Freitag, 15. März 2024

Das Rätsel der unbedeutenden Dinge – Giorgio de Chiricos Werkreihe der „Piazze d’Italia“

Girorgio de Chirico. Piazza dItalia (1956); Köln, Museum Ludwig

Von dem italienischen Maler Giorgio de Chirico (1888–1978) gibt es zwei Gemälde mit dem gleichlautenden Titel Piazza d’Italia, ein Querformat im Kölner Museum Ludwig und ein Hochformat in der Galleria d’Arte Moderne von Genua. Sie sind 1952 und 1956 entstanden und zählen zu einer Gruppe von über fünfzig Werken, deren Motiv de Chirico während seiner gesamten künstlerischen Laufbahn immer wieder aufgriff und in Variationen bearbeitete. Die frühesten „Piazze d’Italia“ wurden zwischen 1911 und 1915 in Paris gemalt, sie sind sozusagen die Urbilder für alle später geschaffenen Platzansichten des Künstlers.

Raffael: Vermählung Mariae (1504); Mailand, Pinacoteca di Brera

Die beiden Gemälde aus Köln und Genua zeigen einen weiten, von Architekturen gesäumten Platz, der im Hintergrund den Blick auf einen massiv aufragenden Turm freigibt. Der einem Tempietto ähnelnde Rundbau des Turms erinnert an die gemalte wie gebaute Idealarchitektur der italienischen Hochrenaissance. So könnte ein Vorbild der polygonale Tempel im Hintergrund von Raffaels Vermählung Mariae (1504) gewesen sein – ein Bild, das de Chirico sehr schätzte und für das „das vollkommenste und tiefsinnigste Bild der ganzen Malerei überhaupt“ hielt (de Chirico 2011, S. 230). Wie auf der Platzanalage Raffaels finden sich bei de Chirico im Mittelgrund Staffagefiguren: Dort stehen zwei Männer beieinander und beleben den ansonsten menschenleeren Platz. Das Zentrum der „Piazza“ wird flankiert von kastenartigen Gebäuden, die sich mit Portiken öffnen. Dort erkennt man eine Statue der in Schlaf gesunkenen Göttin Ariadne, die auf einem niedrigen Sockel ruht. Die Arkadenarchitektur ist einfach gehalten und unterstreicht den Eindruck von Stille und Verlassenheit.

Giorgio de Chirico: Piazza dItalia (1952); Genua, Galleria dArte Moderna
Die Inspiration zu dieser Bildidee der menschenleeren Plätze mit Arkaden, Monumenten und Türmen erhielt de Chirico durch das Erlebnis italienischer Platzanlagen – vor allem in Florenz, Ferrara und Turin. Seine erste Vision dieser Plätze beschreibt er ausführlich: „An einem klaren Herbstnachmittag saß ich auf einer Bank auf der Piazza Santa Croce in Florenz. Ich sah diesen Platz gewiss nicht zum ersten Mal. Ich hatte gerade eine langwierige, schmerzhafte Darmerkrankung hinter mir und befand mich in einem Zustand fast morbider Sensibilität. Es kam mir vor, als wäre die ganze Natur, selbst der Marmor der Bauten und Brunnen, im Zustand der Wiedergenesung. In der Mitte des Platzes steht eine Statue, die Dante darstellt (…) Die laue und liebelose Herbstsonne beschien die Statue und die Fassade des Tempels. Da hatte ich den seltsamen Eindruck, als sähe ich das alles zum ersten Mal. Da kam mir die Komposition meines Gemäldes in den Sinn; und jedes Mal, wenn ich das Bild ansehe, sehe ich diesen Augenblick wieder: Doch der Augenblick ist ein Rätsel für mich, denn er ist unerklärlich“ (de Chirico 2011, S. 91).

Giorgio de Chirico: Piazza dItalia (1921); Mannheim, Kunsthalle

Der Aspekt einer überraschend auftretenden Entfremdung von der gewohnten Welt ist ein wesentliches Inspirationselement de Chiricos. Das neue, unvoreingenommene Sehen des Alltäglichen empfindet er, wie er schreibt, als Ausdruck des Rätsels, als Geheimnis: „Man muss das Rätsel der Dinge lösen, die allgemein als unbedeutend angesehen werden. Alles, was auf der Welt existiert, muss wie ein Rätsel gemalt werden“ (Pfleger 1992, S. 279). Aus dieser Haltung entstehen die beklemmenden Szenerien der großen, einsamen Plätze, die überwiegend in die melancholisch anmutenden Farben Grün, Ocker und Grau getaucht sind. Ein merkwürdig fahles Licht schlägt lange, dunkle Schatten. Die Perspektive, die mehrere Fluchtpunkte in einem Bild vereint, irritiert und entwickelt durch die stark verkürzten Fluchtlinien einen bedrohlichen Sog. In den „Piazza“-Darstellungen aus Köln und Mannheim wird die den Regeln der Zentralperspektive widersprechende, inkohärente Projektion des Raumes mit der Einfügung eines Quaders im Vordergrund nochmals gesteigert. „Die Dinge entfalten somit ein Eigenleben und werden zu Trägern des Rätsels“ (Pfleger 1992, S. 279).

