Mittwoch, 29. April 2020

Wieder lebendig – Guercinos „Heimkehr des verlorenen Sohnes“ (1619)

Guercino: Die Heimkehr des verlorenen Sohnes (1619); Wien, Kunsthstorisches Museum
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Der Barockmaler Giovanni Francesco Barbieri (1591–1666) gehörte im 17. Jahrhundert neben den Gebrüdern Annibale und Ludovico Carracci (1560–1609 und 1555–1619) sowie Guido Reni (1575–1642) zu den wichtigsten Künstlern in Bologna. Weil er auf dem rechten Auge schielte, wurde er „Guercino“ genannt. Das hier gezeigte Gemälde aus Wien ist ein Frühwerk des Künstlers (1619 entstanden) – das erste von insgesamt sieben Bildern, auf denen er die Heimkehr des verlorenen Sohnes dargestellt hat. Die Szene gehört zum Schluss der bekannten neutestamentlichen Erzählung (Lukas 15,11-32), wo der Vater unmittelbar nach der Rückkehr des Sohnes seinen Knechten Anweisungen erteilt: „Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein!“ (Lukas 15,22-23; LUT).
Rechts, vom Bildrand angeschnitten, ist ein Knecht mit Gewand und Schuhen herbeigeeilt; der Vater nimmt ihm sogleich das kostbare Kleid vom Arm, um es dem Sohn überzustreifen. Der zieht derweil sein zerlumptes Hemd aus, sodass sein nackter, durchaus nicht ausgemergelter Oberkörper zu sehen ist, den der Maler durch das Spiel von Licht und Schatten besonders effektvoll hervorhebt. Die Dreiviertelfiguren sind nah an den Bildrand herangerückt; Zentrum des Bildes, wenn auch nicht die geometrische Mitte, sind ihre Hände und das, was sie tun. Guercinos Gemälde gehört zu seinen Frühwerken, die gekennzeichnet sind durch asymmetrische Kompositionen, heftig bewegte, sich überschneidende Figuren, ein unruhiges Licht, das die Formen fragmentiert, und durch eine tiefe dunkle Farbigkeit. Der Theologe Karl Heinrich Rengstorf hat sich mit dem Gewand, das für den zurückgekehrten Sohn herbeigeholt wird, eingehender beschäftigt. Die meisten Ausleger gehen davon aus, dass es sich um das wertvollste Kleidungsstück handelt, das im Haus des Vaters zu finden ist. Als solches dient es dazu, dem reuigen Sohn besondere Ehre zu erweisen (Lukas 15,22). Rengstorf hingegen sieht in diesem Gewand kein anderes als das Kleid, „das er zurückließ, als er das Haus verließ, in dem er Sohnesstellung und Sohnesrecht besaß“ (Rengstorf 1966, S. 42). Er musste es zurücklassen, weil es ihn sonst weiter als ,Sohn‘, und zwar als Erbsohn, ausgewiesen hätte, während er doch nach der Trennung vom Vaterhaus kein ,Sohn‘ mehr war. Dieses Kleid ist nämlich nicht an eine Person gebunden, so Rengstorf, „sondern an das Haus und den Status des Sohns in ihm“ (Rengstorf 1966, S. 44).
Deshalb kann es auch bei seiner Rückkehr bereitliegen. Das Gewand erhält in diesem Zusammenhang den Charakter eines förmlichen Insigniums. Indem der Vater dem Heimgekehrten seine frühere, sicherlich ebenso edle wie respektvolle Bekleidung übergibt, die ihn als Sohn mit allen entsprechenden Vollmachten auswies, erneuert er seinen Status und setzt ihn wieder als Erben ein.
Rengstorf weist außerdem darauf hin, dass die Schuhe, mit denen der Vater seinen Sohn neu ausstatten lässt, eine ähnliche symbolische Bedeutung haben wie das Gewand: Mit ihnen wird ein Besitzanspruch auf Grund und Boden bekundet, der mit entsprechender Verfügungsgewalt verbunden ist. Im Orient war es nicht nur üblich, dass Sklaven ihren Dienst im Haus barfuß taten, sondern man entledigte sich auch des Schuhwerks, wenn man als Gast ein fremdes Haus betrat.
Auch der im Bibeltext erwähnte Ring findet sich in Guercinos Gemälde – und zwar deutlich sichtbar am Zeigefinger der väterlichen linken Hand. Auch die Übergabe des Rings steht kurz bevor – wobei es sich auch hier nicht um ein kostbares Schmuckstück als wertvolles Geschenk, besondere Auszeichnung oder Ausdruck der Verbundenheit handelt. Mit diesem Ring wird vielmehr Macht übertragen: Der zurückgekommene Sohn erhält mit ihm Anteil an der väterlichen Befehlsgewalt und kann somit nun selbst Befehle erteilen. Durch die Ausstattung mit Gewand, Schuhen und Ring wird der Sohn wieder endgültig der Sohn eines begüterten Hauses neben und unter seinem Vater, mit all seinen einstigen Rechten, erneut seinem älteren Bruder völlig gleichgestellt. Auch dem jüngeren gilt, was der Vater dem älteren tröstend zuruft: „Alles, was mein ist, das ist dein!“ (Lukas 15, 31; LUT). Auf diese uneingeschränkte Wiederherstellung seiner ursprünglichen Rechte hat der Sohn allerdings  – was ihm mehr als bewusst ist – keinen Anspruch: Er wird wieder, was er war, allein weil es der Vater will.
Guercino: Die Heimkehr des verlorenen Sohnes (um 1627/28); Rom, Galleria Borghese
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Um 1627/28 hat Guercino das Thema dann zum zweiten Mal aufgegriffen; dieses Gemälde befindet sich heute in der Galleria Borghese in Rom. Diesmal ist der heimgekehrte Sohn rechts platziert; die Figuren sind deutlicher voneinander abgesetzt und symmetrischer angordnet. Die Komposition gewinnt auf diese Weise an Ruhe, verliert aber gegenüber dem Vorgänger an Emotionalität. Wieder ist der Vater, der seinen Arm um den Sohn legt, die verbindende Gestalt, wieder ist der Sohn im Begriff, sein zerrissenes Hemd auszuziehen, während der Knecht am linken Bildrand neue Kleidung bringt. Aber genau besehen, ist ein anderer Moment der Erzählung ausgewählt, denn der Vater ist noch dabei, den Satz zu Ende zu sprechen, mit dem er seine Anweisungen an die Dienerschaft begründet: „Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden“ (Lukas 15,24; LUT). Der Vater bedient sich dabei eines Zeigegestus, „und so ist es nur konsequent, daß der Maler die frühere Anordnung umgekehrt hat: um zu vermeiden, daß eine Geste, deren Bewegung zum Verständnis des Bildes gefolgt werden soll, von links nach rechts erfaßt werden muß, also entgegen der normalen Leserichtung“ (Ebert-Schifferer 1991, S. 76)
Literaturhinweise
Ebert-Schifferer, Sybille: “Ma c’hanno da fare i precetti dell’oratore con quelli della pittura?” In: Sybille Ebert-Schifferer (Hrsg.), Giovanni Francesco Barbieri/Il Guercino 1591 – 1666. Nuova Alfa Editoriale, Frankfurt 1991, S. 97-96;
Rengstorf, Karl Heinrich: Die Re-Investitur des Verlorenen Sohnes in der Gleichniserzählung Jesu Luk. 15, 11–32. Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1966;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Sonntag, 26. April 2020

