Dienstag, 11. Februar 2020

Sächsisches Jerusalem – Caspar David Friedrichs Bild „Der Abendstern“

Caspar David Friedrich: Der Abendstern (um 1830/35); Frankfurt a.M., Freies Deutsches Hochstift
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Eine Familie kehrt vom abendlichen Spaziergang zurück, es beginnt dunkel zu werden, die Stimmung ist herbstlich. Während Mutter und Tochter eine Hügelkuppe hinaufsteigen, ist der ausgelassene Junge vorausgeeilt und bereits auf dem Scheitel angelangt. Er reißt die Arme hoch und schwenkt fröhlich mit der Rechten seine Mütze, um das erreichte Ziel zu grüßen: Es ist Dresden, von Osten her gesehen. Die Silhouette im Hintergrund zeigt von links die Kreuzkirche, die Frauenkirche, den Schlossturm und die Hofkirche. Die Formen der einzelnen Türme sind allerdings gegenüber den realen Bauten verändert, sodass die exakte Zuordnung erschwert ist. 
Vom höchsten Punkt des Hügels, den der Knabe bereits erreicht hat, hat man offensichtlich einen sehr eindrücklichen Blick auf die Stadt und die in der Ferne liegende Landschaft. Diese Sicht bleibt uns als Betrachter allerdings verborgen, weil wir unterhalb des Hügels verweilen müssen. Der Sonnenuntergang durchglüht den Himmel mit spätabendlich leuchtenden Farben, über der Kuppel der Frauenkirche ist der Abendstern aufgegangen. Die Blickrichtung und die Anordnung der Türme hinter einem Hügelrücken ähneln unverkennbar dem Hamburger Bild Bruchacker bei Dresden (um 1824).
Caspar David Friedrich: Bruchacker bei Dresden (um 1824), Hamburg, Kunsthalle
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Es ist eine schlichte, überaus ruhige Landschaft, die Friedrich auf diesem Gemälde abbildet, genau beobachtet, wirklichkeitsgetreu wiedergegeben – so wirkt es auf den Betrachter. Und doch, so die Deutung des Friedrich-Experten Helmut Börsch-Supan, meint der Maler mehr mit dieser Rückkehr: Er erinnert uns an das Ende, auf das jeder von uns zugeht. Es ist ein Bild, das ohne Erschrecken vom Tod spricht – denn das Ziel des Lebensweges war für den gläubigen Protestanten Friedrich die Heimkehr. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Abendstern, der Venus, zu: Er kündet den Abend und damit den nahenden Tod an – zugleich ist er aber auch der Morgenstern und so Symbol der Auferstehungshoffnung nach dunkler Todesnacht. In der Offenbarung des Johannes sagt Christus von sich selbst: ,,Ich bin (...) der helle Morgenstern“ (Offb. 22, 16; LUT); er ist der Garant der neutestamentlichen Jenseitsverheißung.
Am linken und rechten Bildrand des Hintergrunds hat der Maler Baumreihen eingefügt, die die Türme Dresdens gleichsam einrahmen – diese Pappeln sind als tradionelles Todessymbol zu verstehen. In der Silhouette Dresdens sind nur Kirchbauten zu erkennen – ein Hinweis darauf, dass der Glaube dem Menschen den Weg weist, wenn die Dunkelheit des Todes anbricht. Die Horizontlinie teilt das Bild in eine irdische und eine himmlische Hälfte – die drei Gestalten und die Kirchen gehören jedoch beiden Bereichen zu. Friedrichs Bild vereint melancholische Todesgewissheit und freudige Erwartung des Kommenden, die sich in der jugendlichen Lebenslust des Jungen ausdrückt. Die Blickrichtung des Betrachters folgt den drei Personen, wir wandern also mit ihnen auf diese Stadt zu. Dresden – die Stadt, die Friedrich sich 1798 nach seiner Akademiezeit in Kopenhagen zur Heimat wählte und in der er bis zu seinem Tod 1840 lebte – wird so zum Sinnbild der himmlischen Heimat. Eine vergleichbare Bedeutung kommt in seinen Gemälden nur seinem Geburtsort Greifswald und Neubrandenburg zu, aus dem beide Elternteile stammten.