Bis auf wenige Ausnahmen zeigen fast alle Bilder der „Piazza“-Serie eine Statue der schlafenden Göttin Ariadne. Ariadne, eine Tochter des Königs Minos, verletzte das von dem Mischwesen Minotaurus gehütete Geheimnis des Labyrinths, indem sie Theseus ein Garnknäuel gab, das diesem half, aus dem Labyrinth wieder herauszufinden. Sie flüchtete mit Theseus, wurde aber auf Naxos von ihm zurückgelassen. Dort fand Dionysos die in Melancholie verfallene Ariadne und wählte sie zu seiner Gemahlin. In der Philosophie Nietzsches verbindet sich der Ariadne-Mythos mit dem Geist der Wissenschaft und Erkenntnis, mit dem Rätsel und der Melancholie. Die Begegnung mit den Gedanken Nietzsches war für de Chirico von zentraler Bedeutung und gab nach seinen eigenen Worten den Anstoß zu der Darstellungsreihe der „Italienischen Plätze“, die er in einen magischen Raum der Melancholie und der Entfremdung verwandelt.

Giorgio de Chirico: Piazza dItalia (1913); Buenos Aires, Museo Nacional de Bellas Artes

Die Plätze werden meist im Hintergrund von einer Mauer abgeschlossen. Jenseits der Mauer erkennt man in der Kölner Version ein Segel, als grenzte die Szene ans Meer. In der Mannheimer Darstellung dagegen fährt entlang der Mauer ein Zug, die Lokomotive stößt den Rauch fast senkrecht in den Himmel. Die Motive Segelboot und Lokomotive kehren in vielen frühen Bildern de Chiricos wieder und symbolisieren Ankunft und Abschied; sie stehen ganz allgemein für die Lebensreise, aber auch für die Reise des Künstlers ins Neue, Unbekannte. Das Genueser Bild zeigt im Hintergrund anstelle der Transportmittel die Eingangsfront eines Gebäudes, das aufgrund seiner architektonischen Gestalt und der großen Uhr auf der Fassade als Bahnhof gedeutet werden kann und ebenso den Gedanken der Reise einbringt.

Schon sehr früh hatte de Chirico begonnen, seine Kompositionen selbst zu wiederholen, sei es aus eigenem Interesse oder um dem Wunsch eines Auftraggebers zu entsprechen. So waren gerade die Darstellungen aus de Chiricos 1909 einsetzender „metaphysischer Periode“ im Kreis der Surrealisten sehr begehrt. Obwohl de Chirico diese Periode bereits 1919 als abgeschlossen betrachtete, bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, Repliken oder weitere Fassungen von Bildern aus dieser Zeit anzufertigen. Darüber hinaus kehrte de Chirico während seines Schaffens immer wieder zu den Gemälden seiner Frühzeit zurück, sodass man von einer systematischen Wiederaufnahme gleicher Themen in seinem Werk sprechen kann.

In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zeigte de Chirico auf Ausstellungen neben Arbeiten der aktuellen Phase auch Kopien seiner „metaphysischen“ Bilder. Alle Werke wurden mit Absicht ohne Datum präsentiert. Die von de Chirico so selbstverständlich geübte Praxis der mehrfachen Reproduktion seiner Schöpfungen und das Nebeneinander von Bildern verschiedener, gar gegensätzlicher Schaffensphasen stieß beim Publikum häufig auf Unverständnis – ermutigte aber unglücklicherweise zahlreiche Betrüger, Kopien von seinen Werken herzustellen. Der Künstler wurde Opfer von großangelegten und mit System betriebenen Fälschungen und zählt zu den meistgefälschten Malern des 20. Jahrhunderts.

 

Glossar

Tempietto (italienisch für Tempelchen) bezeichnet kleine Bauwerke in Tempelform, meist als Rundtempel mit Säulen und Kuppel ausgeführt.

Als Portikus (die Portikus, Plural: Portiken) wird in der Architektur ein Säulengang oder eine Säulenhalle mit horizontal aufliegendem Gebälk bezeichnet.

 

Literaturhinweise

de Chirico, Giorgio: Das Geheimnis der Arkade. Erinnerungen und Reflexionen. Schirmer/Mosel, München 2011;

Pfleger, Susanne: Giorgio de Chirico, Piazza d‘Italia, 1952/1956. In: Dietmar Elger (Hrsg.), Die Metamorphosen der Bilder. Sprengel Museum, Hannover 1992, S. 278-283.


Freitag, 1. März 2024

Der gespreitete Kadaver eines Gottes – Matthias Grünewalds „Kreuzigung Christi“ aus Karlsruhe

Matthias Grünewald: Kreuzigung Christi (um 1523/25); Karlsruhe,
Staatliche Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken)
Von Matthias Grünewald (1480–1528) sind fünf Gemälde der „Kreuzigung Christi“ überliefert: eine mittelgroße Tafel im Basler Kunstmuseum; eine etwas kleinere Komposition in Washington; die Kreuzigung, die auf den großen Klapptafeln der ersten Schauseite des Isenheimer Altars in Colmar dargestellt ist; die Vorderseite einer 1883 gespaltenen Tafel aus Tauberbischofsheim (heute in Karlsruhe), sowie die 2005 in die Sammlung Würth nach Schwäbisch Hall gelangte Kopie nach dem verschollenen Fragment eines Altarbildes, dessen ursprünglicher Standort unbekannt ist. Die vier originalen Gemälde geben die „Kreuzigung Christi“ mit sehr reduziertem Personal wieder und konzentrieren ihre Aussage auf Christus am Kreuz und auf zwei bis vier seiner um ihn trauernden und klagenden Anhänger. Näher betrachtet werden soll hier die Die Kreuzigung Christi aus Karlsruhe, deren Rückseite, eine Kreuztragung Christi, ich bereits vorgestellt habe (siehe meinen Post „Er lud auf sich unsre Schmerzen“). Die zwei Gemälde bildeten einst das beidseitig bemalte Hauptbild eines sonst zerstörten Retabels, das wohl einmal am Eingang zum Chor der Tauberbischofsheimer Stadtpfarrkirche stand.

