Mittwoch, 25. April 2018

Hinabgestiegen in das Reich des Todes – Albrecht Dürers Holzschnitt „Christus in der Vorhölle“ (1510)

Albrecht Dürer: Christus in der Vorhölle (1510); Holzschnitt
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Mit dem „Abstieg Christi in die Unterwelt“ ist die christliche Überlieferung gemeint, dass Jesus in der Nacht nach seiner Kreuzigung in die „Vorhölle“ hinabgestiegen sei und dort die Seelen der Gerechten seit Adam befreit habe. Man beruft sich dabei auf die biblischen Aussagen in Epheser 4,9 und 1. Petrus 3,19. Manche Theologen verwenden die Begriffe Scheol oder Limbus, um den von Christus betretenen Teil der Unterwelt von der Hölle der Verdammten abzugrenzen. Im apostolischen Glaubenbekenntnis wird der „Descensus Christi“ in die Worte „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ gefasst.
Christus in der Vorhölle ist der vorletzte Holzschnitt in Albrecht Dürers Großer Passion und wie Abendmahl, Gefangennahme Christi und Auferstehung Christi 1510 entstanden (siehe meine Posts „Auftakt zur Großen Passion“ und „Im Garten der Gewalt“). Dürer zeigt Christus als zentrale Figur in einer Phantasie-Architektur, dem Vorhof zur Hölle, die bestimmt wird durch einen hoch aufragenden Rundbogen. Der Erlöser hat das Höllentor gesprengt, links unten liegt am steinigen Boden einer der geborstenen Flügel. Nun kniet er an der Kante des schachtartigen Höllenzugangs, an dem sich Gestalten mit emporgereckten Armen zusammendrängen. Rettend ergreift Christus das Handgelenk eines Alten, neben dem Johannes der Täufer andächtig aufblickt. Ein langhalsiges Monster streckt seinen vogelartigen Kopf aus dem unterirdischen Gang, während ein eberköpfiger, zitzenbehängter Teufel aus einer Fensteröffnung seinen gezackten Speer gegen Christus richtet.
Sein Strahlennimbus macht Christus zur Lichtgestalt. Der muskulöse, unversehrte Körper wird von einem weißen Gewand umhüllt, dessen Zipfel emporflattert und optisch die Verbindung zu dem im Mittelgrund stehenden Adam herstellt. In seiner nicht sichtbaren Linken hält der Sohn Gottes den Kreuzstab mit flatterndem Siegesbanner. Kompositionell wird der Holzschnitt von einer Bilddiagonale dominiert, die von links oben nach rechts unten führt: Sie beginnt am Querbalken des von Adam gehaltenen Kreuzes, setzt sich fort im wehenden Mantel Christi und folgt seinem nach unten ausgestreckten rechten Arm. Der Betrachter blickt aus der Untersicht zu Christus auf und nimmt daher einen ähnlichen Standpunkt ein wie Johannes der Täufer.
Hinter Christus erscheinen die schon befreiten Stammeltern Adam und Eva und eine Kindergruppe, dazu weitere alttestamentliche Ahnen, die nur mit ihren Haarschöpfen dargestellt sind. In gelassenem Kontrapost hält Adam in seiner Rechten den Apfel, mit der Linken umfasst er das Kreuz als Zeichen der Erlösung. Die Frucht verweist auf den Fall des alten, das Marterholz auf den Sieg des neuen Adam, Christus. Hinter Adam steht, in gleichmäßigen Schatten gehüllt, Eva in Rückenansicht; Abel rechts neben Adam betet. Das aufragende Kreuz wiederum wird mit dem Stab der Siegesfahne parallelisiert, deren geblähtes Tuch die Gruppe der Geretteten überfängt und den Bogen des Höllentores aufnimmt. Die drei um den Kreuzesstamm spielenden Kinder repräsentieren die ungetauft verstorbenen Kinder, für die es nach mittelalterlichem Verständnis in der Vorhölle neben dem limbus patrum, dem Bereich für die Gerechten des Alten Bundes, einen eigenen Raum gab, den limbus puerorum. Mit den Kindern, dem Jüngling Abel, der reifen Urmutter und dem greisen Adam hat Dürer auch die vier Lebensalter dargestellt; sie stehen damit zugleich für die gesamte Menschheit, der das Erlösungswerk Christi gilt. Dürer hat sein Monogramm auf den Stein unmittelbar vor Christus gesetzt: Er bezieht sich damit ein in die Reihe derer, die der Erlösung durch Christus bedürfen – und bekundet seine eigene Heilshoffnung.
Andrea Mantegna: Christi Abstieg zum Limbus (um 1475); Kupferstich
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Albrecht Dürer: Das Männerbad (1496); Holzschnitt (für die Großansicht anklicken)
Michelangelo: David (1501-1504); Florenz, Galleria
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Das Bogenhorn blasende Ungeheuer mit Fledermausflügeln, Schuppenschwanz, Hängebrüsten und widdergehörntem Kopf ist eine Adaption aus Andrea Mantegnas Kupferstich Christi Abstieg zum Limbus. Auch bei Mantegna gibt es einen Nackten, der das Kreuz mit der Linken umfasst (er gilt als der gute Schächer Dismas). Adams kontrapostische Haltung ist verwandt mit der des Flötenbläsers in Dürers frühem Männerbad. Der herabhängende rechte Arm Adams mit dem abgeknickten Handgelenk wiederum könnte auf den kurz zuvor entstandenen David Michelangelos verweisen.