Literaturhinweise

Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Prestel-Verlag, München 41987, S. 166;

Kuhlman-Hodick, Petra, u.a. (Hrsg.): Dahl und Friedrich. Romantische Landschaften. Sandstein Verlag, Dresden 2014, S. 225-226;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 7. Juni 2023)

Sonntag, 9. Februar 2020

Ruhender Pol im Tumult – Albrecht Dürers Kupferstich-Passion

Albrecht Dürer: Schmerzensmann (1509);
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Das Thema der Passion Christi hat Albrecht Dürer (1471–1528) ein Leben lang beschäftigt. Vier Passionszyklen sind von seiner Hand bzw. aus seiner Werkstatt überliefert und belegen seine intensive Auseinandersetzung mit dem Leiden und Sterben Jesu. 1503/04 entstand die „Grüne Passion“, eine Folge von zwölf in schwarzer Tusche angelegten Federzeichnungen auf grün grundiertem Papier, die heute in der Wiener Albertina aufbewahrt werden. 1511 veröffentlichte Dürer gemeinsam mit dem „Marienleben“ (siehe meinen Post „Ein Buch für die Himmelskönigin“) und der „Apokalypse“ (siehe meinen Post „Kunstvoller Weltuntergang“) das dritte seiner „Großen Bücher“, die sogenannte „Große Passion“ mit insgesamt 12 Holzschnitten einschließlich Titelblatt. Kurz darauf gab er die „Kleine Passion“ heraus, die 37 Holzschnitte umfasst – sein zugleich umfangreichster und vom Format her kleinster grafischer Zyklus, der neben den eigentlichen Passionsszenen auch andere Darstellungen aus der Heilsgeschichte enthält. 1512 erschien schließlich die Kupferstich-Passion im schmalen Hochformat mit 14 Szenen und einem Titelblatt, das als eine Art „Leseanleitung“ zu verstehen ist.
Meister der Karlsruher Passion (um 1450); Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
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Prägend für die Konzeption von Dürers Kupferstich-Zyklus dürften u.a. die um 1450 entstandenen Tafeln der Karlsruher Passion gewesen sein (siehe meinen Post „Der unvollständige Leidensweg“), die er auf seiner Gesellenreise am Oberrhein in Straßburg sehen konnte. Am deutlichsten zeigt sich bei Dürer jedoch der Einfluss des in ganz Europa verbreiteten und bekannten Passionszyklus von Martin Schongauer (um 1440–1491), der in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts entstanden ist und zu den Höhepunkten in der Kunst des Kupferstichs zu jener Zeit zählt (siehe meinen Post „Kunstvoll gestochenes Leiden“). Bekanntlich war Dürer auf seiner Gesellenreise am Oberrhein auch in Colmar, um die Werkstatt Schongauers zu besuchen, der jedoch im Jahr zuvor verstorben war.
Martin Schongauer: Gefangennahme Christi (um 1475); Kupferstich
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Martin Schongauer: Kreuztragung (um 1475); Kupferstich
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Innen- und Außenräume werden von Dürer durch architektonische Details wie die Geißelsäule über die Szenen hinweg miteinander verbunden; auch die Figurenkompositionen leiten oft auf das nächste Blatt hinüber. Dabei setzt die ruhige Kreuzigung (Bl. 11) vor nächtlichem Hintergrund inmitten des gedrängten Tumultes eine deutliche Zäsur im Erzählfluss. In dieser erzählerischen Rhythmik und Verkettung schließt Dürers Kupferstich-Passion ohne Frage an den Zyklus von Schongauer an. Einige Szenen wie die Gefangennahme (Bl. 3) Christus vor Kaiphas (Bl. 4) oder die Kreuztragung (Bl. 10) zeigen, dass sich Dürer unverkennbar am oberrheinischen Vorbild orientiert.