Freudloses Mahl – Gustave Caillebotte malt „Das Mittagessen“ (1876)


Gustave Caillebotte: Das Mittagessen (1876); Privatsammlung (für die Großansicht einfach anklicken)
Wir blicken in ein Esszimmer, in das durch schwere Vorhänge gedämpftes Tageslicht fällt; eine ältere Frau und ein junger Mann sitzen an einem mächtigen, dunklen Tisch und wenden sich ihrer Mahlzeit zu. Es handelt sich um die Mutter des französische Malers Gustave Caillebotte (1848–1894) und um seinen jüngeren Bruder René. Ein Diener ist herangetreten, um Speisen zu servieren. Caillebottes Mutter trägt Witwentracht, sein Vater war 1874 gestorben – zwei Jahre bevor dieses Gemälde entstand. Nicht nur die männliche Bedienung – die sich nur sehr wohlhabende Familien leisten konnten –, auch die Raumausmaße, die aufwändigen Möbel und das kostbare Kristall signalieren dem Betrachter, das wir uns in einem finanziell sehr gut situierten Milieu befinden. In bürgerlichen Kreisen des 19. Jahrhunderts blieb die Familie beim Mittagessen in der Regel unter sich, anders als beim abendlichen Diner.
Pierre-Auguste Renoir: Das Mittagessen der Ruderer (1875); Chicago, Art Institute of Chicago
Caillebottes Alltagsszene, 1876 auf der zweiten Impressionisten-Schau ausgestellt, wird von der Stille und Vereinzelung der Personen dominiert – im Gegensatz etwa zu Pierre-Auguste Renoirs Mittagessen der Ruderer von 1875 fehlt dieser gemeinsamen Mahlzeit jegliches entspannt-heitere Moment. Schweigend und ohne einander anzuschauen nehmen Mutter und Sohn ihr Essen zu sich: Die Mutter bedient sich lustlos von der Platte, die ihr gereicht wird, René fixiert mit gesenktem Haupt seinen Teller – es geht spürbar frostig zu. In dieser Gesellschaft scheint jeder allein zu sein. Dieser Eindruck wird noch durch den weiten Abstand zwischen Mutter und Sohn verstärkt.
Der Maler selbst, dessen Platz mit halb gefülltem Weinglas und vom unteren Bildrand angeschnittenem Gedeck sich im Vordergrund befindet, ist für uns nicht sichtbar. Wir als Betrachter scheinen mit ihm zusammen am Tisch zu stehen und mit ihm durch ein Weitwinkelobjektiv zu schauen, das die Tischplatte in die Breite verzerrt und ihr eine konvex gebogene Oberfläche verleiht. So ist zum Beispiel der angeschnittene Teller wie eine flache Scheibe in Aufsicht wiedergegeben. Von dort wird der Blick über den von oben gesehenen Tisch, auf dem sich das Kristallgeschirr spiegelt, zum Scheitelpunkt des wie lackiert glänzenden Halbkreises geführt: Hier sitzt, im Gegenlicht des Speisesaals kaum erleuchtet und durch diese formalen Kunstgriffe unnahbar in die Ferne gerückt“ (Sagner 2009, Tafel 24), die Mutter. Der solcherart deformierte Tisch trennt die Personen mehr, als er sie verbindet.
Die räumlichen Verzerrungen und die damit verbundenen Irritationen in den Größenverhältnissen wirken auf den Betrachter beunruhigend, unheimlich, ja verstörend – hier stimmt im Wort- wie im übertragenen Sinn einiges nicht. Es herrscht eine bedrückende Atmosphäre in diesem großbürgerlichen Ambiente; der ruhige bourgeoise Komfort ist mit einem Gefühl klaustrophobischer Langeweile verknüpft: Caillebotte wirft mit seinem Gemälde einen gesellschaftskritischen Blick auf das Milieu, dem er selbst angehört.
Paul Signac: Opus 152: Das Speisezimmer (1886/87); Otterlo, Kröller-Müller Museum
1886/87 fertigte der französische Maler Paul Signac (1863–1935) eine neo-impressionistische Variante von Caillebottes Komposition an. Auf Opus 152: Das Speisezimmer sind ebenfalls eine Frau und ein Mann zu sehen, die gemeinsam an einem Tisch sitzen, während zwischen ihnen ein Hausmädchen steht. Doch während bei Caillebotte Mutter und Bruder dargestellt werden, ersetzt Signac diese durch ein namenloses älteres Ehepaar. Signac präsentiert uns eher um Typen als Individuen. Dass auf seinem Bild kein männlicher Hausangestellter gezeigt wird, verweist ebenso wie die schlichteren Möbel und das kleinere Zimmer auf den nicht ganz so wohlhabenden Stand des Paares. Und natürlich unterscheidet sich Signacs pointillistischer Malstil ganz entschieden von dem Caillebottes: Sein Bild setzt sich aus tausenden nebeneinander aufgetragenen Farbpunkten zusammen.

