Mittwoch, 10. Februar 2016

Grausame Götter – die antiken „Niobiden“ in den Uffizien


Die Niobiden – alle in einem Saal der Uffizien versammelt
Im Frühling des Jahres 1583 wurden auf einem Weingut in der Nähe von San Giovanni in Laterano in Rom neben anderen Skulpturen auch zehn fragmentierte Marmorstatuen aufgefunden. Wie sich herausstellte, bildeten sie eine gemeinsame Figurengruppe. Der Kardinal Ferdinando de Medici erwarb die antiken Skulpturen, ließ sie restaurieren und im Garten der Villa Medici aufstellen. 1769/70 wurden die sogenannten „Niobiden“ nach Florenz überführt und abermals ergänzt; 1781 bezog die Gruppe einen eigens hergerichteten Saal in den Uffizien.
Thema des Figurenensembles ist ein griechischer Mythos, den Ovid in seinen Metamorphosen erzählt (VI, 142-316). Er handelt von menschlichem Hochmut, göttlichem Zorn und der unfassbaren Grausamkeit, zu der die olympischen Götter fähig waren: Niobe, Gattin des Königs von Theben, ist stolz auf ihren Kinderreichtum. Mit ihren je sieben Knaben und Mädchen prahlt sie sogar vor der Göttin Leto und verspottet sie, nur zwei Kinder geboren zu haben. Leto fühlt sich in ihrer Ehre verletzt und bittet ihre beiden Kinder, Apoll und Artemis, die Beleidigung zu rächen. Apoll tötet die sieben Söhne der Niobe. Der Vater Amphion begeht daraufhin Selbstmord. Als Niobe nicht von ihrem Hochmut lässt, da ihr noch die Töchter geblieben seien, streckt Artemis auch diese sieben mit ihren Pfeilen nieder. Die jüngste Tochter flüchtet sich zur Mutter. Verzweifelt fleht Niobe um das Leben dieses letzten Kindes – vergeblich. Der ungeheure Schmerz lässt Niobe erstarren und schließlich versteinern. Der Wirbel eines mächtigen Windes erfasst sie und versetzt sie zurück in ihre alte phrygische Heimat am Berg Sipylos; aber auch dort  hört der Stein nicht auf, Tränen zu vergießen.
Entsetzen überall, denn keiner entkommt
Die Florentiner Gruppe zeigt nicht die strafenden Götter, sondern beschränkt sich allein darauf, das Leid der Kinder und die Verzweiflung der Mutter darzustellen. Einige Niobiden versuchen noch zu fliehen, sich entsetzt nach den schwirrenden Geschossen umblickend; andere sind bereits getroffen und fallen oder liegen tot am Boden. Zu den zehn erhaltenen Figuren zählt auch ein älterer bärtiger Mann, der ebenfalls dem Morden zusehen muss; es ist aber nicht der Vater, sondern der Lehrer der Kinder. Insgesamt musste die Gruppe also mindestens 16 Figuren umfasst haben: 14 nach ihren Altersstufen differenzierte Kinder, die Mutter sowie den Pädagogen. Mindestens in einem Fall bilden zwei Figuren eine eng umschlungene Zweiergruppe, nämlich die Mutter und die jüngste Tochter.
Vergeblich versucht die Mutter, ihr letztes Kind zu schützen
Das in die Knie gesunkene kleine Mädchen hat sich in den Schoß ihrer Mutter geworfen, die mit dem angehobenen linken Arm und ihrem Mantel wenigstens noch diese eine Tochter vor den tödlichen Pfeilen zu schützen versucht; mit der Rechten drückt sie ihr Kind an sich und blickt flehend empor. Die üppige Gestalt der Mutter und die Fülle ihres tief durchfurchten Gewandes bilden einen deutlichen Kontrast zu dem zarten, von feinen Falten überrieselten Körper des Mädchens. Ihr Untergewand wirkt derart dünn, dass Rücken und Gesäß fast wie nackt erscheinen; die Mantelfalten hingegen sind kräftig ausgeführt.
Erst sterben die Söhne, dann die Töchter ...
Die Niobiden gelten als Inbilder von Leid und Verzweiflung
Die Niobidengruppe ist nur in Kopien aus römischer Zeit überliefert. Über insgesamt 30 weitere römische Repliken belegen, dass die um 330/320 v.Chr. entstandenen griechischen Originalskulpturen in Rom gut bekannt waren. Über die ursprüngliche Anordnung der Niobiden gehen die Ansichten auseinander: Wurden die Figuren lose im Freien aufgestellt? Oder waren sie eng nebeneinandergereiht in einem Giebel angeordnet? Tatsächlich ist die abgestufte Höhe der Köpfe, von der Figur des liegenden Toten über die niederfallenden Niobiden bis hin zur größten Figur (der Niobe), ein Argument für die Anbringung in einem Dreiecksgiebel. Die felsartige Ausarbeitung der Plinthen wiederum legt eher eine räumlich lockere Gruppierung nahe, etwa in einem Garten.