Entstanden sind Dürers Blätter zwischen 1507 und 1512, also zeitgleich mit seinen anderen beiden Grafikzyklen zur Passion. Erschienen ist die Folge jedoch, anders als die Passionen im Holzschnitt und das „Marienleben“, ohne Text, also als „reine Bildergeschichte“. Die Kupferstich-Passion war nicht als Erbauungsbuch für beitere Bevölkerungskreise gedacht, sondern als Liebhaberobjekt für gebildete Sammler – sie versprach einen hohen Preis auf dem Markt. Der Bildausschnitt ist meist eng gewählt; die gedrängten Figurengruppen, weit in den Vordergrund gerückt, agieren oftmals in Innenräumen oder um eine Bühne; auf vier Blättern sind Nachtszenen wiedergegeben.
Das Titelblatt von 1509 (Bl. 1) präsentiert Christus als „Schmerzensmann“ ein Bildtypus, der den Sohn Gottes als am Kreuz gestorben zeigt, mit den Attributen seiner Passion versehen (bei Dürer sind es Dornenkrone, Seitenwunde, Nägelmale, Martersäule mit Strick, Geißel und Rute), und ihn zugleich als den auferstandenen Erlöser darstellt. Links unten blicken Maria und Johannes von einem niedrigen Standpunkt auf Jesus – sie sind als Identifikationsfiguten gemeint, die uns demonstrieren, auf welche Weise die folgenden Bilder betrachtet werden sollen: Wie diese in mitleidender Anteilnahme zu dem gemarterten Christus aufschauen, ihn anbeten und dabei von den Blutströmen seiner Seitenwunde getroffen werden, so sollen wir den Sohn Gottes auf den gezeigten Leidensstationen begleiten und uns daran erinnern, dass sein vergossenes Blut uns erlöst.
Albrecht Dürer: Christus am Ölberg (1508);
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Entsprechend der Passions-Folge von Schongauer leitet die Ölberg-Szene Dürers Zyklus ein (Bl. 2): Die Arme „wie mit einem Schrei“ (Panofsky 1977, S. 194) emporgerissen, fleht Christus zu einer Engelerscheinung, die sich ihm aus einer Wolke zuwendet. Der Engel ist von einem hellen Lichtschein umgeben, der den mit seinem Schicksal hadernden Sohn Gottes erleuchtet. Mit angstvoll geweiteten Augen kniet er vor dem himmlischen Boten, der ihm nicht einen Kelch, sondern ein Kreuz zeigt – und ihm damit seinen Leidensweg andeutet. „Der leidende, vor Angst zitternde Mensch ist hier alleine das Thema, nicht der trotz aller Furcht dem Willen des Herrn letztendlich doch gehorchende Gottessohn“ (Schneider 1995, S. 70). Im Maßstab erkennbar vergrößert, bildet der aufgewühlte Christus einen deutlichen Kontrast zu dem im Vordergrund schlafenden Petrus. Die Landschaft und die drei schlafenden Jünger umfangen ihn bogenförmig, hinter seinem Rücken nähern sich bereits die Häscher  – Christus erscheint regelrecht in die Enge getrieben: „Die Gefangennahme ist hier in der Bildform vorweggenommen, ein Entkommen nicht mehr möglich“ (Reuße 2002, S. 66).  
In den folgenden Stationen seiner Marter erscheint Jesus nicht mehr erschüttert und erregt, sondern als stiller Dulder, der in würdigem Ernst seine Peinigungen erträgt. Er tritt als ruhender Pol im Tumult auf, eine wissende und überlegene Trauer ist seiner Mimik auf jeder Darstellung eingeschrieben. Jesu „Übermenschlichkeit“ offenbart sich gerade in seiner emotionalen Zurückhaltung, in seinem verhaltenen Schmerz, mit dem er sich würdevoll dem göttlichen Heilsplan fügt.
Ölberg-Szene und Gefangennahme Jesu (Bl. 3) sind beides „Nachtstücke“ – der Himmel ist überzogen mit langen parallelen Linien, vor denen die Personen schlaglichtartig beleuchtet werden. Auch in den Innenraumszenen strahlen oft auffällige Figuren im Vordergrund in hellem Licht, während der Hintergrund in nuancierten Graustufen bis hin zu schwarzen Schatten gestaltet ist: so der feiste Hohepriester Kaiphas, der sich demonstrativ sein Kleid zerreißt (Bl. 4), der von einem ungewöhnlichen Mantel bedeckte Zuschauer rechts vorne in der Ecce Homo-Szene (Bl. 8), der hässliche, geckenhafte Diener in der Handwaschung des Pilatus (Bl. 9) oder die Rückenfigur mit dem Filzhut in der Grablegung (Bl. 13).