Literaturhinweise
Sagner, Karin: Gustave Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus. Hirmer Verlag, München 2009;
Krämer, Felix: Das unheimliche Heim. Zur Interieurmalerei um 1900. Böhlau Verlag, Köln 2007, S. 53-56.

Freitag, 24. April 2020

Ikone der europäischen Kunst – Giambolognas „Fliegender Merkur“

Giambologna: Fliegender Merkur (um 1587/88); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
Ein nackter Jüngling eilt in schnellem Lauf mit weit nach hinten ausschwingendem rechten Bein voran; er berührt dabei, nahezu schwebend, nur mit den Zehen des linken Fußes den Boden. Der makellos gebildete, schlanke Körper ist extrem gestreckt, „als würde eine große Kraft ihn in Richtung des emporgestreckten Zeigefingers der rechten Hand ziehen“ (Syndram 2006, S. 11). Kopf und Blick folgen dem in die Höhe weisenden Finger. Es handelt sich um Merkur, den Boten der olympischen Götter, erkennbar an dem geflügelten und schlangenumwundenen Heroldsstab in der linken Hand, dem geflügelten Petasos auf seinem Haupt und den kleinen Flügeln an den beiden äußeren Knöcheln. Der Schwerpunkt des gespannt federnden Körpers liegt genau in der Spitze des aufgesetzten linken Fußes, wodurch Giambologna seine Komposition in ein geradezu schwereloses Gleichgewicht versetzt. Die dynamische Aufwärtsbewegung des steil aufgerichteten Epheben strahlt Eleganz und zugleich ruhige Gelassenheit aus. Zu diesem Eindruck trägt auch die leicht gesenkte linke Hand bei, in der Merkur, zierlich den Ringfinger abspreizend, den Caduceus hält. Es ist ein ebenso labil wie ruhig ausbalanciertes Bildwerk, das sich der Betrachter von allen Seiten ansehen muss, um die raumgreifende Bewegung des geschmeidigen Gottes richtig zu erfassen.
Giambologna: Fliegender Merkur (um 1563/64);
Bologna, Museo Civicio Medievale
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Der Fliegende Merkur ist sicherlich die bekannteste Skulptur des flämisch-italienischen Bildhauers Giambologna (1529–1608) – sie gehört zu den Ikonen der europäischen Kunst. Giambologna hat von seinem „Mercurio volante“ über Jahrzehnte vier verschiedene Fassungen in unterschiedlichen Größen geschaffen. Die erste Version des Themas entstand um 1563/64, während Giambolognas Arbeit am Neptun-Brunnen in Bologna, seinem ersten Hauptwerk. Für die Universität von Bologna sollte der Künstler eine überlebensgroße Bronzestatue des Merkur schaffen, die als Bekrönung einer antiken Marmorsäule vorgesehen war. Diese monumentale Ausführung kam nicht zustande, doch hat sich das 55,5 cm hohe Modell für die Figur erhalten. Der erste Fliegende Merkur Giambolognas ist ein junger Mann von athletischer Gestalt mit breiten Schultern, einem muskulösen Oberkörper und sehnig überlängten Armen, die auf eine Aufstellung mit deutlicher Untersicht hinweisen. Seine Körperhaltung und die Blickrichtung des Kopfes auf den zeigenden Arm stimmen bereits mit den kommenden Versionen überein.
Giambologna: Fliegender Merkur (um 1565); schwedische Privatsammlung
In einer schwedischen Privatsammlung befindet sich die 187 cm hohe Statue eines nackten Fliegenden Merkur, dessen linker Fuß auf einer Weltkugel ruht und der mit nach vorne gebeugtem Oberkörper und leicht geneigtem Haupt dahineilt. Auch er ist mit Caduceus, geflügeltem Petasos und kleinen Flügeln an den Außenknöcheln versehen. Es handelt sich um die lebensgroße Bronzestatue, die Giambologna nach seiner Rückkehr nach Florenz anfertigte und die Herzog Cosimo I. 1565 dem mittlerweile zum Kaiser gekrönten Maximilian II. schenkte. Diese zweite Version des Fliegenden Merkur war als großformatiger Bronzeguss ebenso wie das Bologneser Säulenmonument für eine erhöhte Aufstellung gedacht und deshalb auf Untersicht angelegt. Bei einer derartigen Präsentation ist der Blick des fliegenden Götterboten auf den Betrachter gerichtet. Leider sind Internet keine wirklich guten Aufnahmen der Skulptur finden können; ihr Aufbewahrungsort ist derzeit nicht bekannt.
Etwas mehr als Jahrzehnt später schuf Giambologna die dritte Version seines Merkur-Themas: eine um 1577/79 für Herzog Ottavio Farnese von Parma geschaffene, 57 cm hohe Bronzestatuette. „Mit ihr verlässt der Götterbote die monumentale Aufstellung in einem Garten oder Hof und hält Einzug in das ›studiolo‹ des gebildeten Fürsten. Er wird zu einem exklusiven Sammlerstück von künstlerischer Eleganz und Virtuosität“ (Syndram 2006, S. 15). Die heute im Museo Nazionale di Capodimonte in Neapel aufbewahrte Statuette war dabei kein Fürstengeschenk, sondern der dezidierte Auftrag eines fürstlichen Sammlers. Die Form, aus der die Stauette für den Herzog von Parma gegossen wurde, scheint in der Werkstatt Giambolognas und auch später immer wieder für kleinformatige Reproduktionen herangezogen worden zu sein. Damit wurde der neapolitanische Fliegende Merkur zum Ausgangspunkt der zahlreichen, unabhängig von Giambologna entstandenen Abgüsse des Fliegenden Merkur.