Matthias Grünewald: Kreuzigung Christi (um 1505/10); Basel, Kunstmuseum

Christus am Kreuz, das die ganze Breite und Höhe der Tafel einnimmt, wird flankiert von Maria und Johannes: Auf diese drei, vor dunklem Hintergrund aufscheinenden Protagonisten beschränkt sich Grünewald bei seiner Tauberbischofsheimer Kreuzigung. Damit wählte er einen der ältesten Bildtypen dieses Themas, der auch als „Kanonbild“ bezeichnet wird, weil die dreifigurige symmetrische Kreuzigungsgruppe in der mittelalterlichen Buchmalerei und im frühen Buchdruck als Schmuckbild des Messbuchs am Beginn des Kanons erscheint, also am stets gleichbleibenden Gebetsteils der Messe.

Maria und Johannes verharren nah unter den ausgestreckten Armen des Gekreuzigten. Die trauernde, in ihr Leid ergebene Mutter Jesu steht wie erstarrt zur Rechten ihres Sohnes. Sie hat den mit einem Tuch verhüllten Kopf gesenkt, die weinenden Augen niedergeschlagen und die gefalteten Hände vor die Brust genommen. Dagegen ringt der von Schmerz übermannte Johannes die Hände, reckt die Arme vor, wirft den Kopf in den Nacken und strebt, den Blick auf seinen Herrn geheftet, in stürmischer Bewegung auf das Kreuz zu. Der verzweifelte Jünger hat den Mund geöffnet und scheint um Worte zu ringen.

Christus ist mit drei großen Nägeln an das rohe Kreuz geschlagen. Sein entstellter, verwesender Körper hängt schwer an den überdehnten Armen; die Hände spreizen sich, und das Querholz des Kreuzes verbiegt sich unter der Last des Toten. Der Leichnam Jesu hat sich im Herabsacken nach rechts verschoben, und die verquollenen, auf einem klobigen Holzblock (Suppedaneum) aufsetzenden Füße haben sich um den Nagel gedreht und weisen auf Johannes. Bei dieser Torsion und Dehnung ist der Oberkörper etwas nach vorne gekippt, nach links eingeknickt und das Haupt auf die Brust gesunken, sich Maria zuneigend. Unter der tief in die Stirn gepressten, mächtig ausladenden Dornenkrone ist das verschattete, schmerzverzerrte Gesicht mit dem offenen Mund zu erkennen. Aus dem Lanzenstich in der Seite und den Nagelwunden quillt Blut. Ein zerschlissenes Tuch ist um Christi Hüften geknotet und hängt in Lumpen um seine Beine.

Matthias Grünewald: Kreuzigung Christi (um 1511/20);
Washington D.C., National Gallery of Art

In die vorderste Bildzone und in scheinbar greifbare Nähe zum Betrachter rückt der Maler die drei Figuren. In farblichem Kontrast zum nachtschwarzen Hintergrund wird der zu Tode gemarterte Christus in seiner tiefsten Erniedrigung präsentiert, rechts von ihm die mit ihm leidende und seelisch sterbende Maria als Verkörperung der christlichen „compassio“ und Teilhaberin am göttlichen Erlösungswerk, links von ihm der Jünger Johannes, einer der wichtigsten Zeugen des Sterbens Jesu. In seinem Evangelium findet sich das dritte der „Sieben Worte Jesu am Kreuz“: „Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (Johannes 19,26-27; LUT).

Grünewald geht es bei seinem Bild darum, den für die Menschen leidenden und ihre Sünden für alle Zeit sühnenden Christus zu zeigen. Wirkungsabsicht ist es, den Gläubigen „in unmittelbare, diesseitige Nähe des Erlösers zu führen, ihn im Innersten zu erschüttern, sein Mitleiden zu wecken, ihn letztlich auf den Pfad der Christus-Nachfolge zu führen und seinem Leben eine heilsversprechende Richtung zu weisen“ (Lüdke 2007, S. 212). Wie bei seinen anderen Passionsbildern auch arbeitet Grünewald bei der Tauberbischofsheimer Kreuzigung Christi mit den Mitteln der Übersteigerung. So betont er die leidvollen Gesichtszüge Jesu, vervielfacht seine Wunden, deformiert und überzeichnet die Körperformen, verhässlicht den Gottessohn, bekrönt ihn mit einem monströsen Dornenkranz und macht die Last des am Kreuz hängenden Leichnams sichtbar. Außerdem vergrößert er die Figur Jesu im Vergleich zu Maria und Johannes in bedeutungssteigernder Absicht, wie es auch im Isenheimer Altar der Fall ist – ein oft genutztes Stilmittel spätmittelalterlicher Malerei. 

Matthias Grünewald: Isenheimer Altar/Kreuzigung Christi (1512-1516); Colmar, Musée d'Unterlinden
Crucifixus dolorosus (um 1300); Köln, St. Maria im Kapitol

Grünewald greift bei seiner Darstellung auf den Typus der aus dem erzählerischen Kontext der Evangelien herausgelösten crucifixi dolorosi zurück, das heißt, auf im 14. und frühen 15. Jahrhunderts entstandene, farbig gefasste Bildwerke des Gekreuzigten, bei deren Anblick sich der Gläubige in das Leiden Christi versenken soll (siehe meine Post „Um unsrer Sünden willen zerschlagen“). Eindrucksvolle Beispiele für diesen Bildtypus finden sich in St. Maria im Kapitol in Köln, in Andernach, Friesach oder Warschau. Die drastische Darstellung des geschundenen Körpers Jesu und seines von tödlicher Erschöpfung entstellten Gesichts verweist auf das bekannte alttestamentliche Prophetenwort aus Jesaja 2-4: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre“ (LUT). Von der göttlichen Natur Christi ist bei Grünewald nichts, rein gar nichts zu erkennen. Damit übertrifft er deutlich viele vergleichbare Werke der spätmittelalterlichen Malerei und Plastik an Eindringlichkeit.