Albrecht Dürer: Gefangennahme Jesu (1509);
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In der Gefangennahme scheint Christus, der die Augen geschlossen hat, weder die Schlinge direkt über sich zu bemerken, die ein Scherge um seinen Hals legen wird, noch die übrigen Soldaten und den herbeieilenden Fackelträger. „Schlinge und Stichwaffen umrahmen sein Haupt und nehmen die Dornenkrone vorweg“ (Mende/Schoch 2000, S. 133). Kompositorischer und inhaltlicher Mittelpunkt der tumultartigen Szene ist der Verräter Judas – hell beleuchtet vom Schein der Fackel steht er dicht vor Christus und küsst ihn auf den Mund. 
Im Vordergrund ist die Auseinandersetzung zwischen Petrus und Malchus dargestellt (Johannes 18,10-11), ein Zitat aus dem Kupferstich von Schongauer. Petrus, der mit einem Bein auf dem zu Boden gestürzten Malchus kniet, holt mit seinem Schwert weit aus. Er wird dem in Todesangst Aufschreienden im nächsten Augenblick ein Ohr abschlagen. Nah aneinandergerückt, kontrastiert die gewältige Auseinandersetzung deutlich mit der demütigen Ergebenheit Jesu. In der Ferne hat Dürer die im Markus-Evangelium geschilderte Episode (14,51-52) skizziert, in der ein Jünger Jesu bei der Flucht vor einem Verfolger sein einziges Kleidungsstück verliert und sich nur noch nackt retten kann.
Albrecht Dürer: Christus vor Kaiphas (1512);
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Auf dem Kaiphas-Blatt (Bl. 4) sitzt der feiste Hoheprieser hell beleuchtet als Profilfigur auf einer Art Richterstuhl, der von einem Baldachin bekrönt wird; in vorgetäuschter Empörung und als traditionelles Zeichen des Schuldspruchs, den er über Christus fällt, zerreißt er sein Gewand (Matthäus 26,65). Der von meist geharnischten Schergen vorgeführte Jesus jedoch überragt Kaiphas um Haupteslänge – der Sohn Gottes bleibt auch gefesselt der Überlegene. Die Szene spielt in einem beengten, von einer niderigen Bohlendecke abgeschlossenen, dunklen Raum; durch die Bohlendecke wird der Fluchtpunkt der Darstellung links an den Rand geschoben und damit kompositorisch der Dialog zwischen Christus und Kaiphas besonders betont.
Albrecht Dürer: Christus vor Pilatus (1512);
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Auf dem nächsten Kupferstich (Bl. 5) bringen gerüstete, teils mit Lanzen und Hellebarden bewaffnete Häscher Jesus vor den ein Richterschwert tragenden Pilatus. Dieser befindet sich bereits im Gespräch mit einem der falschen Zeugen, die in allen vier Evengelien erwähnt werden – Dürer stellt ihn als feisten, schmierigen Widerling dar. Dazu ist Pilatus aus einem dunklen, von einer Säule flankierten Raum in den tonnengewölbten Eingangsbereich seines Hauses getreten. Erneut überragt Christus alle Beteiligten an Körpergröße und sticht trotz seines schlichten Gewandes aus der bewegten Personenmenge heraus. Dabei hinterfängt ihn der hell erleuchtete Torbogen wie eine Gloriole. Die Säule neben Pilatus weist bereits auf die Leiden Christi voraus, die ihm unmittelbar bevorstehen. Einer der bewaffneten Schergen im Vordergrund ist noch im Begriff, die Bildbühne zu erklimmen. Dabei stützt sich die Rückenfigur auf seine Waffe und zieht sich am Ärmel von Christi Gewand hoch. Er nimmt uns als Betrachter quasi mit und lässt uns so ganz nah an das Geschehen heranrücken. 
