Martin Schongauer: Auferstehung Christi (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Martin Schongauer (um 1440–1491) hat seiner vierteiligen Kupferstich-Folge zum Marienleben (siehe meine Posts „Bis zuletzt rein und unbefleckt“ und „Malen mit dem Grabstichel“) noch einen zweiten Grafik-Zyklus folgen lassen: zwölf Blätter mit Szenen aus der Passion Christi. Diesmal beschränkte sich der Künstler auf ein schmales Hochformat, was die Zahl der dargestellten Figuren von vornherein begrenzte. Schongauer gelang dabei ein enger Zusammenhalt der Einzelszenen, da verschiedene Figuren immer wieder auftauchen, selbst untergeordnete Akteure. In fünf der zwölf Szenen erscheint etwa ein Häscher mit Turban und rüschenbesetzter Kleidung, der den gefangenen Jesus an einem Seil mit sich fortzieht; auf der Geißelung sehen wir bereits den Schergen, der die Dornenkrone flicht; Pilatus erscheint zögernd und widerwillig bei der Dornenkrönung, erhält mit der Handwaschung ein eigenes Blatt und spielt in der Schaustellung Christi nochmals eine klägliche Rolle am äußersten Rand. Sogar Malchus aus der Gefangennahme begleitet das Geschehen und bildet in der Auferstehung mit seiner Laterne den Schlusspunkt der ganzen Serie. Auch Gegenstände wiederholen sich: Petrus greift im ersten Blatt an das Schwert, das er im zweiten aus der Scheide zieht; die Strohfackel aus der Gefangennahme liegt bei dem Blatt Christus vor dem Hohepriester vorne am Boden – sie betont, nun abgebrannt, die verstrichene Zeit. „Die Folge ist also entschieden so konzipiert, daß sie im Zusammenhang betrachtet werden soll, etwa wie man in einem Buch blättert“ (Kemperdick 2004, S. 54/55).
Meister der Karlsruher Passion: Kreuztragung Jesu (um 1450); Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle (für die Großansicht einfach anklicken) |
Das Vorbild für eine solche Erzählweise bot am Oberrhein ein herausragendes Werk der vorangegangenen Künstlergeneration: die sogenannte Karlsruher Passion, geschaffen um 1450 von einem Straßburger Meister, wahrscheinlich dem Maler Hans Hirtz (siehe meinen Post „Der unvollständige Leidensweg“). Diese noch aus sieben Tafeln bestehende, ursprünglich aber umfangreichere Folge zeigt die Passionsszenen ebenfalls in einem Hochformat, dessen Höhen- und Breitenverhältnis ziemlich genau dem von Schongauers Stichen entspricht. Schongauer übernimmt von der Karlsruher Passion als Stilmittel nicht nur die Wiederholung von Figuren und Details, er drängt seine Gestalten auch ebenso zusammen wie der ältere Künstler und schildert wie dieser ausführlich die zum Teil fratzenhaften Gesichter und diversen Kostüme der Schergen.
Martin Schongauer: Christus am Ölberg (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Schongauers Erzählzyklus setzt mit dem Passionsgeschehen im engeren Sinn ein; die oft hinzugenommenen vorausgehenden Szenen des Einzugs in Jerusalem und des Abendmahls fehlen. Christus am Ölberg (Matthäus 26,36-56) zeigt im Vordergrund die drei schlafenden Jünger: Jakobus hat sich seinen Mantel über den Kopf gezogen und ihn auf die rechte Hand gestützt; Johannes ist das Haupt auf die über einem Buch gefalteten Hände gesunken; Petrus greift in unruhigem Schlummer nach seinem Schwert, was auf die herannahende Gefahr durch die am rechten Bildrand in den Garten Gethsemane eindringenden Häscher vorausdeutet.
Der betende Christus ist zwar im Mittelgrund platziert, hat aber die Proportion einer Vordergrundsfigur. Er kniet vor einem steil aufragenden Felsen, über dem ein mit langem Gewand bekleideter Engel erscheint, um den zutiefst verzagten Gottessohn zu stärken (Lukas 22,43). Die nach vorne hell beleuchtete, an den Seiten dunkle Felsformation trennt die Hauptfigur von der Gruppe der Schächer. Die mit Lanzen und Knüppeln bewaffneten Männer sind nur für den Betrachter sichtbar; angeführt werden sie von Judas, erkennbar an dem Geldbeutel, den er in der Hand hält – es ist der Lohn für den Verrat, den er begehen wird.