Die berühmte Beschreibung der Kreuzigung Christi, die der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans (1848–1907) in seinem Roman Là-Bas („Tief unten“) 1891 veröffentlichte und die in deutscher Übersetzung erstmals 1895 in der Kunstzeitschrift Pan erschien, markiert übrigens den Beginn der Entdeckung Grünewalds durch die Künstler und Kunsttheoretiker der Moderne in Deutschland. Das deutlich zunehmende Interesse deutscher Künstler an Grünewald lässt sich ablesen an Berichten von Fahrten zu dessen Werken und an Kommentaren in Tagebüchern und Briefen: 1904 war Max Beckmann in Colmar (wo sich der Isenheimer Altar noch beute befindet), 1906 sah sich Paul Klee in Karlsruhe die Kreuzigung Christi an und beschrieb  Grünewald als „ganz Wilden“ und „psychisch begabten Kerl“; August Macke „wallfahrtete“ 1909 auf seiner Hochzeitsreise zum Isenheimer Altar (Heinemann 2003, S. 10). Huysmans bedeutsamer, ebenso pathetischer wie poetischer Text sei hier noch in voller Länge angefügt:

 

„Und schaudernd erbebte er in seinem Sessel und schloß so fest die Augen, daß es fast schmerzte. In außergewöhnlicher Schärfe sah er dieses Bild jetzt, wo er es heraufbeschwor, wieder vor sich, dort, ganz nah, und den Ausruf der Bewunderung, welchen er getan hatte, als er den kleinen Saal des Kasseler Museums betrat – innerlich schrie er den nun abermals, da in seinem Zimmer sich furchterregend der Christus an seinem Kreuz erhob, durch dessen Längsbalken statt des Querholzes ein schlecht entrindeter Ast getrieben war, der sich gleich einem Bogen unter der Last des Körpers krümmte.

Dieser Ast schien jeden Augenblick wieder hochschnellen zu wollen, um es mitleidsvoll aus jener Heimstätte von Schmach und Verbrechen weit fortzuschleudern, dieses arme Fleisch, doch der riesige Nagel, welcher die Füße durchbohrte, hielt es fest, streckte es bodenwärts.

Aus der Schulter gerenkt, ja fast herausgerissen, wirkten die Arme des Christus angesichts der gewundenen Muskelriemen wie in ganzer Länge von einer Schraubspindel verwrungen. Die lahmgezerrte Achselhöhle krachte, die weit geöffneten Hände schwangen angstwilde Finger – und doch sagten diese auch dank es war eine wirre Geste zwischen Gebet und Anklage, die Brust erzitterte und glänzte, von Schweißbachen eingefettet, der Oberkörper trug, da das geblähte Rippengehäuse sich verräterisch abzeichnete, faßbandige Querstreifen, die Fleischpartien schwollen auf, salpetrig und blau angelaufen, grün durchfleckt von Flohbissen, übersät mit vielen nadelstichartigen Wunden dort waren Rutenspitzen eingedrungen, unter der Haut abgebrochen und spickten diese stellenweise jetzt noch mit Splittern.

Die Stunde der eitrigen Sekrete war gekommen, aus der flutenden Seitenwunde rann es dichter, überschwemmte die Hüfte mit einem Blut, das dunklem Brombeermost glich, schmutzig-rosarieselnde Serumwasser, dünne Molken, Säfte, blaßroten Moselweinen ähnelnd, entsickerten der Brust, netzten den Bauch, darunter wand sich, beulig geschlungen, ein großes Stück Leinen, etwas tiefer dann stießen sich die zusammengezwungenen Knie gegenseitig ihre Scheiben wund, und die verdrehten Unterschenkel wölbten sich, nach außen gekrümmt, bis hin zu den Füßen, die, aufeinandergesteckt, immer noch länger wurden, die mitten in der Verwesung noch wuchsen, von Blutströmen zum Ergrünen gebracht. Gräßlich waren sie anzuschauen, diese schwammigen, klumpig verdickten Füße, das Fleisch trieb Sprossen, wucherte über den Nagelkopf, und die gekrümmten Zehen widersprachen der flehenden Geste der Hände, schleuderten Verwünschungen, zerkrallten beinahe mit ihren bläulichen Hornplatten das Ockergelb des Bodens – eines ebenso eisengesättigten Bodens wie die purpurrote Erde Thüringens.

Über diesem aufberstenden Leib erschien, gewaltig und voll heftiger Unruhe, das Haupt. Umflochten mit einer nachlässig gefertigten Dornenkrone, hing es kraftlos herab, öffnete kaum spaltbreit ein brechendes Auge, in dem immer noch ein Blick schauderte vor Schmerz und Furcht, das Antlitz war zerklüftet, die Stirn eingeebnet, die Wangen waren vertrocknet, alle Gesichtszüge weinten, fassungslos, der entsiegelte Mund jedoch lachte mit seiner von scheußlichen Starrkrämpfen geschüttelten und verzogenen Kinnlade.

Fürchterlich war die Marterung gewesen, der Todeskampf hatte die Heiterkeit der nun geflohenen Peiniger fortgeschreckt.