Albrecht Dürer: Geißelung Christi (1512);
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In der Geißelung (Bl. 6) ist der nahezu entkleidete Christus in einer dunklen Halle mit den Armen an eine Säule gebunden worden; er krümmt sich unter den Schlägen, zu denen zwei Folterknechte mit Peitsche und Geißel gerade ausholen. Der ältere Peiniger rechts drischt mit dumpfer Wut auf den Rücken Jesu ein; links dagegen treffen sich für einen Moment die Blicke des jungen Schergen und des gefesselten Christus – fast scheint ein Zögern in dessen Haltung spürbar zu sein. Trotzdem wird er im nächsten Augenblick wieder zuschlagen. Doch dem Körper Jesu scheint die Folter nichts anhaben zu können, er bleibt völlig unversehrt. Die drei Hauptfiguren füllen das Bildformat nahezu aus, von den Zuschauern im Hintergrund ist dagegen kaum etwas zu sehen: Auf einen Stock gestützt, ist am linken Bildrand Pilatus zu erkennen.
Albrecht Dürer: Dornenkrönung Christi (1512);
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Die Dornenkrönung (Bl. 7) zeigt Christus leicht erhöht auf einer Sockelstufe vor einer Säulenflucht thronend. Ein weites Gewand, um seine Schultern, den Rücken, die Beine und die nur angedeutete Sitzbank drapiert, lässt den Blick auf den leicht nach vorne gebeugten Oberkörper frei. In der Rechten hält Jesus einen dünnen Rohrhalm, die andere Hand ruht in seinem Schoß. Die Verhöhnung durch die römischen Schergen scheint er gar nicht wahrzunehmen: Obwohl zwei Peiniger ihm gerade mit langen Zangen die Dornenkrone auf das Haupt zwängen, zwei weitere ihn mit Grimassen verspotten und einer mit einem Stab zum Schlag ausholt, wirken Haltung, Gestik und Mimik unbeteiligt, als habe er sich ganz in sich zurückgezogen. Erneut ist die im Profil gezeigte Gestalt Christi größer als alle anderen Figuren und dominiert so die Komposition. Pilatus, Kaiphas und ein dritter, bärtiger Mann beobachten aus dem Hintergrund das Geschehen.
Albrecht Dürer: Ecce Homo (1512);
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Danach wird der gefesselte Christus von Pilatus vor das Prätorium geführt (Bl. 8); dort präsentiert er ihn der Volksmenge mit den bekannten Worten: „Sehet, welch ein Mensch!“ (Johannes 19,5; LUT). Doch die Hohepriester haben dafür gesorgt, dass die Menge wutentbrannt Jesu Tod am Kreuz fordert. Dafür steht der langbärtige Jude zwischen der Profilfigur vorne rechts und Pilatus; er trägt eine Gesetzesrolle bei sich und scheint auszusprechen, was in Johannes 19,7 wiedergegeben ist: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht“ (LUT). Vorne rechts hat Dürer stellvertretend für die Menschenmenge eine einzelne, hell beleuchtete Gestalt platziert: „Die über die Augen gezogene Mütze und der verhüllende Mantel, unter dem ein Dolch zu sehen ist, setzen Hartherzigkeit ins Bild, die sich vor dem Mitleid verschließt“ (Sonnabend 2007, S. 184).
Albrecht Dürer: Handwaschung des Pilatus (1512);
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Die Handwaschung des Pilatus (Matthäus 27,24) findet vor dem richterlichen Haus statt (Bl. 9): Erstaunlicherweise ist die Profilfigur des knienden Dieners die auffälligste Gestalt des Blattes. In seiner aufwendigen Tracht mit der eigenartigen Kopfbedeckung wirkt er eher wie ein Hofnarr. Die Handwaschung selbst wird von Pilatus mit einer Bedächtigkeit vollzogen, „daß sie nicht mehr als symbolische Handlung wirkt: man glaubt einen Arzt zu sehen, der sich vor der Operation gelassen die Hände desinfiziert“ (Wölfflin 1943, S. 231). Der dornengekrönte Christus im Mittelgrund wird von zwei Soldaten abgeführt. Diese Nebenszene vor dem offenen Stadttor verweist auf die nun folgende Kreuztragung und den Tod Jesu auf dem Hügel Golgatha, der rechts oben im Hintergrund aufragt.