Literaturhinweise
Fröhlich, Anke: Christus in der Vorhölle, 1510. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band II: Holzschnitte. Prestel Verlag, München 2002, S. 208-210;
Hoffmann, Konrad: Dürers Darstellungen der Höllenfahrt Christi. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 25 (1971), S. 75-106.
Kuder, Ulrich/Luckow, Dirk (Hrsg.): Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgrafik der Dürerzeit. Kunsthalle zu Kiel, Kiel 2004, S. 217.

(zuletzt bearbeitet am 7. Mai 2020)

Donnerstag, 5. April 2018

Im Garten der Gewalt – Albrecht Dürers „Gefangennahme Christi“ (1510)

Albrecht Dürer: Gefangennahme Christi (1510); Holzschnitt
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Die Gefangennahme Christi gehört zu Dürers Große Passion genannter und 1511 in Buchform erschienener Folge von 11 Holzschnitten. Thema des Zyklus sind Leiden, Tod und Auferstehung Christi. Die Gefangennahme zählt mit dem Abendmahl (siehe meinen Post „Auftakt zur Großen Passion“), Christus in der Vorhölle und Auferstehung zu den vier 1510 entstandenen Blättern, die Dürer den sieben zwischen 1496 und 1500 geschaffenen Holzschnitten für die Veröffentlichung hinzufügte.
Häscher mit Lanzen, Knüppeln und Hellebarden haben Christus zu nächtlicher Stunde ergriffen und zerren ihn nun aus dem Garten Gethsemane nach Jerusalem vor die Hohepriester und Schriftgelehrten (Matthäus 26,47-68). Durch Größe und Lichteinfall hervorgehoben, überragt Jesus die Masse der bewaffneten Schergen. Ein Kriegsknecht mit gepanzerter Faust hat den Halsausschnitt seines Gewandes gepackt, ein anderer zieht ihn an einem um den Bauch gelegten Strick voran, während ihm ein dritter die Hände auf den Rücken fesselt. Finger einer Hand drücken Christus grobschlächtig den Kopf nach hinten – wohl zum Judaskuss. Dass es sich bei der bärtigen Figur nah an Jesu Gesicht um den Verräter handelt, verdeutlicht der (nicht auf Anhieb zu erkennende) Geldbeutel, den er in seiner Rechten hält.
Hinter Jesu Rücken spielt sich eine weitere gewaltsame Auseinandersetzung ab: Petrus kämpft mit Malchus, einem Knecht des Hohepriesters Kaiphas, dem der Jünger ein Ohr abschlagen wird. Dürer stellt hier simultan dar, was im biblischen Bericht aufeinanderfolgt – das gilt auch für den Judaskuss. Den Ölberg gibt Dürer als struppig bewachsene, im Dunkeln liegende Anhöhe wieder. Auf der linken Seite ist im Hintergrund ein Gartentor geöffnet; der vorangehende Holzschnitt Christus am Ölberg zeigt, wie die Häscher durch dieses Tor in den Garten Gethsemane eindringen, während ein Engel Jesus den Kelch des Leidens reicht.
Albrecht Dürer: Christus am Ölberg (1496/97); Holzschnitt
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Einige der mitgeführten Waffen ragen schräg über das Wirrwarr der Köpfe hinaus und korrespondieren mit der Körperhaltung Christi, der sich gegen seine Gefangennahme zu sträuben scheint. Über dem Kopf des Verräters ragt ein verrottender Stamm empor, was auf sein weiteres Schicksal vorausweist. Der Himmel ist bis auf eine helle Wolkenformation über dem beleuchteten Hügel dunkel. Im beschatteten Hintergrund flüchtet ein Jünger vor einem Soldaten; retten kann er sich nur, indem er sein Gewand, das der Häscher bereits gepackt hat, zurücklässt und nackt flieht (Markus 14,51-52).
Martin Schongauer: Gefangennahme Christi (um 1475); Kupferstich
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Meister der Karlsruher Passion:; Gefangennahme Christi (um 1450); Köln,
Wallraf-Richartz-Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Als Anregung für Dürers Holzschnitt gilt zum einen ein Kupferstich von Martin Schongauer (1448–1491), der ebenfalls die Gefangennahme Christi zeigt: Obwohl es keine direkten Übernahmen gibt, ist Dürers Szene erkennbar von Schongauers Grafik beeinflusst (siehe meinen Post Kunstvoll gestochenes Leiden“) – beide Arbeiten betonen weniger den Judaskuss als vielmehr die Wegführung Christi. In der Drastik der Schilderung und der bedrohlichen Ausstrahlung der Nachtszene bezieht sich Dürer außerdem deutlich auf die Gefangennahme Christi der Karlsruher Passion, die er in Straßburg gesehen haben könnte und die auch bereits Schongauer bekannt gewesen ist (siehe meinen Post „Der unvollständige Leidensweg“). 
Andrea Mantegna: Tritonenkampf, rechte Hälfte (um 1475); Kupferstich
Das Motiv des nach links gewandten, mit seinem Schwert zuschlagenden Petrus könnte Dürer wiederum aus Andrea Mantegnas Kupferstich Tritonenkampf übernommen haben, wo in der rechten Bildhälfte ein Seekentaur auf die gleiche Weise zum Hieb mit einem Knochen ansetzt. Der Nürnberger Meister hatte die italienische Grafik 1494 nachgezeichnet.

Literaturhinweise
Kuder, Ulrich/Luckow, Dirk (Hrsg.): Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgrafik der Dürerzeit. Kunsthalle zu Kiel, Kiel 2004, S. 212;
Fröhlich, Anke: Die Gefangennahme Christi, 1510. In: Albrecht Dürer, Das druckgraphische Werk. Band II: Holzschnitte. Prestel Verlag, München 2002, S. 188-190.

(zuletzt bearbeitet am 4. April 2019)