Giambologna: Fliegender Merkur (um 1580); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
Kaum mehr als ein Jahr später schuf Giambologna seine vierte Version des Fliegenden Merkur. Wieder ist es eine großformatige Komposition, die im Juni 1580 im Garten der Villa Medici aufgestellt wurde. Diese Variante (seit 1865 im Museo Nazionale del Bargello) steht in ihrer etwas nach vorne gebeugten Körperhaltung, die von den statischen Problemen der Größe und des Gewichts der 170 cm großen Bronzestatue herrührt, der ersten Bologneser Version nahe. Der Götterbote berührt nun nicht einmal mehr den Boden, sondern schwebt über dem Windhauch, der einem Zephyrkopf entweicht. „Dieses schwerelose Schweben wurde zur optischen Illusion, indem im Kontext des Brunnens aus dem Kopf des Windgottes Wasser quoll, das das sorgfältig ponderierte Gleichgewicht der schweren Bronze vergessen ließ“ (Syndram 2006, S. 16). Vor allem bei der Betrachtung von der Rückseite und den Ansichten von links „wird durch die schräge Ausrichtung des Oberkörpers und die überschnittenenen Gliedmaßen die Geschwindigkeit des dahinfliegenden Merkur anschaulich (Reuter 2012, S. 45).
Giambologna: Fliegender Merkur (um 1587/88); Dresden, Grünes Gewölbe
Um 1587/88 entstanden drei weitere, eng zusammengehörige Statuetten des Fliegenden Merkur. Eine davon, die ich eingangs beschrieben habe, befindet sich heute im Florentiner Museo Nazionale del Bargello, eine zweite in Dresdens Grünem Gewölbe und die dritte ist in der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums in Wien ausgestellt. Sie sind alle fast gleich groß (ca. 62 cm) und an die dritte Version des Fliegenden Merkur in Nepael angelehnt. Während Giambolognas erste Version einen mit göttlicher Weisheit zur Erde zurückkehrenden Götterboten darstellt und die fast lebensgroßen Fassungen in Schweden (Version zwei) und Florenz (Version vier) den in der Schwerelosigkeit dahineilenden Gott zeigen, präsentiert sich dem Betrachter nun der von der Erde abhebende Gott.
Ingo Herklotz hat die Figur des in Laufschrittstellung dahineilenden Merkur mit einer Passage aus Vergils Aeneis in Verbindung gebracht. Im vierten Gesang spricht Jupiter zu seinem Boten: „Auf, mein Sohn, ruf Westwind herbei und gleite auf Schwingen“ (Vergil, Aeneis IV, 224). Merkur „fügte sofort sich des großen / Vaters Befehl: er band sich zunächst an die Füße die goldnen / Schuhe, die hoch auf Flügeln dahin über Meer und Land ihn / tragen im reißenden Wehen der Luft“ (Vergil, Aeneis IV, 239-242). Für den erhobenen Arm des Merkur bietet die Aeneis allerdings keinen direkten Hinweis. Giamologna verwendete eine ähnliche Geste auch in seinem Auferstandenen Christus im Dom von Lucca und seinem Johannes der Täufer in der Salviati-Kapelle von San Marco (Florenz) verwendet. Offensichtlich hat der Bildhauer den christlichen Verkündigungsgestus auf Merkur übertragen, „um den heidnischen Gott gleichsam als Verkünder und Überbringer eines höheren göttlichen Willens zu charakterisieren“ (Herklotz 1977, S. 275).
Benvenuto Cellini: Merkur (um 1550);
das Original befindet sich heute im Museo Nazionle del Bargello, am
Marmorsockel des Perseus (Loggia dei Lanzi) wurde eine Kopie eingefügt
Als eine der Anregungen für Giambolognas oft nachgeahmte, doch nie übertroffene Statue gilt die Merkur-Statuette Benveneuto Cellinis (1500–1571), die die Basis seines Perseus in der Florentiner Loggia dei Lanzi schmückt (1554 enthüllt, siehe meinen Post „Cellinis Medusentöter“).

Glossar
Caduceus: Heroldsstab aus dem Altertum, versehen  zwei Flügeln und von zwei Schlangen mit einander zugewendeten Köpfen umwunden
Petasos: im antiken Griechenland breitkrempiger Hut mit flachem Kopf und Kinnriemen; mit einem Flügelpaar versehen ein Attribut des Götterboten Merkur

Literaturhinweise
Herklotz, Ingo: Die Darstellung des fliegenden Merkur bei Giovanni Bologna. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 40 (1977), S. 270-275;
Raumschüssel, Martin: Merkur. In: Björn R. Kommer (Hrsg.), Adriaen de Vries: 1556–1626. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. Umschau Braus Verlagsgesellschaft, Heidelberg 2000, S. 309-311;
Reuter, Guido: Statue und Zeitlichkeit 1400–1800. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2012, S. 44-46;
Syndram, Dirk u.a. (Hrsg.): Giambologna in Dresden. Die Geschenke der Medici. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2006, S. 11-17; 
Vergil: Aeneis. In Zusammenarbeit mit Maria Götte herausgegeben und übersetzt von Johannes Götte. Artemis & WinklerVerlag, Zürich 1994.