Jetzt schien es, als ob unter dem nachtblauen Himmel das Kreuz sich vornüber neigte, sehr tief, fast bis auf den Boden, und bei dem Kreuz wachten zwei Gestalten, eine zur Linken, eine zur Rechten des Heilands stehend – die erste, die Heilige Jungfrau, trägt einen Schleier, blaß-rot wie wäßriges Blut, der dichtgewellt über einen langfaltigen, schwach azurfarben schimmernden Rock fällt, die Heilige Jungfrau reglos und bleich, das Gesicht tränenverquollen, schluchzt sie starren Auges, gräbt sich die Nagel der einen in die Finger der anderen Hand, – die zweite Gestalt ist der heilige Johannes: eine Art Vagabund oder grober schwäbischer Bauernkerl, sonnenverbrannt, ums Kinn einen sich in lauter dünnen Hobelspänen kräuselnden Bart, bekleidet mit steifen, breitflächigen Stoffen, die aus Baumrinde geschnitten sein könnten, einem scharlachfarbenen Rock, einem sämischgelben Mantel, dessen Futter, bei den Ärmeln nach außen gewendet, das Fiebergrün unreifer Zitronen anzunehmen begann. Entkräftet vom vielen Weinen, aber widerstandsfähiger als die gebrochene und abgewiesene, sich jedoch immerhin noch aufrecht haltende Maria, schwingt Johannes die gefalteten Hände empor, reckt sich hoch zu jenem Leichnam, den er aus geröteten und trüben Augen betrachtet, und stößt, fast erstickend im Aufruhr seiner tonlosen Kehle, stumme Schreie aus.

Ach, vor diesem blutbeschmierten, tränenverschwommenen Kalvarienberg war man wahrhaftig weit entfernt von jenen übermilden Golgathas, die sich die Kirche seit der Renaissance zu eigen macht! Dieser Christus in Starrkrämpfen war nicht der Christus der Reichen, der galiläische Adonis, der kerngesunde Schönling mit rotblonden Locken, mit ordentlich zweigeteiltem Bart, mit faden, ritterpferdähnlichen Zügen, nicht der hübsche junge Bursche, den die Gläubigen seit vierhundert Jahren anbeten. Dieser dort, das war der Christus des heiligen Justinus, des heiligen Basilius, des heiligen Cyrillus, des Tertullian, der Christus der ersten Jahrhunderte der Kirche, ein Christus, gemein und häßlich, weil er die volle Summe der Sünden auf sich nahm und aus Demut sich in die verächtlichste der Gestalten kleidete.

Es war Dieser der Christus der Armen, Derjenige, welcher sich gerade den Elendsten unter denen, die zu erlösen er kam, angeglichen hatte, den Mißgebildeten und den Bettlern, all jenen, deren Häßlichkeit oder Bedürftigkeit die Menschen in ihrer Gemeinheit stetig zusetzen; auch war dies der menschlichste der Heilande, ein Christus in der ganzen Jämmerlichkeit und Schwachheit seines Fleisches, verlassen vom Vater, der erst eingegriffen hatte, als kein neuer Schmerz mehr möglich war; der Christus, dem nur noch seine Mutter zur Seite stand, nach der er wohl, wie alle Gemarterten, mit kindlichen Schreien gerufen haben wird, nur noch seine Mutter, nunmehr ohnmächtig zu helfen und von keinerlei Nutzen.

Zweifellos durch Aufbieten letzter Demut hatte er es ertragen, daß seine Passion keineswegs die der Reichweite der Sinne gezogenen Grenzen überstieg; und unbegreiflichen Weisungen folgend hatte er sich drein gefügt, daß seine Göttlichkeit gleichsam unterbrochen wurde für die Zeit der Peinigungen – von den Backenstreichen und Rutenschlägen, Beschimpfungen und Bespeiungen, von all diesen kleinen Plünderakten des Leidens bis hin zu den grauenvollen Schmerzen einer endlosen Agonie. So hatte er es leichter bewältigen können, dieses Leiden, Röcheln, dieses Verrecken, schmutzig, schändlich wie das eines Strauchdiebs, wie das eines Hundes: indem er in jener Erniedrigung bis zum Äußersten ging, bis hin zur Schande der Verwesung, bis hin zum schlimmsten Schimpf des Eiters!

Wahrlich, noch niemals war der Naturalismus zu solchen Sujets durchgebrochen; noch niemals hatte je ein Maler derart das göttliche Beinhaus zu Paste gerührt und so brutal seinen Pinsel in die Paletten der Körpersäfte und in die blutigen Farbnäpfe der Wundlöcher getaucht. Es war ohne Maß, und es war entsetzlich. Grünewald war der besessenste der Realisten; doch betrachtete man ihn länger, diesen Erlöser aus der Gosse, diesen Gott aus der Leichenhalle, so änderte sich das Bild. Aus dem verschwärten Haupt drangen helle Schimmer: ein Ausdruck des Übermenschlichen erleuchtete die auf gequollenen Fleischpartien, die verkrampften Züge. Dieser gespreitete Kadaver war der eines Gottes, und ohne Aureole, ohne Nimbus, ausstaffiert lediglich mit jener zerzausten, von rotkörnigen Blutsprenkeln besäten Dornenkrone, erschien Jesus in seiner ganzen himmlischen Überwesenheit zwischen der niedergeschmetterten, tränentrunkenen Jungfrau Maria und dem heiligen Johannes, dessen leergebrannte Augen keine Träne mehr zu schmelzen vermochten.

Diese Gesichter, die anfangs so gewöhnlich gewirkt hatten – nun erstrahlten sie, verklärt durcheine unerhörte, alle Maße sprengende Seelengröße. Es gab da keinen Straßenräuber mehr, keine arme Frau, keinen Bauernlümmel, sondern es standen überirdische Wesen zu Seiten eines Gottes.

