Dienstag, 11. Februar 2020

Sächsisches Jerusalem – Caspar David Friedrichs Bild „Der Abendstern“

Caspar David Friedrich: Der Abendstern (um 1830/35); Frankfurt a.M., Freies Deutsches Hochstift
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Eine Familie kehrt vom abendlichen Spaziergang zurück, es beginnt dunkel zu werden, die Stimmung ist herbstlich. Während Mutter und Tochter eine Hügelkuppe hinaufsteigen, ist der ausgelassene Junge vorausgeeilt und bereits auf dem Scheitel angelangt. Er reißt die Arme hoch und schwenkt fröhlich mit der Rechten seine Mütze, um das erreichte Ziel zu grüßen: Es ist Dresden, von Osten her gesehen. Die Silhouette im Hintergrund zeigt von links die Kreuzkirche, die Frauenkirche, den Schlossturm und die Hofkirche. Die Formen der einzelnen Türme sind allerdings gegenüber den realen Bauten verändert, sodass die exakte Zuordnung erschwert ist. 
Vom höchsten Punkt des Hügels, den der Knabe bereits erreicht hat, hat man offensichtlich einen sehr eindrücklichen Blick auf die Stadt und die in der Ferne liegende Landschaft. Diese Sicht bleibt uns als Betrachter allerdings verborgen, weil wir unterhalb des Hügels verweilen müssen. Der Sonnenuntergang durchglüht den Himmel mit spätabendlich leuchtenden Farben, über der Kuppel der Frauenkirche ist der Abendstern aufgegangen. Die Blickrichtung und die Anordnung der Türme hinter einem Hügelrücken ähneln unverkennbar dem Hamburger Bild Bruchacker bei Dresden (um 1824).
Caspar David Friedrich: Bruchacker bei Dresden (um 1824), Hamburg, Kunsthalle
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Es ist eine schlichte, überaus ruhige Landschaft, die Friedrich auf diesem Gemälde abbildet, genau beobachtet, wirklichkeitsgetreu wiedergegeben – so wirkt es auf den Betrachter. Und doch, so die Deutung des Friedrich-Experten Helmut Börsch-Supan, meint der Maler mehr mit dieser Rückkehr: Er erinnert uns an das Ende, auf das jeder von uns zugeht. Es ist ein Bild, das ohne Erschrecken vom Tod spricht – denn das Ziel des Lebensweges war für den gläubigen Protestanten Friedrich die Heimkehr. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Abendstern, der Venus, zu: Er kündet den Abend und damit den nahenden Tod an – zugleich ist er aber auch der Morgenstern und so Symbol der Auferstehungshoffnung nach dunkler Todesnacht. In der Offenbarung des Johannes sagt Christus von sich selbst: ,,Ich bin (...) der helle Morgenstern“ (Offb. 22, 16; LUT); er ist der Garant der neutestamentlichen Jenseitsverheißung.
Am linken und rechten Bildrand des Hintergrunds hat der Maler Baumreihen eingefügt, die die Türme Dresdens gleichsam einrahmen – diese Pappeln sind als tradionelles Todessymbol zu verstehen. In der Silhouette Dresdens sind nur Kirchbauten zu erkennen – ein Hinweis darauf, dass der Glaube dem Menschen den Weg weist, wenn die Dunkelheit des Todes anbricht. Die Horizontlinie teilt das Bild in eine irdische und eine himmlische Hälfte – die drei Gestalten und die Kirchen gehören jedoch beiden Bereichen zu. Friedrichs Bild vereint melancholische Todesgewissheit und freudige Erwartung des Kommenden, die sich in der jugendlichen Lebenslust des Jungen ausdrückt. Die Blickrichtung des Betrachters folgt den drei Personen, wir wandern also mit ihnen auf diese Stadt zu. Dresden – die Stadt, die Friedrich sich 1798 nach seiner Akademiezeit in Kopenhagen zur Heimat wählte und in der er bis zu seinem Tod 1840 lebte – wird so zum Sinnbild der himmlischen Heimat. Eine vergleichbare Bedeutung kommt in seinen Gemälden nur seinem Geburtsort Greifswald und Neubrandenburg zu, aus dem beide Elternteile stammten.

Literaturhinweise

Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Prestel-Verlag, München 41987, S. 166;

Kuhlman-Hodick, Petra, u.a. (Hrsg.): Dahl und Friedrich. Romantische Landschaften. Sandstein Verlag, Dresden 2014, S. 225-226;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 7. Juni 2023)

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