Martin Schongauer: Gefangennahme Christi (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Gefangennahme Christi zeigt nicht wie so oft den Judaskuss – der ist bereits erfolgt, denn der gefesselte Jesus wird von den Häschern nach rechts abgeführt, während sich am linken Bildrand Judas mit seinem Geldbeutel in die Gegenrichtung davonmacht. Die gefesselten Hände Christi befinden sich in der Mitte des Bildes und verdeutlichen das Thema des Blattes. Die Schergen des Hohen Rates haben Jesus an den Armen, am Gewand und am Haar gepackt und ziehen ihn an einem um den Hals gelegten Seil voran. Alle Gestalten überragend, das hell beleuchtete Gesicht frontal dem Betrachter zugewandt, ist Christus bildbestimmend auf der Mittelachse platziert.
In den Bildvordergrund gerückt hat Schongauer die Malchus-Episode (Johannes 18,10-11), die gewöhnlich als untergeordnetes Ereignis bei der Gefangennahme Jesu behandelt wird: Petrus attackiert den am Boden liegenden, barfüßigen Malchus, einen Knecht des Hohepriesters, der sich mit einem Knüppel zu wehren versucht. Es wird ihm nichts nutzen – Petrus schlägt ihm im nächsten Moment das rechte Ohr ab. Schongauer hebt die Szene so hervor, um die heftige Reaktion des Jüngers mit der stillen Demut zu kontrastieren, mit der Christus, umringt von der wütenden Häscherschar, seine Gefangennahme hinnimmt. Der Sohn Gottes bildet den einzigen Ruhepunkt des Blattes: „Es ist, als werde nur scheinbar an ihm gerissen und gezerrt, ohne daß eine tatsächliche Kraft- und Gewalteinwirkung ausgedrückt wäre“ (Brown/Dautert 1991, S. 98). Widerstandslos lässt sich Christus, der im Vorwärtsschreiten auf den Angriff des Petrus zurückblickt, von einem Schergen mit Turban in die nächste Szene führen.
Martin Schongauer: Verhör vor dem Hohepriester (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Das Verhör vor dem Hohepriester (ob es sich um Kaiphas oder Hannas handelt, lässt sich nicht wirklich entscheiden) inszeniert Schongauer in einer rundbogigen, gewölbten Vorhalle. Der oberste Tempelpriester sitzt am rechten Bildrand auf einem durch eine polygonale und eine halbrunde Stufe erhöhten, steinernen Thron mit Baldachin. Als Zeichen seines Richteramts hält er einen langen Stab in der Linken und hat die Beine übereinandergeschlagen. „Diese Pose der Autorität wirkt in der verdrehten Stellung seiner in spitzen Beinlingen steckenden Glieder auf groteske Weise verzerrt“ (Brown/Dautert 1991, S. 98). Er trägt einen kuttenartigen Mantel mit spitzer Kapuze und hält Richtstab und Handschuh in der linken Hand. Mit der Rechten auf den Gefangenen weisend, führt er die Anklage. Ein hinter ihm stehender Schriftgelehrter erwartet mit lauerndem Blick die Antwort Jesu. Doch dieser steht schweigend mit demütig gesenktem Haupt vor dem Richterstuhl. Vor ihm am linken Bildrand holt eine der Rückenfiguren zum Hieb gegen Christus aus. Es ist kein anderer als Malchus, der seine in der Gefangennahme neben ihm niedergefallene Laterne nun in der Hand hält. Obwohl sein Ohr von Jesus geheilt wurde (Lukas 22,50-51), ist er im Begriff, seinen Wohltäter zu misshandeln.
