Donnerstag, 26. März 2020

Gunst oder Züchtigung? – Albrecht Dürers „Nemesis“-Kupferstich

Albrecht Dürer: Nemesis (um 1502); Kupferstich
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Albrecht Dürer (1471–1528) hat seinen um 1502 entstandenen Kupferstich Nemesis nach dem Namen einer griechischen Götterfigur benannt. Dabei handelt es sich um eine Personifikation der „Vergeltung“, die vor allem menschliche Selbstüberschätzung bestraft bzw. „das Gebührende“ zuteilt. Die mit ausgebreiteten Flügeln versehene, fast nackte Göttin ist im Profil dargestellt und schwebt stehend vor einem völlig leeren Hintergrund auf einer Kugel über einer weiten Landschaft. In ihren Händen hält die überlegen lächelnde, etwas dralle junge Frau die beiden Attribute, mit denen sie ihre zweischneidige Macht über die Menschen ausübt: in der Rechten einen spätgotischen Birnenpokal, aus dem sie ihre Belohnungen austeilt, in der Linken Zaumzeug und Zügel, mit dem sie die Übermütigen bändigt. Dass man sich die statuarische Figur in rascher Vorwärtsbewegung vorzustellen hat, zeigen das flatternden Haarbüschel auf ihrem Kopf und die beiden auffliegenden Enden der über die Schulter gelegten Draperie. Das Thema von Belohnung und Bestrafung bringt die Nemesis in eine inhaltliche Nähe zum Weltgericht der biblischen Apokalypse, zu der Dürer wenige Jahre zuvor eine Holzschnittfolge veröffentlicht hatte (siehe meinen Post „Kunstvoller Weltuntergang“). Es hat den Anschein, „als wollte Dürer, der die Figur der Nemesis aus gelehrten Texten der italienischen Renaissance kannte, dem christlichen Endzeitgedanken ein humanistisches Pendant zur Seite stellen“ (Sonnabend 2007, S. 96).
Albrecht Dürer: Vorzeichnung zur Nemesis; London, British Museum
Die leicht aus der Mittelachse des Blattes gerückte griechische Göttin ist eine konstruierte Gestalt, ihre runden Körperformen sind mit dem Zirkel gewonnen. Allerdings erinnern sie keineswegs an die klassische Antike – der vorgewölbte Bauch lässt eher an spätmittelalterliche Frauenfiguren denken. Eine seitenverkehrte Vorzeichnung (London, British Museum) mit einem in das Papier eingeritzten Raster zeigt, dass Dürer seinen naturalistischen Frauenakt an das ideale Proportionsschema des antiken Architekturtheoretikers Vitruv anpassen wollte. Dürer hat aber offensichtlich die Vorgaben Vitruvs anhand eigener Naturstudien überprüft und verbessert. Die üppige Körperlichkeit der Nemesis wurde von der in ihrem Geschmack an weiblichen italienischen Akten geschulten Forschung lange als „unschön“ (Panofsky 1977, S. 114 ) abgetan. Aber schon der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin führte ihr Aussehen auf ein Nürnberger Modell zurück und nannte sie „die erste Figur Dürers, die uns den warmen Hauch des Wirklichen spüren läßt“ (Wölfflin 1919, S. 107). Für Anne-Marie Bonnet betont die Nemesis geradezu programmatisch Dürers Position gegenüber den Leitbildern der italienischen Renaissance, denn hier werde ein komplexer humanistischer Inhalt mit ureigensten Mitteln (Kupferstich) und einem eigenen nordalpinen Geschmack formuliert.
Auffallend ist die klare Trennung in eine obere, himmlische Zone und einen unteren, irdischen Bereich, der einen präzisen Blick auf das miniaturhaft kleine Südtiroler Städtchen Klausen im Eisacktal mit Burg Säben wiedergibt. (An der Stelle, von der aus Dürer wahrscheinlich seine inzwischen verlorene Zeichnung für den Kupferstich anfertigte, befindet sich heute übrigens ein Gedenkstein.) Die Ansicht vereint panoramahafte Weite mit einem erstaunlichen Maß an genauem, identifizierbarem Detail und perfekter Messbarkarkeit – „nicht unähnlich einem modernen Luftbild, ist sie eher ein superbes Stück Kartographie als eine Landschaft im gewöhnlichen Sinne“ (Panofsky 1977, S. 110).
Albrecht Dürer: Die Eröffnung des fünften und des sechsten Siegels (um 1497/98);
Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken)
Ihre Monumentalität gewinnt die matronenhafte Nemesis nicht nur aus den schweren, prall modellierten Körperformen, sondern auch durch den Gegensatz zu der winzigen Landschaft, die sich in schwindelerregender Tiefe unter ihr ausbreitet. Die Göttin dominiert die Welt durch ihre schiere Übergröße, was noch dadurch unterstrichen wird, dass die Kugel das Wolkenband in der Mitte nach unten drückt. „Auch die Wahl der Vogelschauperspektive, wodurch die Welt der Menschen aus der Sicht der Göttin dargestellt scheint, unterstreicht den Einfluß der Nemesis auf die Weltenläufte“ (Thürlemann 2003, S. 30). Das gekräuselte Wolkenband, „das sich wie der Saum einer Decke über die Landschaft legt und sie schicksalhaft in Dunkel hüllt“ (Sonnabend 2007, S. 96), hatte Dürer ganz ähnlich bereits in seinen Apokalypse-Holzschnitten benutzt, um göttliche und irdische Sphären gegenüberzustellen.
Karl Giehlow erkannte 1902, dass Dürers Nemesis – die erste in nachantiker Zeit – auf eine längere Passage aus Angelo Polzianos Gedicht Manto aus dem Jahr 1482 zurückgeht, in dem die „Weltmacht Schicksal“ besungen wird. Die Kugel, auf der die Nemesis schwebend balanciert, gehört als Attribut eigentlich zur unbeständigen römischen Glücksgöttin Fortuna. Die Verschmelzung der beiden Göttinen zu einer Schicksalmacht geht ebenfalls auf das Poliziano-Dichtung zurück (Panofsky 1977, S. 109). Dürer hält sich detailliert an die Beschreibung des italienischen Humanisten – bis auf die Nacktheit der Figur, die seine Zugabe ist. Pokal und Zaumzeug als Sinnbilder für Gunst oder Züchtigung, die von der Nemesis ausgeteilt wurden, waren für die Zeitgenossen indessen sicher auch ohne die Lektüre Polizianos und tiefgründige humanistische Bildung erahnbar.
Albrecht Dürer: Das kleine Glück (um 1495/96); Kupferstich
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Bereits 1495/96 hatte Dürer in einem Kupferstich eine ähnliche, auf einer Kugel stehenden Frauengestalt dargestellt: Hier ist aber eindeutig Fortuna gemeint. Wegen der unterschiedlichen Größen der beiden Blätter wurden sie in der älteren Forschung auch als Das kleine Glück und Das große Glück bezeichnet. Die Nemesis ist Dürers zweitgrößter Kupferstich nach dem St. Eustachius (um 1501 entstanden, siehe meinen Post „Der wundersame Hirsch“). Er betrachtete das Blatt über die Jahrzehnte hinweg als aktuell: Der Nürnberger Meister nahm seine Nemesis mit auf seine niederländische Reise (1520/21) und vermerkte in dem dort geführten Tage- bzw. Rechnungsbuch mehrere Abgaben und Verkäufe.
Peter Paul Rubens: Fortuna (1638); Madrid, Prado
Peter Paul Rubens (1577–1640) hat 1638 ein hochformatiges Ölgemälde einer Fortuna geschaffen, das die Glücksgöttin ebenfalls gänzlich nackt und nur mit einem rosafarbenen Tuch drapiert zeigt. Mit einem weiteren, vom Wind aufgeblähten Tuch segelt die junge Frau über das stürmische Meer des Lebens. Ihre Position ist jedoch recht fragil, denn sie stützt sich mit dem rechten Fuß auf eine Glaskugel – und blickt uns dabei direkt an, denn wir als Betrachter sollen unser Lebensglück als zerbrechlich erkennen.