Albrecht Dürer: Kreuztragung (1512);
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Ohne erkennbare Anstrengung balanciert Christus auf dem nächsten Kupferstich (Bl. 10) das T-Kreuz, an dem er hingerichtet werden soll, auf seiner linken Schulter. Auch hierbei greift Dürer auf Schongauers Kupferstich zurück. Der in der Mitte des Bildes dominierende Heiland hält auf seinem Leidensweg für einen Moment inne und wendet sich mit segnender Gebärde der links vor ihm knienden Veronika zu. In ihren Händen hält sie das Schweißtuch, das dann später den Abdruck von Jesu Antlitz tragen wird. Doch schon zerrt ein Scherge mit derbem Ruck den Verurteilten weiter vorwärts. Diese drei Figuren aus dem Menschenzug herauszulösen und in den Vordergrund zu rücken, ist ebenfalls von Schongauer übernommen. Anders als sein Vorbild gliedert Dürer sie jedoch streng symmetrisch an und teilt dabei die Menge in Gut und Böse: Während bei Veronika weitere anbetende Frauen stehen, dominieren auf der anderen Seite „Lärm und grobe Gesten“ (Schneider 1995, S. 86). Gleichzeitig sind Christus und die beiden Assistenzfiguren pyramidal angeordnet: Der Scherge packt den Verurteilten in gebückter Haltung am Gewand und nimmt so dieselbe Höhe ein wie die andächtig kniende Veronika. Ohne Vorläufer ist Dürers Entscheidung, die eigentlich um die Vormittagszeit sttatfindende Handlung in die Nacht zu verlegen, um so das Blatt der dunklen Stimmungslage der gesamten Passionsfolge anzupassen.
Albrecht Dürer: Kreuzigung Christi (1511);
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Ganz undramatisch, beinahe wie eine Skulpturengruppe, zeigt Dürer dann Christus am Kreuz (Bl. 11) , umgeben von wenigen Trauernden. Die Mittelachse bildet der Kreuzesstamm, der die gesamte Höhe des Blattes einnimmt, der Querbalken die ganze Breite. Der Gekreuzigte hat das Haupt leicht gesenkt, sein Haar und mehr noch die Enden seines Lendentuches flattern im Wind vor dem bereits verdüsterten Himmel (Matthäus 27,45). „Sie allein, einer Siegesfahne gleich, künden vom Triumph über den Tod und der baldigen Auferstehung“ (Schneider 1995, S. 88). Der Schädel zu Füßen des Kreuzes verweist zum einen auf Golgatha als Ort des Geschehens; zum anderen ist er aber auch ein typologischer Hinweis auf Adam, den Stammvater des Menschengeschlechts, durch dessen Ursünde im Garten Eden Tod und Verdammnis in die Welt kamen. Durch seine Erlösungstat hat Christus als „neuer Adam“ (Römer 5,12-21) die Sühne für diese Ursünde auf sich genommen und die Menschheit wieder mit Gott versöhnt.
Links und rechts neben dem Gekreuzigten stehen der Jünger Johannes und die Mutter Maria in stiller Trauer und mit gefalteten Händen. Allein die kniende Maria Magdalena hinter dem Kreuz, die mit zurückgebeugtem Kopf zu Christus aufblickt, lässt etwas von dem Schmerz ahnen, der alle drei erfüllt. Auch Christus zeigt keine Zeichen von Qual. Seine Gesichtszüge sind entspannt, die Seitenwunde wird von Dürer nur angedeutet. Der nahezu unversehrte, athletische Körper des Gekreuzigten soll dabei in seiner irdischen Schönheit auf die Göttlichkeit Jesu verweisen („pulchritudo Christi“). Das flatternde Lendentuch verbindet Maria und Johannes und verweist so auf die am Kreuz von Jesus ausgesprochene Bitte Jesu, die Mutter möge den Jünger an Sohnes statt annehmen (Johannes 19,25-27).