Grünewald war der besessenste der Idealisten. Noch niemals hatte je ein Maler so großartig die Höhe gepriesen und so entschlossen den Aufsprung vom Gipfel der Seele in ein wildbewegtes Himmelsrund gewagt. Bis zu beiden Extremen war er gegangen und hatte aus triumphalem Unrat die feinsten Minzwässer der Liebesempfindungen, die beißendsten Essenzen der Tränen herausgefiltert. In diesem Gemälde offenbarte sich das Meisterwerk jener Kunst, die unausweichlich dazu bestimmt war, das Unsichtbare und das Greifbare wiederzugeben, die tränenverwaschene Schäbigkeit des Körpers kundzutun, der endlosen Seelenbedrängnis Erhabenheit zu verleihen.“

 

Literaturhinweise

Aurnhammer, Achim: Joris-Karl Huymans‘ Supranaturalismus im Zeichen Grünewalds und seine deutsche Rezeption. In: Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Moderne und Antimoderne der „Renouveau catholique“ und die deutsche Literatur. Beiträge des Heidelberger Colloquiums vom 12 bis 16. September 2006. Rombach Verlag, Freiburg 2006, S. 17-42;

Heinemann, Katharina: Entdeckung und Vereinnahmung. Zur Grünewald-Rezeption in Deutschland bis 1945. In: Brigitte Schad und Thomas Ratzka (Hrsg.), Grünewald in der Moderne. Die Rezeption Grünewalds im 20. Jahrhundert. Wienand Verlag, Köln 2003, S. 8-17;

Huysmans, Joris-Karl: Tief unten. Übersetzt und herausgegeben von Ulrich Bossier. Philipp Reclam jun., Stuttgart 1994, S. 11-16;

Lüdke, Dietmar: Die „Kreuzigung“ des Tauberbischofsheimer Altars im Kontext der Bildtradition. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 209-214;

Pressl, Claus: Grünewald und die Nation. Ein Beitrag zur Rezeption des Künstlers in Deutschland. In: Johanna Aufreiter u.a. (Hrsg.), KunstKritikGeschichte. Festschrift für Johann Konrad Eberlein. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2013, S. 313-331; 

Reuter, Astrid: Zur expressiven Bildsprache Grünewalds am Beispiel des Gekreuzigten. In: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hrsg.), Grünewald und seine Zeit. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2007, S. 78-86;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.