Jesus ist umringt von zornigen Gesichtern und in die Höhe ragenden Waffen; inmitten der neugierig nachdrängenden, an ihm zerrenden, erregt gestikulierenden Menge steht er still zwischen den beiden Häschern, die ihn in der Gefangennahme an den Armen gepackt haben. Trotz des gebeugten Hauptes überragt Christus die feindselige Menschenmenge. Sein helles Antlitz wird von einem stark verschatteten Pfeiler hinterfangen. „Mit diesem größten Kontrast des Bildes erreicht der Künstler, daß das Gesicht des Heilands zu leuchten scheint“ (Brown/Dautert 1991, S. 99). In der Mitte zwischen Jesus und dem Hohepriester steht der turbantragende Scherge mit den gerüschten Rocksäumen, der – nun frontal dem Betrachter zugewandt – auf den von Jesus demütig hingenommenen Angriff des Malchus blickt. Er hält Jesus noch immer am Strick, und so wird er es auch sein, der ihn zur nächsten Szene abführt. Am vorderen Bildrand links liegt die bereits erwähnte verlöschende Fackel, die im Tumult zu Boden gefallen ist.
Rogier van der Weyden: Enthauptung des Johannes, Ausschnitt aus der 3. Tafel des Johannesaltars (um 1453/55); Berlin, Gemäldegalerie |
Martin Schongauer: Geißelung Christi (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Geißelung Jesu fand nach dem Matthäus- und dem Markus-Evangelium (27,26; 15,15) nach seiner Verurteilung durch den römischen Prokurator Pilatus statt und wurde von diesem verfügt. Sie war Bestandteil der verhängten Todesstrafe und leitete die Kreuzigung ein. Nur nach dem Johannes-Evangelium erfolgten Geißelung und Dornenkrönung noch während der Verhöre vor Pilatus. Schongauer folgt mit seinem Blatt dem Johannesbericht, da Christus in der Handwaschung bereits dornengekrönt vor Pilatus tritt.
Christus steht in der Bildachse vor der Geißelsäule, die als Stütze der tonnengewölbten Decke einer Halle dient. Der an Händen und Füßen an die Säule gefesselte, bis auf ein reich gefälteltes Lendentuch nackte Gottessohn wird von auffällig bekleideten Schergen umringt, die ihn mit Ruten und Geißeln attackieren. „Ihre tänzerisch wirkenden, weit ausholenden Bewegungen scheinen sich in den wild flatternden Gewändern zu wiederholen“ (Brown/Dautert 1991, S. 99). Dem Rutenschläger links, der ein Haarbüschel Christi ergriffen hat, hängt seine Jacke nach hinten herab, wobei sie auf groteske Weise zwei weitere Glieder zu bilden scheint. Der Kreis der um die Martersäule rotierenden Bewegungen wird von einem Knecht hinter Jesus geschlossen, der dessen Hände bindet. Konzentriert und beinahe lustvoll flicht der Scherge am linken Bildrand die Dornenkrone – und hat deswegen seine Geißel an der Säulenbasis abgelegt. Diese Figur dient auch als Überleitung zur nächsten Szene. Trotz der Ruten- und Geißelschläge scheint Jesus körperlich unversehrt. Auch sein Gesicht drückt nicht physischen Schmerz aus, in seinem Antlitz spiegelt sich vor allem seelisches Leid. Wiederum überragt der Sohn Gottes seine Folterknechte.
Martin Schongauer: Dornenkrönung Christi (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Dornenkrönung spielt sich in einer weiteren Halle des Richthauses ab. Entgegen den biblischen Berichten (Matthäus 27,27-30; Markus 15,16-19), die das Haus des Hohepriesters von dem des Statthalters trennen, macht die Architektur in Schongauers Stichen den Eindruck eines zusammenhängenden Gebäudekomplexes. Die Schergen aus der Geißelung Christi haben Jesus den „königlichen“ Spottmantel umgelegt und ihn auf eine „Thronbank“ gesetzt, die um eine schmale Stufe mit halbrundem Vorsprung erhöht ist. Die fünf Knechte, die lediglich in diesen beiden Blättern auftreten, sind gegenüber der Geißelung in lockerer Symmetrie angeordnet.
Links im Vordergrund knien die beiden Knechte, die in der Geißelung rechts zu sehen waren; ihre Gesichter sind wie dort eng zusammengefügt. Der vordere – wieder als Rückenfigur gezeigt und den anderen fast verdeckend – zieht höhnisch seinen Hut vor dem Gottessohn und drückt ihm ein Rohrzepter in die Hand. Zwei weitere Schergen, eben noch damit beschäftigt, Christi Fesseln zu straffen und die Dornenkrone zu flechten, pressen diese nun mit Stöcken auf sein Haupt und schlagen auf ihn ein. Der Halbkreis wird rechts von dem linken Rutenschläger mit der Zipfelmütze geschlossen, der Christus nun in den Halsausschnitt des Mantels greift. Vor ihm erscheint erstmals im Passionsgeschehen ein barfüßiger, mit einem Knüppel versehener Junge, der, auf den Fingern pfeifend, in die Verspottung einstimmt.