Albrecht Dürer: Beweinung Christi (1507);
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Die 1507 datierte Beweinung Christi (Bl. 12) ist das früheste Blatt der Kupferstich-Passion und nach Dürers Rückkehr von seiner zweiten Italienreise entstanden. Als in den späteren Blättern spielt sich die zene vor einem hellen Himmel ab. Der Leichnam Jesu ist vom Kreuz genommen worden; dessen Stamm ragt noch mit der angelehnten Leiter hinter der Beweinungsgruppe auf. Mit einiger Anstrengung hebt Johannes den Oberkörper Jesu an, die Nägelmale sowie die Seitenwunde sind deutlich sichtbar. Er wird unterstützt von der seitlich knienden Mutter Jesu: Sie umfasst dessen linken Arm und trocknet zugleich in stiller Trauer mit dem Stoff ihres Gewandes ihre Tränen. Mit hoch aufgeworfenen Armen erhebt sich dahinter wehklagend Maria Magdalena und beweint den Toten lauthals. Aus dem Hintergrund kommen von rechts zwei Männer mit einem großen Salbgefäß.
Christus als Hauptfigur des Blattes wird dem Betrachter unverstellt und in perspektivischer Verkürzung präsentiert; auf gleicher Höhe befindet sich seine Mutter Maria. Das betrifft sowohl die räumliche Schichtung als auch die Kopfhöhe. Johannes und Maria Magdalena sind auf gleicher Ebene hinter Jesus platziert. Doch der Lieblingsjünger Jesu ist seinem Herrn durch die Wendung des Kopfes deutlich näher gerückt. Erst in der dritten räumlichen Schicht bewegen sich die beiden Salbgefäßträger.
Albrecht Dürer: Grablegung Christi (1512);
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Auf der Grablegung Christi (Bl. 13) beugen sich drei Männer geschäftig über einen steinernen Sarkophag und mühen sich, den Leichnam Christi hineinzulegen. Das Antlitz Jesu ist entspannt, die Dornenkrone abgenommen und beiseite gelegt, der etwas überlängt wiedergegebene Körper schlaff und schwer. Allein die Fußwunden deuten auf den Kreuzestod hin. Betende Frauen begleiten das Geschehen: exponiert in stiller Trauer die stehende Maria mit gefalteten Händen; Veronika, die wir von der Kreuztragung kennen, hat sich auf der linken Seite zum Leichnam hingeneigt. Magdalena, mit gesenktem Kopf und offenem Haar, sitzt an einer Felswand; im Hintergrund steht auch der Jünger Johannes. „Stille Trauer lastet über der Szene, die in ihrer Gedrängtheit den Zusammenhalt der Verbliebenen vermittelt“ (Reiße 2002, S. 69).
Die Rückenfigur mit dem hohen Hut und der prächtigen Tasche gehört nicht zum traditionellen Bildpersonal der Grablegung – vielleicht ist sie ein Zeitgenosse Dürers.
Obwohl der Leichnam Christi größtenteils von dieser Gestalt im Vordergrund verdeckt wird, bleibt er erzählerischer Mittelpunkt des Blattes: Alle Blicke sind ihm zugewandt, alles Tun gilt seiner Person. Ein wenig seitlich, sein Haupt weist ist diese Richtung, ist ein Baum aus der Grabesstätte ans Tageslicht gewachsen: eine leise Vorahnung der Auferstehung Christi.
Albrecht Dürer: Christus in der Vorhölle (1512);
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Das nächste Blatt (Bl. 14) zeigt den in die Vorhölle hinabgestiegenen Christus: Die mächtigen Türflügel eines großen Rundbogenportals sind gesprengt; eine Kreuzfahne als Siegeszeichen mit sich führend, hilft der Auferstandene Johannes dem Täufer nach oben. Andere drängen von unten aus dem lodernden Fegefeuer nach. Unbeirrt von teuflischen Mächten in Gestalt echsenartiger Bestien, vollendet Christus sein Erlösungswerk. Jenseits des Torbogens steht der als alter Mann wiedergegebene Adam mit seinem jungen Weib Eva. Die beiden bedroht ein auf dem Rundbogen sitzendes Höllentier mit einer Stachellanze – doch das Paar scheint wenig beeindruckt von diesem Angriff. Hinter den Ureltern ist noch Moses mit einer Gesetzestafel zu erkennen.