Mittwoch, 21. Februar 2024

Erhabene Überlegenheit – das Reiterstandbild des Marc Aurel auf dem Kapitol


Marc Aurels Reiterstandbild – ursprünglich komplett vergoldet
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Die überlebensgroße Bronzestatue des Marc Aurel ist das einzig vollständig erhaltene Reiterstandbild der Antike und dazu das einzige eines römischen Kaisers – eines Kaisers, der als Inbegriff des philosophischen Herrschers galt. Es ist das Vorbild der großen Reiterstatuen der Gotik wie dem Bamberger Reiter, der Renaissance und des Barock wie dem Gattamelata von Donatello in Padua, dem Colleoni von Verrocchio in Venedig und dem Großen Kurfürsten von Schlüter Unter den Linden in Berlin (siehe auch meinen Post „Der Söldnerführer von Padua“).
Das ursprünglich vollständig vergoldete Reiterbildnis ist wahrscheinlich um 176 n.Chr. im Wachsausschmelzverfahren geschaffen worden, wohl im Zusammenhang mit dem Sieg über die Markomannen und Samarten im gleichen Jahr. 782 wurde es am Lateranspalast in Rom aufgestellt, den Kaiser Konstantin durch die Erlöserbasilika hatte überbauen lassen. Die Statue überdauerte den allgemeinen frühmittelalterlichen Bildersturm gegen antike Kunstwerke und Monumente, weil man den Reiter für den in Rom als Heiligen verehrten Kaiser Konstantin hielt und das Standbild als Symbol ursprünglich kaiserlicher, dann päpstlicher Gerichtsgewalt ansah. Die Aufstellung des Denkmals auf päpstlichem Hoheitsgebiet, dem Lateran, ist sicherlich im Zusammenhang mit der Konstantinischen Schenkung zu sehen, jener berühmten Urkundenfälschung des 8. Jahrhunderts, die Konstantin zum Garanten des weltlichen Machtanspruches der Päpste erklärt hatte.
1475 erkannte Platina, der 1475 ernannte erste Bibliothekar der damals begründeten Vatikanischen Bibliothek, durch den Vergleich von Münzbildnissen die wahre Identität des Reiters mit Kaiser Marc Aurel (161–180 n.Chr.). Als das monumentale Wahrzeichen der Legitimität seiner weltlichen Herrschaft ließ Papst Paul III. Farnese die kolossale Statue am 18. Januar 1538 auf dem Kapitolinischen Hügel aufstellen. Der Reiter steht im Zentrum einer nach Entwürfen Michelangelos errichteten Platzanlage, der sich zur Mitte anhebt und dessen Bodendekor vom Sockel der Figur sternförmig ausstrahlt. 
Die von Michelangelo entworfene Platzanlage auf dem Kapitol mit dem Marc Aurel im Zentrum
Ross und Reiter sind 424 cm hoch, die Länge des Pferdes misst 384 cm; das Standbild hat also fast doppelte Lebensgröße, wobei – ein bei vielen Reiterstatuen zu beobachtender Kunstgriff – die Figur des Kaisers gegenüber dem Pferd proportional viel zu groß ist. Wahrscheinlich krümmte sich früher unter dem erhobenen rechten Vorderhuf des Pferdes ein besiegter Barbar. Gerade der Gegensatz zwischen dem am Boden kauernden Unterlegenen und der so ruhigen, herrscherlichen Pose Marc Aurels verdeutlicht die zentrale Aussage des Standbilds: Der siegreiche Kaiser gebietet Frieden. 
Dem entspricht auch die Kleidung Marc Aurels: Er ist waffenlos und trägt auch nicht, wie für einen triumphierenden Feldherrn selbstverständlich, einen reliefverzierten Metallpanzer mit Lederlaschen an den Schultern, sondern eine weit geschnittene kurze Tunika. Darüber hat er den Feldherrnmantel (paludamentum) geworfen, der an der rechten Schulter von einer großen runden Brosche (fibula) gehalten wird und bis weit auf den Pferdekörper herabfällt. An den Füßen trägt der Kaiser nicht die Feldherrnstiefel, sondern die zivilen Senatorenschuhe (calcei senatorii). Seine Unterschenkel sind nackt, die Oberschenkel werden zum Teil von der herabhängenden Tunika bedeckt, die ein breiter Stoffgürtel zusammenhält. Selbst die in die Zipfel der Tunika eingenähten Bleikügelchen, die den Stoff nach unten ziehen und schön fallen lassen, sind dargestellt. Die Bekleidung des Kaisers ist die sogenannte kleine Uniform, das heißt die bei Paraden und nicht kriegerischen Anlässen übliche Feldherrntracht. Sein einziger Schmuck ist ein einfacher, unverzierter Fingerring. 
Das Gesicht des Kaisers wird von krausem Kopfhaar, in füllige Buckellocken untergliedert, und einem dichten Bart umrahmt; dicke Oberlider hängen tief auf die Augäpfel herab. „Die hochgewölbten Augenbrauen und das dabei nahezu unbewegte Gesicht rufen den für Bildnisse Marc Aurels so charakteristischen Ausdruck von Ruhe, Unerschütterlichkeit und Distanziertheit hervor“ (Fittschen 1985, S. 72). 
Antike Bildnisbüste des griechischen Philosophen Platon; Rom, Sala delle Muse
in den Vatikanischen Museen
Den langen Vollbart werden die Zeitgenossen des Kaisers als Hinweis auf seine philosophischen Neigungen verstanden haben – Marc Aurel war ein Anhänger der Stoiker. Schon im 1. Jahrhundert n.Chr., als Bartlosigkeit in der gebildeten Welt üblich war, trugen Römer, die sich für die griechische Philosophie begeisterten, lange Bärte. Sie wollten sich auch äußerlich den durchweg bärtigen großen griechischen Philosophen angleichen, deren Porträts bekannt und in zahllosen Kopien vielerorts aufgestellt waren. „Der Bart sollte darüber hinaus auch die Verachtung für Eitelkeit und zeitraubende Körperpflege ausdrücken“ (Wünsche 1999, S. 62).
Galt jahrhundertelang als Statue Kaiser Konstantins
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Der rechte Arm Marc Aurels, der sich unterhalb der Schulterhöhe ausstreckt, wirkt mit den nach oben geöffneten Fingern, als würde er sich gerade sanft heben. Der Kaiser blickt in die Richtung der weisenden Hand, und auch das Pferd wendet seinen Kopf dorthin. Es schreitet in der Gangart des kurzen bzw. versammelten Trab: die behende, aber nur wenig ausgreifende Schrittfolge, „bei der Vorder- und Hinterhand der einen Seite zueinander, die der anderen auseinander treten, während die Vorderhand angewinkelt erhoben und die vorgreifende Hinterhand im Begriff ist, sich vom Boden zu lösen“ (Baumstark 1999, S. 99).
Marc Aurel sitzt völlig entspannt, fast lässig auf dem muskulösen Tier. Seine Beine sind vom Pferdekörper abgestreckt, weder mit Schenkeldruck noch mit kräftigem Zügeldruck dirigiert er das Ross. Die linke, zügelführende Hand ist nämlich nach oben geöffnet und muss früher ein Attribut getragen haben, möglicherweise eine Schriftrolle oder die Statuette einer Siegesgöttin. Die Zügel, die verloren sind, liefen einst wohl um Ring- und Zeigefinger. „Mit einem Wort: Den Künstler interessierte nicht der natürliche Vorgang des Reitens, er wollte mit dieser Pose Erhabenheit und herrscherliche Überlegenheit des Kaisers ausdrucken“ (Wünsche 1999, S. 60).  
Marc Aurel sitzt auf einer Reitdecke, unter der zur Polsterung drei dicke Lederschichten liegen; sie sind an den Rändern in Halbmond-, Treppen- und Zickzackform geschnitten. Dieser „Sattel“ ist mit einem Gurt unter dem Pferdebauch festgezurrt; zwei weitere Gurte, die um die Pferdebrust und den Schwanzansatz führten, sind nicht erhalten. Die Antike kannte den uns so geläufigen festen Sattel noch nicht – er wurde erst im Mittelalter entwickelt.
Der Kaiser von links – die Zügel muss man sich dazudenken
Das Pferd selbst hat einen mächtigen, gedrungenen Körper, der von relativ schlanken, aber sehr sehnigen Beinen getragen wird. Die kräftige Mähne ist ungestutzt, nur die Stirnhaare wurden über dem Kopf zusammengebunden; die Spitze dieses Haarbüschels fehlt heute. Das linke, innen fein behaarte Ohr ist in höchster Aufmerksamkeit nach vorne gerichtet, das rechte wendet sich nach hinten; Adern und Sehnen drücken sich durch die Haut, die Nüstern sind gebläht, die Lefzen über dem leicht geöffneten Mund zurückgezogen. An der Kandare sind noch die Ansatzstellen der Zügel zu sehen; die großen Schmuckscheiben und -platten des Zaumzeugs trugen ursprünglich weitere Verzierungen, worauf die Befestigungslöcher hinweisen. 
Der Pferdekopf mit hochgebundenem Haarbüschel auf der Stirn, nach vorne gewendetem linken Ohr und Schmuckplatten im Zaumzeug (für die Großansicht einfach anklicken)
Nach einem Bombenanschlag auf den Senatorenpalast (1979) wurde auch das Standbild auf eventuelle Schäden untersucht. Dabei stellte man fest, dass es zwar nicht betroffen, aber doch gründlich restaurierungsbedürftig war – es litt unter heftigem Bronzefraß. Die siebenjährige Restaurierung war erfolgreich: Heute bietet sich die Statue wieder mit der ganzen Schönheit ihrer grüngoldenen Patina dar. Seit 1990 steht das Original in einem für die Statue überdachten Hof des Konservatorenpalasts der Kapitolinischen Museen. Auf dem von Michelangelo extra für die Statue geschaffenen Postament mitten auf dem Kapitolsplatz befindet sich heute eine Bronzekopie.
Hach, die Kopie isses einfach nicht ...
Reiterstatuette Karls des Großen (um 870); Paris, Louvre
Die figürlichen Nachbildungen des Marc Aurel sind, wie bereits erwähnt, überaus zahlreich. Am Beginn steht die berühmte Reiterstatuette Karls des Großen aus dem Dom von Metz (um 870; Höhe 24 cm; heute im Louvre). Bei dem fränkischen Herrscher sind Arme und Hände allerdings umgeformt, um Reichsschwert und -apfel zu halten. Der Dresdner Marc Aurel von Antonio Filarete (1400–1469) gehört zu den berühmtesten Kleinbronzen der Frührenaissance (um 1440/45; Höhe 38,2 cm). Der Gestus der rechten Hand scheint dem Künstler noch unverständlich gewesen zu sein: Er führte den Arm zu hoch, in der Vorderansicht wirkt die ausgestreckte Rechte daher abwehrend. Hinzugefügt hat Filarete einen Prunkhelm unter dem erhobenen, heute abgebrochenen rechten Vorderfuß des Pferdes.
Antonio Filarete: Marc Aurel (um 1440/45); Dresden, Staatliche Kunstsammlungen
Aus der Fülle weiterer Beispiele seien noch auf einige bedeutsame hingewiesen:
– das Reiterdenkmal für Kaiser Joseph II. (1741–1790) vor dem Gebäude der Wiener Hofbibliothek; ausgeführt wurde das klassizistische Bronzestandbild zwischen 1795 und 1807 von Franz Anton Zauner (1746–1822). Der Bildhauer zeigt den Kaiser in antikisierender Feldherrntracht: Diese Anspielung auf das antike Rom, der ausgestreckte Arm und die Haltung des Pferdes zeigen deutlich die Auseinandersetzung mit dem Marc Aurel.  
Franz Anton Zauner: Joseph II. (1795-1807); Wien, Josephsplatz
– das Reiterstandbild des Kurfürsten Johann Wilhelm von Pfalz-Neuburg auf dem Düsseldorfer Marktplatz, ein Werk des flämischen Barock-Bildhauers Gabriel Grupiello (1644–1730), 1703 begonnen und 1711 aufgestellt, heute eines der Wahrzeichen der Landeshauptstadt.
Gabriel Grupielle: Jhann Wilhelm von Pfalz-Neuburg (1703–1711); Düsseldorf, Marktplatz
 
