, wenn uns Hilfe not sein wird“ (Hebräer 4,16; LUT 1912). Das Wort „Stuhl“ bezieht sich jedoch nicht auf den Thron Gottes, sondern auf den Gekreuzigten, das Kruzifix. Der Hebräerbrief vergleicht das Kreuzesopfer Christi mit dem Blutopfer des Alten Testaments und das Kreuz mit dem Deckel der Bundeslade, dem Propitiatorium, auf das der Hohepriester das Blut des Opfertieres sprengte. „Propitiatorium“ übersetzt Luther ebenfalls mit „Gnadenstuhl“ (2. Mose 25,17). Masaccios Fresko ist die erste monumentale Ausgestaltung dieses Themas, und es wundert nicht, dass er es für eine Dominikanerkirche geschaffen hat, denn die Trinität steht im Zentrum der Theologie und Andacht dieses Predigerordens.

Literaturhinweise
Hertlein, Edgar: Masaccios Trinität. Kunst, Geschichte und Politik der Frührenaissance in Florenz. Leo S. Olschki Editore, Florenz 1979; 
Hoffmann, Volker: Masaccios Trinitätsfresko:  Die Perspektivkonstruktion und ihr Entwurfsverfahren. In: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 40 (1996), S. 42-77;
Huber, Florian: Das Trinitätsfresko von Masaccio und Filippoi Brunelleschi in Santa Maria Novella zu Florenz. tuduv-Verlagsgesellschaft, München 1990;
Kemp, Wolfgang: Masaccios „Trinität“ im Kontext. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 21 (1986), S. 45-72;
Perrig, Alexander: Masaccios „Trinità“ und der Sinn der Zentralperspektive. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 21 (1986), S. 11-43;
Polzer, Joseph: The Anatomy of Masaccios Holy Trinity. In: Jahrbuch der Berliner Museen 13 (1971); S. 18-59;
Schlegel, Ursula: Observations on Masaccio’s Trinity Fresco in Santa Maria Novella. In: The Art Bulletin 45 (1963), S. 19-33;
von Simson, Otto: Über die Bedeutung von Masaccios Trinitätsfresko in S. Maria Novella. In: Jahrbuch der Berliner Museen 8 (1966), S. 119-159;
LUT = Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Revidierte Fassung der deutschen Übersetzung Martin Luthers (1912).

(zuletzt bearbeitet am 30. März 2022) 

Sonntag, 7. Januar 2018

Porträt-Kunst der italienischen Frührenaissance (2): die Profilbildnisse des Piero del Pollaiuolo


Piero del Pollaiuolo: Bildnis einer jungen Frau (um 1470); Mailand, Museo Poldi Pezzol
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Bildnisse junger Frauen wurden im Florenz des 15. Jahrhunderts zumeist im Zusammenhang ihrer Heirat von den Ehemännern oder Vätern in Auftrag gegeben. Erlesene Kleidung und Schmuck zeigen den Umfang der Mitgift oder die kostbaren Geschenke des Bräutigams und somit in erster Linie den sozialen Status der Braut. Vorherrschend war dabei die strenge Profilansicht. „Das dem Betrachter gegenüber verschlossen, jeden Blickwechsel verneinende Erscheinen im starren Profil ist als Zeichen der Tugendhaftigkeit zu lesen, deren Demonstration gemäß neuplatonischer Vorstellungen notwendigerweise mit besonderer Schönheit einherging – charakteristische Züge wurden dementsprechend idealisierend geglättet“ (Schumacher 2009, S. 29). 
Zudem bot die Profilansicht die beste Möglichkeit, die geschmückten, bei verheirateten Frauen stets streng gebundenen Frisuren zu präsentieren. Sie betonte darüber hinaus wirkungsvoll die gängigen Kriterien für weibliche Schönheit: Die Stirn sollte sehr hoch, von den Schläfen viel sichtbar sein; die schöne Frau der Frührenaissance zeichnete sich zudem durch einen lange Hals aus. Das war nur zu erreichen, wenn man die Stirn- und Schläfenhaare auszupfte und die Nackenhaare rasierte. Vor allem Piero del Pollaiuolo (1443–1496) perfektionierte den Typus der kostbar ausstaffierten Profilbüste vor einfarbigem Hintergund, der die Braut in erster Linie als dekoratives Objekt vorführt.
Piero del Pollaiuolo: Bildnis einer jungen Frau (um 1465); Berlin,
Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken)
Piero del Pollaiuolo: Bildnis einer jungen Frau (um 1480); New York,
The Metropolitan Museum of Art (für die Großansicht einfach anklicken)

Das weibliche Profilporträt, an dem in Italien bis zum Ende des 15. Jahrhunderts festgehalten wurde, dürfte zum einen eine Übernahme von Stifterbildnissen in religiösen Gemälden sein; zum anderen spiegelt sich in diesem Darstellungstypus das wiedererwachte Interesse an antiken Münzen und Medaillen, die damals schon begehrte Sammelobjekte waren.

Literaturhinweise
Christiansen, Keith/Weppelmann, Stefan (Hrsg.): Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst. Hirmer Verlag, München 2011, S. 101-105;
Schumacher, Andreas: Der Maler Sandro Botticelli. Eine Einführung in sein Werk. In: Andreas Schumacher (Hrsg.), Botticelli. Bildnis – Mythos – Andacht. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2009, S. 15-55.

(zuletzt bearbeitet am 25. Februar 2019)