Das Ereignis wird unmittelbar aus der Sicht der in der Vorhölle bzw. dem Fegefeuer auf Erlösung hoffenden Seelen geschildert. Auf diese Weise ist zugleich auch der Betrachter selbst als „Sünder“ einbezogen. Damit umfasst der Kupferstich sowohl Ursprung wie Erfüllung der Heilsgeschichte.
Albrecht Dürer: Auferstehung Christi (1512);
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Beginnt der Zyklus mit dem von einer strahlenden Aureole umgebenen Engel, der Christus am düsteren Ölberg seinen Leidensweg ankündigt, so schließt die Folge mit dem übernatürlich leuchtenden Auferstandenen auf dem versiegelten Sarkophag vor nächtlichem Himmel (Bl. 15): Sein innerer Kampf mit dem eigenen Schicksal ist dem Triumph über den Tod gewichen – das Erlösungswerk ist vollbracht. Der Kreuznimbus Christi durchströmt den Nachthimmel, das sanfte Hügelland im Hintergrund ist ganz in Licht getaucht. Die Grabwächter sind allesamt von der übernatürlichen Erscheinung Christi geblendet. Nur die Figur mit dem Hut scheint am Geschehen unbeteiligt.  
Seine Rechte hat Christus im Segensgestus erhoben, die Linke hält die Kreuzesfahne. Nur die Seitenwunde und die Wundmale erinnern an Marter und Kreuzestod. Dem antiken Apoll vom Belvedere nachgebildet (siehe meinen Post „Der Apoll vom Belvedere“), präsentiert Dürer den Auferstandenen erhaben und vollendet schön in elegantem Kontrapost, um seine Göttlichkeit zu betonen. In der etwa gleichzeitigen Einleitung seines Entwurfs zu einem Lehrbuch der Malerei (1512/13) hatte er Christus in seiner Wohlgestalt dem heidnischen Gott an die Seite gestellt: „Dan zw gleicher weis, wy sy [= die antiken Künstler] dy schönsten gestalt eines menschen haben zw gemessen jrem abgot Abblo [= Apoll], also wollen wyr dy selb mos prawchen zw Crysto dem herren, der der schönste aller welt ist(Mende/Schoch 2000, S. 149). 
In der stecherischen Ausführung und den besonderen Hell-Dunkel-Kontrasten war Dürers Passionsfolge in seiner Zeit unübertroffen. Von den drei grafischen Zyklen, die der Nürnberger Meister diesem Thema widmete, wurde sie als der kostbarste gehandelt. Aus dem Tagebuch seiner „Niederländischen Reise“ geht hervor, dass der Künstler sie im Preis doppelt so hoch ansetzte wie seine Holzschnitt-Passionen. Dürer schätzte seine Kupferstich-Folge selbst so sehr, dass er sie mehrfach als erlesenes Geschenk bedeutenden und hochstehenden Persönlichkeiten wie Erasmus von Rotterdam oder Margarete von Österreich überreichte.

Literaturhinweise
Mende, Matthias/Schoch, Rainer (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 125-165;
Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Rogner & Bernhard, München 1977 (EA 1943), S. 193-198;
Reuße, Felix: Albrecht Dürer und die europäische Druckgraphik. Die Schätze des Kunstsammlers Ernst Riecker. Wienand Verlag, Köln 2002, S. 64-69;
Schneider, Erich (Hrsg.): Dürer als Erzähler. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung-Otto–Schäfer-II. Ludwig & Höhne, Schweinfurt 1995;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 182-191;
Wölfflin, Heinrich: Die Kunst Albrecht Dürers. Sechste Auflage. Bearbeitet von Kurt Gerstenberg. Verlag F. Bruckmann, München 1943 (EA 1905);
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.