Freitag, 24. April 2020

Ikone der europäischen Kunst – Giambolognas „Fliegender Merkur“

Giambologna: Fliegender Merkur (um 1587/88); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
Ein nackter Jüngling eilt in schnellem Lauf mit weit nach hinten ausschwingendem rechten Bein voran; er berührt dabei, nahezu schwebend, nur mit den Zehen des linken Fußes den Boden. Der makellos gebildete, schlanke Körper ist extrem gestreckt, „als würde eine große Kraft ihn in Richtung des emporgestreckten Zeigefingers der rechten Hand ziehen“ (Syndram 2006, S. 11). Kopf und Blick folgen dem in die Höhe weisenden Finger. Es handelt sich um Merkur, den Boten der olympischen Götter, erkennbar an dem geflügelten und schlangenumwundenen Heroldsstab in der linken Hand, dem geflügelten Petasos auf seinem Haupt und den kleinen Flügeln an den beiden äußeren Knöcheln. Der Schwerpunkt des gespannt federnden Körpers liegt genau in der Spitze des aufgesetzten linken Fußes, wodurch Giambologna seine Komposition in ein geradezu schwereloses Gleichgewicht versetzt. Die dynamische Aufwärtsbewegung des steil aufgerichteten Epheben strahlt Eleganz und zugleich ruhige Gelassenheit aus. Zu diesem Eindruck trägt auch die leicht gesenkte linke Hand bei, in der Merkur, zierlich den Ringfinger abspreizend, den Caduceus hält. Es ist ein ebenso labil wie ruhig ausbalanciertes Bildwerk, das sich der Betrachter von allen Seiten ansehen muss, um die raumgreifende Bewegung des geschmeidigen Gottes richtig zu erfassen.
Giambologna: Fliegender Merkur (um 1563/64);
Bologna, Museo Civicio Medievale
(für die Großansicht einfach anklicken)
Der Fliegende Merkur ist sicherlich die bekannteste Skulptur des flämisch-italienischen Bildhauers Giambologna (1529–1608) – sie gehört zu den Ikonen der europäischen Kunst. Giambologna hat von seinem „Mercurio volante“ über Jahrzehnte vier verschiedene Fassungen in unterschiedlichen Größen geschaffen. Die erste Version des Themas entstand um 1563/64, während Giambolognas Arbeit am Neptun-Brunnen in Bologna, seinem ersten Hauptwerk. Für die Universität von Bologna sollte der Künstler eine überlebensgroße Bronzestatue des Merkur schaffen, die als Bekrönung einer antiken Marmorsäule vorgesehen war. Diese monumentale Ausführung kam nicht zustande, doch hat sich das 55,5 cm hohe Modell für die Figur erhalten. Der erste Fliegende Merkur Giambolognas ist ein junger Mann von athletischer Gestalt mit breiten Schultern, einem muskulösen Oberkörper und sehnig überlängten Armen, die auf eine Aufstellung mit deutlicher Untersicht hinweisen. Seine Körperhaltung und die Blickrichtung des Kopfes auf den zeigenden Arm stimmen bereits mit den kommenden Versionen überein.
Giambologna: Fliegender Merkur (um 1565); schwedische Privatsammlung
In einer schwedischen Privatsammlung befindet sich die 187 cm hohe Statue eines nackten Fliegenden Merkur, dessen linker Fuß auf einer Weltkugel ruht und der mit nach vorne gebeugtem Oberkörper und leicht geneigtem Haupt dahineilt. Auch er ist mit Caduceus, geflügeltem Petasos und kleinen Flügeln an den Außenknöcheln versehen. Es handelt sich um die lebensgroße Bronzestatue, die Giambologna nach seiner Rückkehr nach Florenz anfertigte und die Herzog Cosimo I. 1565 dem mittlerweile zum Kaiser gekrönten Maximilian II. schenkte. Diese zweite Version des Fliegenden Merkur war als großformatiger Bronzeguss ebenso wie das Bologneser Säulenmonument für eine erhöhte Aufstellung gedacht und deshalb auf Untersicht angelegt. Bei einer derartigen Präsentation ist der Blick des fliegenden Götterboten auf den Betrachter gerichtet. Leider sind Internet keine wirklich guten Aufnahmen der Skulptur finden können; ihr Aufbewahrungsort ist derzeit nicht bekannt.
Etwas mehr als Jahrzehnt später schuf Giambologna die dritte Version seines Merkur-Themas: eine um 1577/79 für Herzog Ottavio Farnese von Parma geschaffene, 57 cm hohe Bronzestatuette. „Mit ihr verlässt der Götterbote die monumentale Aufstellung in einem Garten oder Hof und hält Einzug in das ›studiolo‹ des gebildeten Fürsten. Er wird zu einem exklusiven Sammlerstück von künstlerischer Eleganz und Virtuosität“ (Syndram 2006, S. 15). Die heute im Museo Nazionale di Capodimonte in Neapel aufbewahrte Statuette war dabei kein Fürstengeschenk, sondern der dezidierte Auftrag eines fürstlichen Sammlers. Die Form, aus der die Stauette für den Herzog von Parma gegossen wurde, scheint in der Werkstatt Giambolognas und auch später immer wieder für kleinformatige Reproduktionen herangezogen worden zu sein. Damit wurde der neapolitanische Fliegende Merkur zum Ausgangspunkt der zahlreichen, unabhängig von Giambologna entstandenen Abgüsse des Fliegenden Merkur.
Giambologna: Fliegender Merkur (um 1580); Florenz, Museo Nazionale del Bargello
Kaum mehr als ein Jahr später schuf Giambologna seine vierte Version des Fliegenden Merkur. Wieder ist es eine großformatige Komposition, die im Juni 1580 im Garten der Villa Medici aufgestellt wurde. Diese Variante (seit 1865 im Museo Nazionale del Bargello) steht in ihrer etwas nach vorne gebeugten Körperhaltung, die von den statischen Problemen der Größe und des Gewichts der 170 cm großen Bronzestatue herrührt, der ersten Bologneser Version nahe. Der Götterbote berührt nun nicht einmal mehr den Boden, sondern schwebt über dem Windhauch, der einem Zephyrkopf entweicht. „Dieses schwerelose Schweben wurde zur optischen Illusion, indem im Kontext des Brunnens aus dem Kopf des Windgottes Wasser quoll, das das sorgfältig ponderierte Gleichgewicht der schweren Bronze vergessen ließ“ (Syndram 2006, S. 16). Vor allem bei der Betrachtung von der Rückseite und den Ansichten von links „wird durch die schräge Ausrichtung des Oberkörpers und die überschnittenenen Gliedmaßen die Geschwindigkeit des dahinfliegenden Merkur anschaulich (Reuter 2012, S. 45).
Giambologna: Fliegender Merkur (um 1587/88); Dresden, Grünes Gewölbe
Um 1587/88 entstanden drei weitere, eng zusammengehörige Statuetten des Fliegenden Merkur. Eine davon, die ich eingangs beschrieben habe, befindet sich heute im Florentiner Museo Nazionale del Bargello, eine zweite in Dresdens Grünem Gewölbe und die dritte ist in der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums in Wien ausgestellt. Sie sind alle fast gleich groß (ca. 62 cm) und an die dritte Version des Fliegenden Merkur in Nepael angelehnt. Während Giambolognas erste Version einen mit göttlicher Weisheit zur Erde zurückkehrenden Götterboten darstellt und die fast lebensgroßen Fassungen in Schweden (Version zwei) und Florenz (Version vier) den in der Schwerelosigkeit dahineilenden Gott zeigen, präsentiert sich dem Betrachter nun der von der Erde abhebende Gott.
Ingo Herklotz hat die Figur des in Laufschrittstellung dahineilenden Merkur mit einer Passage aus Vergils Aeneis in Verbindung gebracht. Im vierten Gesang spricht Jupiter zu seinem Boten: „Auf, mein Sohn, ruf Westwind herbei und gleite auf Schwingen“ (Vergil, Aeneis IV, 224). Merkur „fügte sofort sich des großen / Vaters Befehl: er band sich zunächst an die Füße die goldnen / Schuhe, die hoch auf Flügeln dahin über Meer und Land ihn / tragen im reißenden Wehen der Luft“ (Vergil, Aeneis IV, 239-242). Für den erhobenen Arm des Merkur bietet die Aeneis allerdings keinen direkten Hinweis. Giamologna verwendete eine ähnliche Geste auch in seinem Auferstandenen Christus im Dom von Lucca und seinem Johannes der Täufer in der Salviati-Kapelle von San Marco (Florenz) verwendet. Offensichtlich hat der Bildhauer den christlichen Verkündigungsgestus auf Merkur übertragen, „um den heidnischen Gott gleichsam als Verkünder und Überbringer eines höheren göttlichen Willens zu charakterisieren“ (Herklotz 1977, S. 275).
Benvenuto Cellini: Merkur (um 1550);
das Original befindet sich heute im Museo Nazionle del Bargello, am
Marmorsockel des Perseus (Loggia dei Lanzi) wurde eine Kopie eingefügt
Als eine der Anregungen für Giambolognas oft nachgeahmte, doch nie übertroffene Statue gilt die Merkur-Statuette Benveneuto Cellinis (1500–1571), die die Basis seines Perseus in der Florentiner Loggia dei Lanzi schmückt (1554 enthüllt, siehe meinen Post „Cellinis Medusentöter“).