(zuletzt berbeitet am 6. Januar 2021) 

Dienstag, 14. April 2020

Da staunt die Verwandtschaft – Rembrandts Radierung „Joseph erzählt seine Träume“ (1638)

Rembrandt: Joseph erzählt seine Träume (1638); Radierung
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Joseph gehört zu den bekanntesten Gestalten des Alten Testaments: Seine Geschichte wird im 1. Buch Mose in Kapitel 37 bis 50 geschildert. Sie galt in den calvinistischen Niederlanden des 17. Jahrhunderts als herausragendes Beispiel gottgefälligen Lebens. Eine wichtige Episode aus dieser an dramatischen Ereignissen und Wendungen reichen Erzählung hat Rembrandt 1638 auf einer kleinformatigen Radierung (11 x 8,3 cm) dargestellt: Nach 1. Mose 37,3-11 träumt Joseph, dass die von seinen elf Brüdern gebundenen Garben auf dem Feld sich vor der eigenen und dass Sonne, Mond und elf Sterne sich vor ihm selbst verneigen, also auch Vater und Mutter. Dies berichtet nun der knabenhafte, in der Mitte des Blattes stehende Jüngling, der mit seinen ausgestreckten Händen das tiefe Sich-Verbeugen der Brüder nachahmt. Joseph wendet sich dabei seinem links sitzenden greisen Vater Jakob zu, um ihm zu demonstrieren, was er im Traum gesehen hat. 
Erstaunt lehnt sich der langbärtige Patriarch in seinem Sessel zurück und folgt aufmerksam den Worten Josephs. Sein rechter Arm ruht dabei auf dem leicht angehobenen Knie, während er sich mit der linken Hand auf die Armlehne stützt. Zwar ist Jakob seine Skepsis anzusehen, aber von der harschen Zurechtweisung seines Sohnes, die in 1. Mose 37,9-10 (LUT) wiedergegeben wird, lässt sich auf Rembrandts Radierung nichts erkennen: „Und als er das seinem Vater und seinen Brüdern erzählte, schalt ihn sein Vater und sprach zu ihm: Was ist das für ein Traum, den du geträumt hast? Sollen denn ich und deine Mutter und deine Brüder kommen und vor dir niederfallen?“
Die Mimik der gleichfalls zuhörenden, deutlich älteren Halbbrüder (einer von ihnen ist nur durch eine Hand am rechten Bildrand angedeutet) spiegelt Verärgerung und spöttischen Hohn angesichts von Josephs vorgeblichem Hochmut. Auffällig ist insbesondere der rechts am Tisch sitzende Mann, dessen Kopfneigung und ironische Gebärde in Richtung Joseph die Reaktionen zusammenfasst, die der Jüngste mit seinem Traumbericht bei seinen Brüdern auslöst. Josephs ruhiger Gesichtsausdruck und seine Jugend kontrastieren nicht nur mit dem Alter seines Vaters, sondern zugleich mit den grimassierenden Männern hinter ihm. Insbesondere die um das Ende des Tisches versammelte Gruppe erinnert dabei an die Jünger in Abendmahlsdarstellungen.
Ungewöhnlich ist das Himmelbett oben links, aus dem sich eine alte Frau nach vorne beugt, um ebenso aufmerksam und verwundert wie Jakob dem Jüngling zu lauschen. Es könnte sich um Rahel handeln, Jakobs zweite Frau; Joseph ist vor Benjamin der ältere der beiden Söhne, die Jakob mit Rahel bekommt. Allerdings ist sie zum Zeitpunkt des Geschehens bereits verstorben (1. Mose 35, 6-20), deswegen wurde auch vermutet, es sei Josephs nicht leibliche Mutter Lea gemeint, Jakobs erste Frau. Das Motiv der im Hintergrund im Bett liegenden Rahel bzw. Lea könnte Rembrandt aus einem 1532 entstandenen Kupferstich des westfälischen Kleinmeisters Heinrich Aldegrever (1502–1555/1561) übernommen haben.
Heinrich Aldegrever: Joseph erzählt seine Träume (1532); Kupferstich