Literaturhinweis
Andreae, Bernard: Skulptur des Hellenismus. Hirmer Verlag, München 2001, S. 65-66.

(zuletzt bearbeitet am 19. November 2018) 

Dienstag, 2. Februar 2016

Das Porträt im österreichischen Expressionismus (2): Oskar Kokoschka malt Herwarth Walden


Oskar Kokoschka: Bildnis Herwarth Walden (1910); Stuttgart, Staatsgalerie
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Mit seinen frühen Porträts legte der österreichische Expressionist Oskar Kokoschka (1886–1980) den Grundstein zu seinem Ruhm. Sie gelten allgemein als sein bedeutendster Beitrag zur europäischen Moderne. Als Beispiel für Kokoschkas Bildniskunst sei hier sein Porträt von Herwarth Walden (1910) vorgestellt, das sich heute in der Staatsgalerie Stuttgart befindet.
Der Kunsthändler, Verleger, Schriftsteller und Komponist Herwarth Walden (1879–1941), eigentlich Georg Lewin, war einer der wichtigsten Vorkämpfer der Avantgarde in Deutschland. Von Berlin aus entfaltete er zahlreiche Aktivitäten, um der Kunst seiner Zeit zum Durchbruch zu verhelfen: Ab 1910 gab Walden eine Wochenschrift für Kultur und die Künste mit dem Titel Der Sturm heraus, 1912 gründete er die gleichnamige Sturm-Galerie, wob ein dichtes Netz von Bekanntschaften und organisierte Ausstellungen in ganz Europa, 1914 sogar in Tokio. „Mit dem »Sturm«-Kreis schuf er auf der Landkarte der europäischen Moderne einen Ort, wo deutsche Expressionisten, italienische Futuristen, Dadaisten und französische Kubisten am Vorabend des Ersten Weltkriegs zusammenfanden“ (Natter 2002, S. 138). Es war Herwarth Waldens Verdienst, dass Berlin neben Paris zum Zentrum der Avantgarde wurde.
Herwarth Walden, 1918
Der Titel des Journals Der Sturm ging auf Waldens damalige Ehefrau zurück, die Dichterin Else Lasker-Schüler (1869–1945). Sie hatte auch den Namen Herwarth Walden kreiiert. Das Paar trennte sich 1912. Nachdem am 3. März 1910 die erste Nummer des Sturm erschienen war, wurde Oskar Kokoschka schnell zu einem der wichtigsten Mitarbeiter. Zu diesem Zweck siedelte Kokoschka ab Mitte Mai für ein halbes Jahr nach Berlin über. In der Sturm-Galerie fand dann wenige Wochen später bereits die erste Kokoschka-Ausstellung in Deutschland statt – unter den 27 ausgestellten Ölbildern befanden sich 24 Porträts. Von 1909 bis Ende 1910 schuf Kokoschka in rascher Folge rund 40 Bildnisse. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs kamen nochmals so viele hinzu – Kokoschkas Frühwerk wurde ohne Frage von dieser Bildgattung dominiert. 
Oskar Kokoschka: Herwarth Walden (1910; Feder in Tusche über Bleistiftspuren);
Cambridge, Harvard Art Museum
Kokoschkas hohes Arbeitstempo am Beginn seiner Karriere verblüffte die Zeitgenossen; das „Drauflosmalen“ bestimmte auch die Porträtsitzungen, bei denen er auf vorbereitende Studien verzichtete. Von den Kritikern wurden Kokoschkas Porträts zumeist gnadenlos zerrissen. Seine Gegner sprachen von „Verwesungsmalerei“, ereiferten sich über den vermeintlich barbarischen „Hässlichkeitstaumel“ und sahen in den Gestaltungsmitteln des Künstlers einzig und allein Zeichen des Niedergangs.