– das 1875 aufgestellte Carl-August-Denkmal
von Alfred von Donndorf (1835–1916) in Weimar. Der Großherzog war der wichtigste Förderer Goethes; das Standbild zeigt ihn in der Uniform eines preußischen Generals, der als Sieger aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon nach Weimar zurückkehrt.
– Von Donndorf schuf auch das Kaiser-Wilhelm-Denkmal  über dem Hengsteysee bei Hohensyburg. Zwischen 1893 und 1902 errichtet, erinnert es an den deutsch-französischen Krieg 1870/71 und den siegreichen Feldherrn-Kaiser. 
Adolf von Donndorf: Großherzog Carl-August (1875); Weimar, Platz der Demokratie

Beide Kaiser, beide Feldherrn: Marc Aurel und Wilhelm I.
– das 1913 errichtete Reiterdenkmal des Prinzregenten Luitpold von Bayern, geschaffen von 
Adolf von Hildebrand (1842–1921). Das Standbild befindet sich in der nach dem Prinzregenten benannten Straße vor dem Bayerischen Nationalmuseum in München. 
Adolf von Hildebrand: Prinzregent Luitpold von Bayern (1821–1912);
München, Luitpoldtraße

Literaturhinweise

Baumstark, Reinhold: Das Nachleben der Reiterstatue. Vom caballus Constantini zum exemplum virtutis. In: Marc Aurel. Der Reiter auf dem Kapitol. Hirmer Verlag, München 1999, S. 78-115;
Fittschen, Klaus/Zanker, Paul: Katalog der römischen Porträts in den Capitolinischen Museen und den anderen kommunalen Sammlungen der Stadt Rom. Bd. I.: Kaiser- und Prinzenbildnisse. Philipp von Zabern, Mainz 1985, S. 72ff.;
Gramaccini, Norberto: Die Umwertung der Antike – Zur Rezeption des Marc Aurel in Mittelalter und Renaissance. In: Herbert Beck/Peter C. Bol (Hrs.); Natur und Antike in der Renaissance. Liebieghaus – Museum alter Plastik, Frankfurt am Main 1985, S. 51-83;

Wünsche, Raimund: Der Kaiser zu Pferd. Zum Erscheinungsbild des Marc Aurel. In: Marc Aurel. Der Reiter auf dem Kapitol. Hirmer Verlag, München 1999, S. 58-77.

(zuletzt bearbeitet am 14. März 2024)