Auf Rembrandts Radierung sitzt kontrastierend im Vordergrund rechts ein junges Mädchen, das dem Betrachter den Rücken zuwendet und und mit beiden Händen ein Buch auf ihrem Schoß festhält. Wahrscheinlich ist es eine der Töchter Jakobs, die in der Josephsgeschichte nur am Rand erwähnt werden, als sie ihren trauernden Vater wegen des vermeintlich durch wilde Tiere getöteten Joseph trösten (1. Mose 37,35). Eine Zeichnung mit Rembrandts Ehefrau Saskia im Wochenbett, um 1635 entstanden, nimmt an gleicher Stelle das ähnlich gebildete Krankenlager vorweg, dem hier wie auf der Radierung im unteren Eck eine Frau im verlorenen Profil gegenüber sitzt. Außerdem hatte sich Rembrandt mit dem Traumbericht Josephs bereits in einer 1633 entstandenen Grisaillemalerei beschäftigt, deren Komposition der späteren Radierung ähnelt. Auch dieses Motiv könnte von Aldegrevers Blatt angeregt worden sein, denn auf dessen Kupferstich steht der Sessel Jakobs dort, wo Rembrandt den Stuhl seiner Dina platziert hat, im Vordergrund rechts.
Rembrandt: Saskia im Wochenbett (um 1635); München, Graphische Sammlung
Rembrandt: Joseph erzählt seine Träume (1633); Amsterdam, Rijksmuseum
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Rembrandt: Der barmherzige Samariter (1633); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Es sei noch auf ein Detail hingewiesen, das den besonderen Humor Rembrandts belegt: Inmitten dieser für den Fortgang der Josephsgeschichte bedeutsame Szene (nach seinem Traumbericht beschließen die Halbrüder, Joseph aus dem Weg zu schaffen) hat der Künstler vorne links neben dem Feuerchen in der Ecke einen kleinen Hund dargestellt. Und der leckt sich, wie dies Hunde nun hin und wieder tun – die eigenen Geschlechtsteile, um sich zu säubern ... Man benötigt allerdings eine Lupe, um das Knäuel am vorderen Bildrand entschlüsseln zu können. Schon in seiner Radierung Der barmherzige Samariter von 1633 hatte Rembrandt im Vordergrund – für den Betrachter, der dies entdeckt, durchaus irritierend – einen defäkierenden Hund abgebildet. Das ist aber nur auf den ersten Blick kurios; Rembrandt macht auf diese Weise deutlich, dass die biblischen Figuren keine weltentrückten Heiligen sind – es geht in ihren Lebensgeschichten überaus irdisch zu.
Rembrandt: Jakob wird der blutige Rock Josephs gebracht (1633); Radierung
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Den weiteren Verlauf der Josephsgeschichte hatte Rembrandt schon 1633 in einer gleich großen Radierung (10,7 x 8 cm) dargestellt. Sie zeigt, wie zwei der zwölf Söhne Jakobs dem Vater den in Tierblut getränkten Rock ihres jüngsten Bruders vorweisen, um dessen Tod vorzutäuschen; tatsächlich hatten sie ihn aus Eifersucht an eine Karwane von Ismaelitern verkauft, die ihn
als Sklaven nach Ägypten bringen. Mit diesem Kleidungsstück hatte Jakob seinen Lieblingssohn ausgezeichnet; Rembrandt interpretierte es auf seiner Radierung von 1638 als halbärmeligen Pelzmantel, den einzig Jakob und Joseph tragen, aber keiner der Brüder. Als Jakob das Kleidungsstück erkennt, ruft er verzweifelt aus: „Es ist meines Sohnes Rock; ein böses Tier hat ihn gefressen, zerrissen, zerrissen ist Joseph!“ (1. Mose 37,33; LUT). Hauptakzent der früheren Radierung sind das schmerzverzerrte Gesicht des Erzvaters und seine im Klagegestus erhobenen Hände, während die beiden Söhne ihre Besorgnis nur vortäuschen.