Von seinen expressionistischen Kollegen in Deutschland unterscheidet sich Kokoschka vor allem durch den Einsatz der Farbe. Oft ist sie derart lasierend und dünn aufgetragen, dass sie die Leinwand kaum färbt, stellenweise ist sie kaum in das Baumwollgeflecht eingesickert und deckt nur dessen oberste Schicht. Umgekehrt hat Kokoschka pastose Stellen mit dem Tuch und wohl auch mit dem Finger verwischt, wodurch sich die Pigmente nur mehr in den „Tälern“ der groben Leinwand festsetzen konnten. Der Malgrund erhält damit einen wesentlichen Anteil an der Gesamterscheinung des Bildes.
Oskar Kokoschka: Hans Tietze und Erica Tietze-Conrat (1909); New York, The Museum of Modern Art
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Kalligrafische, kratzende Eingriffe in die Farbfläche, etwa mit dem Ende des Pinsels, werden ein weiteres wichtiges Gestaltungsmittel Kokoschkas. „Im Hinblick auf den deutschen Expressionismus fällt auf, dass Kokoschkas kalligrafische Reichhaltigkeit mit einem lasierend koloristischen Reichtum korrespondiert, der den »Brücke«-Malern und Mitgliedern des »Blauen Reiters« fremd ist. Kokoschka hingegen bündelte schillernde Fabvaleurs und schwefelige Zwischentöne zu einem irrealen Schauspiel“ (Natter 2002, S. 91).
In dem 1910 entstandenen Profil-Porträt Herwarth Waldens liegt über weite Bereiche die taubengrau grundierte Leinwand offen. Erst im Hintergrund setzt Kokoschka farbige Flächen ein. Die agile, vorwärtsdrängende Persönlichkeit Waldens vermittelt sich dem Betrachter durch einen skizzenhaft vibrierenden Farbauftrag. „Dem kühlen Akkord der Blau-Weiß-Schwarz-Töne im Gewand antwortet das Strohgelb der dünnen Haare. Die leuchtend roten Akzentuierungen um Nase und Mund aber vermitteln Waldens Angriffslust“ (Natter 2002, S. 138).
Von der Weltwirtschaftskrise stark betroffen, musste Waldens Zeitschrift mit dem März-Heft 1932 sein Erscheinen einstellen. Noch im Sommer desselben Jahres emigrierte der engagierte Linke mit seiner vierten Frau in die Sowjetunion. Hier bestritt er mit Deutschunterricht für Erwachsene am Moskauer Fremdspracheninstitut und mit journalistischer Tätigkeit den Lebensunterhalt seiner kleinen Familie 1933 wurde die Tochter Sina geboren. Wenige Jahre später ereilte Walden das tragische Schicksal so vieler deutscher Emigranten, die, erfüllt von Idealismus, in die Sowjetunion übergesiedelt waren und dann Opfer der stalinistischen Säuberungswellen wurden. Im Frühjahr 1941, noch vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, verhaftete man Walden unter dem Vorwand der Spionage und deportierte ihn später in ein Lager nach Saratow an der Wolga, wo er noch im selben Jahr, nach offizieller Mitteilung am 31. Oktober, völlig entkräftet an Herzschwäche starb.

Literaturhinweise
Beloubek-Hammer, Anita: DER STURM – Schauplatz der europäischen Avantgarde im zeitgenössischen Umfeld. Zum 100. Jubiläum der von Herwarth Walden gegründetn Berliner Kunstgalerie. In: Jahrbuch der Berliner Museen 54 (2012), S. 103-127;
Natter, Tobias G. (Hrsg.): Oskar Kokoschka. Das moderne Bildnis 1909 bis 1914. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002.

(zuletzt bearbeitet am 4. November 2021)