Mittwoch, 4. März 2020

Im Schneckenhaus – Rembrandts Radierung „Hieronymus in einem dunklen Zimmer“ (1642)

Rembrandt: Hieronymus in einem dunklen Zimmer (1642); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Der Gelehrte und Theologe Hieronymus (347–420) gehört zusammen mit Ambrosius, Augustinus und Gregor dem Großen zu den sogenannten vier großen Kirchenvätern der Spätantike. Dank seiner umfassenden Bildung genoss er das besondere Vertrauen von Papst Damasus I., in dessen Auftrag er die Vulgata schuf, die lateinische Übersetzung der Bibel. Aus diesem Grund wurde er oft in einem Studierzimmer dargestellt. Hieronymus war ein äußerst produktiver Autor, der Kommentare zu biblischen Texten veröffentlichte und zahlreiche Briefe schrieb (153 sind noch erhalten). Diese Briefe haben die Humanisten im 15./16. Jahrhundert maßgeblich zu ihrer eigenen Briefkultur angeregt – der Kirchenvater war eines ihrer wichtigsten Vorbilder.
Rembrandt: Hieronymus kniend im Gebet (1635); Kupferstich
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Rembrandt (1606–1669) hat Hieronymus auf nicht weniger als sieben Radierungen dargestellt – die eindrücklichste davon stammt aus dem Jahr 1642. Im Unterschied zu den sechs anderen Radierungen, die den Kirchenvater betend oder lesend in einer Landschaft präsentieren, zeigt Rembrandt ihn hier in einem Interieur, in seiner Studierstube. Hieronymus sitzt in Gedanken versunken an einem Tisch, auf dem sich ein Foliant, ein Globus und ein an das Fenster angelehntes Kruzifix befinden. Er hält eine Schreibfeder in der Rechten, mit der Linken stützt er in Denkerpose den Kopf. In dem Fenster rechts oben am Bildrand ist helles Tageslicht sichtbar, doch dringt es kaum in das Dunkel des Zimmers ein. Nur allmählich erschließt sich dem Betrachter die dämmrige Szene. Kaum zu erkennen ist der Löwe, der vor dem Tisch liegt – das wichtigste Attribut des Kirchenvaters: Der Legende nach hatte Hieronymus dem hinkenden Tier einen Dorn aus der Pfote entfernt und ihn so von seinen Schmerzen befreit – der Löwe blieb danach als Begleiter bei ihm.
Vor der Wand, zwischen dem Fenster und der riesigen Wendeltreppe sind zwei weitere Attribute auszumachen: ein Schädel sowie ein an der Wand hängender Kardinalshut. Wegen seiner Tätigkeit für den Papst wurde Hieronymus fast durchweg als Kardinal abgebildet, obwohl er diesen Rang tatsächlich nie bekleidete. Die scharlachrote Amtstracht kennzeichnet ihn üblicherweise selbst in jenen Darstellungen, auf denen er in der Einöde Buße für jene Sünden tut, die er während seiner Jugendjahre in Rom begangen hatte.
Abgeschottet von der äußeren Welt, konzentriert sich Hieronymus ganz auf seine geistige Tätigkeit. Totenkopf und Kruzifix symbolisieren dabei die Meditation über die Vergänglichkeit alles Irdischen und den Erlösungstod Christi. Besondere Bedeutung kommt dem Lichteinfall zu: Eine zarte diagonale Lichtbahn verbindet das Kruzifix mit dem Gelehrten – Sinnbild für die göttliche Erleuchtung bzw. Inspiration des Kirchenvaters. Ihrer bedarf es, um die Heilige Schrift zu verstehen und zu übersetzen. Für Jürgen Müller ist jedoch vor allem die Finsternis bedeutsam, die den Raum erfüllt – mit ihr könnte exemplarisch die begrenzte Fähigkeit des Menschen gemeint sein, Gott zu erkennen.
Albrecht Dürer: Hieronymus im Gehäus (1514); Kupferstich
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Rembrandt setzt sich in seiner Radierung mit einem berühmten Vorläufer auseinander, nämlich Albrecht Dürers Kupferstich Hieronymus im Gehäus von 1514 (siehe meinen Post „Der gelassene Gelehrte“). Wie der Nürnberger Meister versetzt er den Gelehrten in ein Studierzimmer, das von der Seite durch Fenster beleuchtet wird. Auch den Balken, der längs der Decke durch das Zimmer läuft, übernimmt Rembrandt von Dürer. Er verdunkelt das Zimmer aber viel stärker und richtet es auch anders ein.
Rembrandts Grafik erinnert an Gemälde, die der Künstler in seinen frühen Jahren in Leiden geschaffen hatte, so z. B. den greisen Gelehrten, der in einer Gewölbekammer am Fenster sitzt (1631 entstanden). 
Rembrandt: Alter Gelehrter in einer Gewölbekammer (1631); Stockholm, Nationalmuseum
Rembrandt: Meditierender Philosoph (1632); Paris, Louvre
Rembrandt: Faust (1652); Radierung
Die Wendeltreppe, die fast die Hälfte der Hieronymus-Radierung einnimmt und dem Studierzimmer eine Schneckenhaus-Anmutung verleiht, hatte Rembrandt bereits auf dem Gemälde des Meditierenden Philosophen im Pariser Louvre verwendet (1632 entstanden). Die monumentalen Treppen können als Attribut des Gelehrten verstanden werden, da sie sich wie dessen Gedankengebäude emporzuschrauben und aufzutürmen scheinen. Zehn Jahre später greift Rembrandt das Thema des Gelehrten im Studierzimmer noch ein weiteres Mal auf, und zwar mit seiner sogenannten Faust-Radierung (1652).

Literaturhinweise
Müller, Jürgen: Der heilige Hieronymus in einem dunklen Zimmer In: Jürgen Müller/Jan-David  Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 266; 
Sevcik, Anja K. (Hrsg.): Inside Rembrandt 1606-1669. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2020, S. 106-107.

(zuletzt bearbeitet am 9. Juni 2020)

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