Literaturhinweise
Brinkmann, Bodo u.a. (Hrsg.): Rembrandts Orient. Westöstliche Begegnung in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts. Prestel Verlag, München/ London/New York 2020, S. 304;
Kreutzer, Maria: Rembrandt und die Bibel. Radierungen, Zeichnungen, Kommentare. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2003, S. 46;
Mallach, Mailena: Josef erzählt seine Träume (1638). In: Jürgen Müller und Jan-David Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 142;
Sevcik, Anja K. (Hrsg.): Inside Rembrandt 1606 – 1669. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2019, S. 95-96; 
Unverfehrt, Gerd (Hrsg.): Rembrandt schwarz – weiß. Meisterwerke der Radierkunst aus der Kunstsammlung der Universität Göttingen. Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Göttingen 1994, S. 127-128; 
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. 

(zuletzt bearbeitet am 29. Dezember 2021) 

Montag, 6. April 2020

Leiden im Kontrapost – Albrecht Dürers „Hl. Sebastian an der Säule“

Albrecht Dürer: Hl. Sebastian an der Säule (um 1499); Kupferstich
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Der römische Offizier Sebastian gehört zu den bekanntesten christlichen Märtyrern und meistverehrten katholischen Heiligen. Kaiser Diokletian ließ ihn wegen seines christlichen Glaubens an einen Baum binden und durch numidische Bogenschützen hinrichten – was der Soldat jedoch, so die Legende, durch ein Wunder Gottes überlebte. Irene, eine junge Witwe, wollte den Toten bestatten, fand ihn aber lebend vor und pflegte ihn gesund. Als Sebastian den Kaiser öffentlich der Christenverfolgung beschuldigte, befahl dieser schließlich, ihn zu Tode peitschen und in die „Cloaca Maxima“ werfen, den größten Abwasserkanal Roms.
Insbesondere in der italienischen Frührenaissance wurde der jugendliche Märtyrer häufig dargestellt – sicherlich auch, weil sich gerade diese Figur für eine Aktdarstellung anbot. Auch Albrecht Dürer (1471–1528) wählt um 1499 den hl. Sebastian, um im Kupferstich einen nackten männlichen Körper darzustellen. Auf dem 10,9 x 7,7 cm großen Blatt ist der bis auf einen Lendenschurz entkleidete Sebastian an eine Säule gestellt, die Arme sind am Rücken über Kreuz zusammengebunden. Sein großes schweres Haupt mit dem schulterlangen, gelockten Haar und dem melancholisch-traurigen Antlitz ist leicht nach rechts geneigt; der Kopf erinnert an die Figur des Johannes aus Dürers Holzschnitt-Apokalypse (siehe meinen Post „Kunstvoller Weltuntergang“). Ein S-förmiger Körperschwung, wie er noch dem Spätmittelalter angehört, umspielt die Martersäule „und nimmt ihr die strenge Vertikalität“ (Schauerte 2002, S. 139). Die beinahe entspannte Haltung der Figur wird dabei „durch die gegenläufige Landschaftsgestaltung in ihrer sinnlichen Eleganz noch gesteigert“ (Schneider 1999, S. 134). Die Säule ist Bestandteil einer angeschnittenen Bogenöffnung, die den Blick freigibt auf einen kargen Landschaftsausschnitt vor leerem Himmel.
Sebastian ist gleichzeitig im antiken Kontrapost dargestellt und zeigt deutlich Dürers Kenntnis des menschlichen Körperbaus: Viele anatomische Details wie Adamsapfel, Schlüsselbein, Rippenbogen und Muskulator werden wiedergegeben. Ein solcher Oberflächenrealismus wurde in der deutschen Kunst seit 1400 sehr geschätzt, so etwa in den Skulpturen von Veit Stoß (um 1447–1533) und Tilman Riemenschneider (1460–1531). Der wohlgeformte Oberkörper des Heiligen wird durch das tief sitzende Lendentuch regelrecht verlängert. Sebastian scheint unversehrt, ist aber von vier Pfeilen durchbohrt – einer der Pfeile hat ihn sogar mitten in die Stirn getroffen. Die auf den Märtyrer zielenden Bogenschützen, in der Tafelmalerei oft mit abgebildet, sind als erzählerisches Motiv weggelassen – das künstlerische Augenmerk gilt hier vorrangig der Aktdarstellung. Dass es allerdings bis zu Dürers ersten Proportionsstudien um die Jahrhundertwende noch ein Stück Weg ist, zeigt sich am übergroßen Kopf des Heiligen.
Cima de Conegliano: Hl. Sebastian (um 1485); Olera, San Bartolomeo
Antonello da Messina: Hl. Sebastian (1476/77); Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister
Antonio Rizzo: Adam (um 1485); Venedig, Dogenpalast
Andrea Mantegna: Hl. Sebastian (1459/60); Wien, Kunsthistorisches Museum
Dürer könnte sich in seinem Stich an einem Gemälde des italienischen Künstlers Cima de Conegliano (1459–1517) orientiert haben. Die von dort übernommene Ponderierung hat er jedoch intensiviert und so die ausgestellte Hüfte weit stärker betont. Als Vorbild denkbar ist aber auch ein heute in Dresden aufbewahrter Hl. Sebastian von Antonella da Messina (1430–1479) oder der 1485 geschaffene Marmor-Adam von Antonio Rizzo (1430–1499) am Foscari-Bogen in Venedig. Das drastische Motiv des die Stirn durchbohrenden Pfeils wiederum dürfte auf Andrea Mantegnas (1431–1506) Wiener Hl. Sebastian zurückgehen.
Albrecht Dürer: Schmerzensmann mit ausgebreiteten Armen
(um 1500); Kupferstich
Albrecht Dürer: Hl. Sebastian am Baume (um 1501); Kupferstich
Sein Interesse an der Proportion des männlichen Aktes hat Dürer kurze Zeit später nochmals in einem weiteren, ähnlich großen Kupferstich umgesetzt, und zwar in seinem Schmerzensmann mit ausgebreiteten Armen: Erneut nimmt Dürer hier das Motiv des klassischen Kontrapost auf, verleiht der Figur aber eine kräftiger und plastischer modellierte Muskulatur. Dem klassisch ausgewogenen Hl. Sebastian an der Säule hat Dürer um 1501 ein „expressives Gegenstück“ (Schoch 2000, S. 89) von etwa gleichem, etwas höheren Format an die Seite gestellt: Hier sind die gekreuzten Hände des muskulösen, nur mit einer kleinen Hose bekleideten Heiligen über seinem Kopf an einer Astgabel zusammengebunden, während das bärtige, christusähnliche Haupt mit den gesenkten Lidern und dem schmerzvoll geöffneten Mund erschöpft mit dem Kinn auf die Brust gesunken ist.

Literaturhinweise
Reuße, Felix: Albrecht Dürer und die europäische Druckgraphik. Die Schätze des Sammlers Ernst Riecker. Wienand Verlag, Köln 2002, S. 59;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 139;
Schneider, Erich (Hrsg.): Dürer – Himmel und Erde. Gottes- und Menschenbild in Dürers druckgraphischem Werk. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung-Otto–Schäfer-II. Schweinfurt 1999, S. 134;
Schoch, Rainer: Der heilige Sebastian am Baume/Der heilige Sebastian an der Säule/Der Schmerzensmann mit ausgebreiteten Armen. In: Matthias Mende u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 82-84 und 89-90.

(zuletzt bearbeitet am 9. Juni 2020) 