Glossar
Caduceus: Heroldsstab aus dem Altertum, versehen  zwei Flügeln und von zwei Schlangen mit einander zugewendeten Köpfen umwunden
Petasos: im antiken Griechenland breitkrempiger Hut mit flachem Kopf und Kinnriemen; mit einem Flügelpaar versehen ein Attribut des Götterboten Merkur

Literaturhinweise
Herklotz, Ingo: Die Darstellung des fliegenden Merkur bei Giovanni Bologna. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 40 (1977), S. 270-275;
Raumschüssel, Martin: Merkur. In: Björn R. Kommer (Hrsg.), Adriaen de Vries: 1556–1626. Augsburgs Glanz – Europas Ruhm. Umschau Braus Verlagsgesellschaft, Heidelberg 2000, S. 309-311;
Reuter, Guido: Statue und Zeitlichkeit 1400–1800. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2012, S. 44-46;
Syndram, Dirk u.a. (Hrsg.): Giambologna in Dresden. Die Geschenke der Medici. Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2006, S. 11-17; 
Vergil: Aeneis. In Zusammenarbeit mit Maria Götte herausgegeben und übersetzt von Johannes Götte. Artemis & WinklerVerlag, Zürich 1994.

(zuletzt berbeitet am 6. Januar 2021) 

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