Samstag, 23. August 2014

Im Wettstreit mit der Antike – Baccio Bandinellis „Orpheus“ im Palazzo Medici-Riccardi


Baccio Bandinelli: Orpheus (um 1519); Florenz, Palazzo Medici-Riccardi
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Zeit seines Lebens hat den Renaissance-Bildhauer Baccio Bandinelli (1493–1560) der Wettstreit mit der antiken Skulptur beschäftigt. Bei seinem um 1519 entstandenen Orpheus drängt sich sofort der Vergleich mit dem Apoll vom Belvedere auf. Die Proportionen des Körpers, die Schrittstellung und die Haltung des Rumpfes verweisen deutlich auf das antike Vorbild. Sogar die Riemen-Sandalen sind ähnlich gestaltet, ebenso die lockige Haartracht. Aber Bandinelli wollte den Apoll vom Belvedere nicht einfach kopieren – er wollte ihn übertreffen.
Apoll vom Belvedere (1489 aufgefunden); Rom, Vatikan
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Insgesamt sechs antike Autoren – Horaz, Ovid, Platon, Quintilian, Seneca und Vergil – haben sich mit der Orpheus-Sage beschäftigt. Orpheus gilt als Sohn des thrakischen Königs Oiagros und der Kalliope, Tochter des Zeus und eine der Musen. Apoll nahm ihn wegen seiner musischen Fähigkeiten als Ziehsohn an und schenkte ihm eine Lyra. Von Apoll gelehrt, wurde Orpheus zum besten aller Sänger, der mit seiner Musik Götter, Menschen und sogar Tiere, Pflanzen und Steine zu betören vermochte.
Orpheus besänftigt den Höllenhund Cerberus durch seinen Gesang
Während der Apoll vom Belvedere über seine Schulter dem gerade abgeschossenen Pfeil nachzublicken scheint (in der Forschung herrscht heute Konsens darüber, dass er einen Bogen in der linken Hand hielt), richtet Bandinellis Orpheus seine Augen zum Himmel. Seine rechte Hand hat sich geöffnet, die Finger sind gespreizt: eine Geste, die zum einen den Gesang unterstreicht, der offenbar aus dem geöffneten Mund Orpheus’ ertönt. Zum anderen weist die Hand auf den an seiner Seite hockenden, dreiköpfigen Cerberus – er nimmt die Stelle des Baumstumpfes an Apolls rechtem Bein ein. Einer dieser Köpfe ist dem Betracher frontal und friedlich lauschend zugewandt. Denn Orpheus hatte, so erzählt Ovid in seinen Metamorphosen, den mehrköpfigen Wachhund am Eingang zur Unterwelt mit Leierschlag und Gesang besänftigt, um so in das Reich der Toten eindringen zu können.
Dieser Stich von Hendrik Goltzius (1592) zeigt den Zustand des Apoll vom Belvedere
nach den beiden Ergänzungen von Giovanni Montorsoli
Mit dem linken Arm des Orpheus weicht Bandinelli deutlich von seinem Vorbild ab. Zwar hat seine Skulptur gleichfalls das Gewand über den Arm geworfen – aber der ist abgewinkelt, weil er eine mittlerweile abgebrochene Leier hält, das unverzichtbare Attribut des Orpheus.
Vom rechten Arm des Belvederischen Apoll existierte um 1519 nur noch ein Armstumpf. Bandinellis Armlösung für seinen Orpheus erlebte ihrerseits eine erstaunliche Rezeption – und zwar bei der Rekonstruktion des Apoll vom Belvedere. Die Anstückung des Bildhauers Giovanni Montorsoli aus dem Jahr 1532 (siehe meinen Post „Der Apoll vom Belvedere“) ist eine direkte Reaktion auf Bandinelli. Montorsoli wollte, dessen Orpheus folgend, die Figur des Apoll lebhafter gestalten; wie Bandinelli suchte er dabei den Wettstreit mit der antiken Skulptur, um sie zu „verbessern“ und zu übertreffen. Montorsoli will „die Rhetorik von Bandinellis Hand des Orpheus übernehmen; aber da nutzt ihm keine abwärts weisende Hand, die ja bei Bandinelli auf Cerberus und Unterwelt zeigte. Er will die rechte Stoffmasse der Chlamys ausbalancieren mit Baumstumpf und Handgeste links“ (Winner 1998, S. 238). Für die neue, nach rechts ausfahrende Hand Apolls nahm er deswegen an der antiken Statue erst einmal eine Amputation am rechten Unterarm vor, den er bis zum Ellbogen abtrennte.
Der Palazzo Medici in Florenz, heute Palazzo Medici-Riccardi genannt, da er 1659 an die Familie Riccardi verkauft wurde (für die Großansicht einfach anklicken)
Den Auftrag zu seinem fast vollständig nackten Orpheus erhielt Bandinelli von Papst Leo X. (1513–1521). Bestimmt war die Skulptur für den Innenhof des Florentiner Palazzo Medici. 1494 hatte man dort nach der Vertreibung der Medici den Bronze-David Donatellos entfernt (siehe meinen Post „Androgyne Sinnlichkeit“) und in den Palazzo della Signoria gebracht. Vor dem Palazzo della Signoria hatte man 1504 außerdem noch Michelangelos Marmor-David aufgerichtet; der biblische Held wurde damit zum Wahrzeichen der wehrhaften Florentiner Republik und zum dezidiert anti-mediceischen Symbol.
Blick in den Innenhof des Palazzo Medici-Riccardi
1512 gelang den Medici jedoch die Rückkehr nach Florenz und an die Macht; Bandinellis Orpheus sollte nun Donatellos Statue ersetzen „und offensichtlich die Wiederherstellung des Friedens in Florenz unter den Medici versinnbildlichen“ (Poeschke 1992, S. 168). Außerdem sollte an diesem Ort eine dem Statuenhof des Belvedere vergleichbare Skulpturensammlung entstehen: So wie man in Rom den berühmten Apoll vorweisen konnte, wurde in Florenz dessen „Kopie“, der Orpheus, aufgestellt. Dass nun statt einer biblischen Figur wie David oder Judith eine Gestalt der antiken Mythologie einen so prominenten Platz im Palasthof einnahm, kann exemplarisch auf die Mentalitätsverschiebung hinweisen, die sich gegenüber dem vorausgegangenen Quattrocento in der Hochrenaissance ereignet hat.
Der hochrechteckige, reich dekorierte Sockel des Orpheus wurde von
Benedetto da Rovezzano nach Entwürfen Bandinellis gestaltet

Literaturhinweise
Greve, David: Status und Statue. Studien zu Leben und Werk des Florentiner Bildhauers Baccio Bandinelli. Frank & Timme, Berlin 2008, S. 71-90;
Krems, Eva-Bettina: Das Drama des Sehens und der Musik: Zur Darstellung des Orpheus-Mythos in bildender Kunst und Oper der Frühen Neuzeit. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 36 (2009), S. 269-300;
Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien. Band 2. Michelangelo und seine Zeit. Hirmer Verlag, München 1992, S. 168-169;
Winner, Matthias: Paragone mit dem Belvederischen Apoll. Kleine Wirkungsgeschichte der Statue von Antico bis Canova. In: Matthias Winer u.a. (Hrsg.), Il Cortile delle Statue. Der Statuenhof des Belvedere im Vatikan. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1998, S. 227-252.

(zuletzt bearbeitet am 25. Juni 2020)