Donnerstag, 2. April 2020

Sonne und Mond – Albrecht Dürers Kupferstich „Apoll und Diana“

Albrecht Dürer: Apoll und Diana (1503/04); Kupferstich
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Monumental, das Format des kleinen Kupferstichs (11,6 x 7,3 cm) fast sprengend, steht der griechische Sonnengott Apoll mit erhobenem Bogen im Vordergrund. Mit seinen muskulösen Armen spannt er die Waffe, um einen seiner gefürchteten Pestpfeile zu verschießen (so im Trojanischen Krieg ins Lager der Griechen). Hinter ihm sitzt auf einem kleinen Erdhügel seine Zwillingsschwester, die keusche Jagd- und Mondgöttin Diana. Ist ihr lorbeerbekränzter Bruder an seinen wallenden Locken, dem Bogen und dem umgehängten Pfeilköcher zu erkennen, so kennzeichnet sie das Attribut des Hirschen, der hinter Apoll lagert.
Mit diesem Kupferstich präsentiert Albrecht Dürer (1471–1528) zum ersten Mal ein antikes Tema mit antikisierenden Aktfiguren, ohne ihnen eine moralisierende Botschaft zu unterlegen (wie er dies noch in seiner Grafik Der Traum des Doktors von 1498 getan hatte). Allerdings sind die beiden Figuren, ähnlich wie die etwas frühere Nemesis (siehe meinen Post „Gunst oder Züchtigung“), einem „akribischen Naturalismus“ (Sonnabend 2007, S. 104) verpflichtet und nicht einem vorbildlichen Körperideal.
Albrecht Dürer: Adam und Eva (1504); Kupferstich
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Im Gegensatz dazu stehen Dürers Adam und Eva, 1504 und damit etwa gleichzeitig entstanden (siehe meinen Post „Aus Göttern werden Menschen“): Hier sind die Figuren nach den Vorgaben eines klassischen Proportionskanons gestaltet. Ihr gemeinsamer Ausgangsgpunkt ist eine Zeichnung des Apoll, die Dürer etwa 1501 schuf. Um diese Zeit muss er einen Kupferstich des italienischen Künstlers Jacopo de’ Barbari (1450–1516) gesehen haben, der in einer Gegenüberstellung der Gestirne den Sonnengott Apoll bogenspannend und strahlend auf einem Sphärenbogen neben seiner versinkenden Schwester zeigt. Nach einem halbherzigen Versuch, aus seiner Apoll-Zeichnung eine ähnliche Szene zu entwickeln, wandelte Dürer seinen idealtypischen Apoll in den Adam auf seinem Kupferstich von 1504 um und stach außerdem eine eigene, die hier vorgestellte Komposition mit Apoll und Diana. Er verzichtete dabei auf den kosmischen Aspekt de’ Barbaris und stützte sich bei den Körperformen auf eigene Aktstudien nach der Natur.
Albrecht Dürer: Apoll (1501, Zeichnung); London, British Museum
Jacopo deBarbari: Apoll und Diana (1502/03); Kupferstich
Die beiden Figuren sind bei Dürer gegenüber de’ Barbaris Blatt auf engem Raum zusammengerückt. Die Nähe der beiden wird noch verstärkt dadurch, dass Diana dem Betrachter zugewandt ist und ihn anblickt. Die entrückten Gottheiten in der Himmelssphäre de’ Barbaris sind bei Dürer auf die Erde zurückgeholt, was auch durch vereinzelte Steine und Grashalme angedeutet wird. Diana hat einen Grasbüschel in ihrer Linken, um den Hirsch zu füttern, der sich, vom Futter angelockt, an sie herandrängt; mit ihrer rechten Hand streichelt sie den Kopf des Tieres, dessen kapitales geweih vom linlen Bildrand angeschnitten wird. 
Offensichtlich ist für Dürer vor allem die Darstellung des sehnigen, angespannten männlichen Körpers wichtig gegenüber der ruhigen, entspannten Sitzhaltung Dianas. Apoll beansprucht die gesamte Höhe des Formates: Sein Oberkörper ist nach hinten gelehnt, um seinen Bogen möglichst weit spannen zu können; der energische Blick folgt konzentriert den horizontal ausgestreckten Armen. Pfeil und Bogen sind auf ein Ziel außerhalb des Blattes gerichtet und sprengen sogar – wie bei de’ Barbari – die Bildfläche. Das muskulöse Standbein ist fest durchgedrückt, das Spielbein locker ausgestellt. Die wehenden Locken und ein flatternder Gewandzipfel begleiten seine pathetische Bewegung. Dabei ist sein athletischer, in einer komplizierten Drehung aufragender Körper „selbst wie ein Bogen in den engen Bildausschnitt gespannt“ (Schoch 2000, S. 108).
Albrecht Dürer: Das kleine Glück (1495/96); Kupferstich
Albrecht Dürer: Der Marktbauer und sein Weib (1519); Kupferstich
Das vor dem Körper Apolls gebauschte Tuch erinnert an Dürers Kupferstich Das kleine Glück von 1496/96. Dass Dürer das gesamte Format mit einer Figur füllt, ist in seinem grafischen Werk eher selten – als Vergleich wäre hier der Kupferstich Der Marktbauer und sein Weib von 1519 zu nennen. Ebenso auffällig ist die traditionelle Rollenzuschreibung mit einer betont aktiv-männlichen und der passiv-weiblichen Haltung des Paares, die sich in so einer klaren Gegenüberstellung sonst bei Dürer nicht finden lässt.
Lucas Cranach d.Ä.: Apoll und Diana (um 1526);
London, Royal Collection
Um 1526 hat Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) die Kompositionen von
de’ Barbari und Dürer in die Tafelmalerei übersetzt: Während die Bildarchitektur mit dem kieselübersäten Bodenstreifen im Vordergrund, die undurchdringliche, der Kontur der Figuren folgende Blätterwand und der Landschaftsausblick rechts oben ebenso vertrauten cranachschen Mustern folgt wie der Körperbau der beiden Akte, verweisen die Haltung von Apoll und Diana unmissverständlich auf die früheren Kupferstiche. Apolls Stand- und Armmotiv ist von de’ Barbari übernommen, von Dürer stammt die horizontale Ausrichtung des Pfeiles, ebenso der die Scham Apolls verdeckende, flatternde Zipfel des Tuches, mit dem er sich den Köcher umgebunden hat. Auch bei der Sitzfigur Dianas folgt Cranach der Lösung Dürers – allerdings verändert er sie durch eine akrobatische Beinstellung der Göttin, die zudem nicht neben, sondern auf dem Hirsch sitzt.

Literaturhinweise
Brinkmann, Bodo (Hrsg.): Cranach der Ältere. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2007, S. 342;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 136-137;
Schneider, Erich (Hrsg.): Dürer – Himmel und Erde. Gottes- und Menschenbild in Dürers druckgraphischem Werk. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung-Otto–Schäfer-II. Schweinfurt 1999, S. 144;
Schoch, Rainer: Apollo und Diana. In: Matthias Mende u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 108-109; 
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 104.

(zuletzt bearbeitet am 25. März 2021)