Literaturhinweise
Bonnet, Anne-Marie: ,Akt‘ bei Dürer. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2001;
Kauffmann, Hans: Dürers „Nemesis“. In: Tymbos für Wilhelm Ahlmann. Ein Gedenkbuch. Herausgegeben von seinen Freunden. De Gruyter, Berlin 1951, S. 135-159;
Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Rogner & Bernhard, München 1977 (zuerst erschienen 1943), S. 109-111 und 114-115;
Roth, Michael (Hrsg.): Dürers Mutter. Schönheit, Alter und Tod im Bild der Renaissance. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2006, S. 79;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 154-156;
Schneider, Erich (Hrsg.): Dürer – Himmel und Erde. Gottes- und Menschenbild in Dürers druckgraphischem Werk. Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen aus der Sammlung-Otto–Schäfer-II. Schweinfurt 1999, S. 142;
Schoch, Rainer: Nemesis. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 95-99;
Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 250;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 96;
Thürlemann, Felix: Im Schlepptau des großen Glücks. Die doppelte Mimesis bei Albrecht Dürer. In: Erika Greber/Bettina Menke (Hrsg.), Manier – Manieren – Manierismen. Gunter Narr Verlag, Tübingen 2003, S. 17-38;
Unverfehrt, Gerd (Hrsg.): Dürers Dinge. Einblattgraphik und Buchillustrationen Albrecht Dürers aus dem Besitz der Georg-August-Universität Göttingen. Kunstsammlung der Universität Göttingen 1997, S. 214-216;

Wölfflin, Heinrich: Die Kunst Albrecht Dürers. F. Bruckmann A.-G., München 1919 (3. Auflage).

 

(zuletzt bearbeitet am 19. Februar 2024) 

1 Kommentar:

  1. Vielen Dank für diese ausführliche und überzeugende Interpretation!

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