Am linken Bildrand steht Pilatus mit spitzem Hut. Schongauer lässt den römischen Statthalter nicht – wie häufig dargestellt – der Geißelung beiwohnen, sondern der Dornenkrönung, was wiederum direkt zur nächsten Szene überleitet. Der Prokurator lauscht den Worten seines Begleiters, der ihn leicht am Arm berührt: Es ist wahrscheinlich der Bote seiner Frau, die – gewarnt durch einen Traum – Pilatus bitten lässt, Jesus freizugeben (Matthäus 27,19).
Christus selbst wird ebenso wie in der Geißelung betont als Erdulder seiner Leiden gezeigt – erkennbar an seiner niedrigen Sitzposition, den matten, traurigen Gesichtszügen und seinen kraftlosen Gliedern. Dennoch überwiegt der Eindruck von Würde und Erhabenheit des Gemarterten: Durch die klare Symmetrie der Architektur wird Jesus als Bedeutungsmittelpunkt hervorgehoben. Der Gottessohn thront in der Vertikalachse, vom gotischen Gewölbe der Halle wie von einem Baldachin überfangen. Die Kreuzrippen mit dem zentralen Schlussstein und das spitzbogige Fenster überkrönen sein Haupt. Dabei ist der Schlussstein nicht nur ein architektonisches Element, der dem Zusammenhalt des Gewölbes dient und die Vollendung des Bauwerks anzeigt, sondern kann auch als Symbol für Christus verstanden werden, der den Heilsplan Gottes mit seinem Tod und der Auferstehung zum Abschluss bringt.
Martin Schongauer: Ecce Homo (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Schongauer kontrastiert den äußerst gebrechlich und ausgezehrt wirkenden, Mitleid erregenden Christus mit der erbarmungslosen, aufgepeitschten Volksmenge. Wie gebunden sind die Hände Jesu vor seinem Leib übereinander gelegt, doch fehlt die Fessel. Der über der rechten Schulter zurückgeschlagene Mantel gibt den Blick frei auf die kraftlosen, ausgemergelten Beine. Hervorgehoben aus der auf die Treppe vordringenden Meute ist die helle Figur des laut schreienden Anführers, der schon den Hammer zur Kreuzigung bereithält. Unter dem Torbogen drängt die Menge nach, von der nur einige Waffen und ein emporgereckter Arm sichtbar sind.
Von der Handwaschung des Pilatus wird nur im Matthäus-Evangelium berichtet (27,24-25, allerdings vor Geißelung und Dornenkrönung). Sie steht stellvertretend für das Urteil über den Sohn Gottes: Nur Pilatus als römischer Statthalter konnte zur Zeit Jesu die Strafe der Kreuzigung verhängen. Der Urteilsspruch selbst wird im Lukas-Evangelium erwähnt (23,23). Um die denkbar schändlichste und entehrendste Bestrafung zu erreichen, verklagte der Hohe Rat der Juden Jesus als politischen Hochverräter, der angeblich den jüdischen Königsthron zu erlangen versuchte. Pilatus, der ein politisches Vergehen nicht feststellen konnte, verurteilte den Angeklagten schließlich trotz großer Zweifel an seiner Schuld, um einen Aufruhr unter den Juden zu vermeiden. Mit der Handwaschung demonstrierte der Prokurator nach altem jüdischen Brauch seine Unschuld am Tode Jesu.
Martin Schongauer: Handwaschung des Pilatus (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Christus steht leicht gebeugt und mit ebenfalls gesenktem Blick auf der ersten Stufe des Richterstuhls; demütig nimmt er seine Verurteilung an, während Schergen noch immer an ihm zerren und hinter ihm bedrohlich ihre Waffen aufrichten. Voller Ungeduld das Ende der Zeremonie erwartend, wendet sich der als Rückenfigur gezeigte Anführer zu Pilatus um: Er hat bereits einen Rockzipfel des Gefangenen gepackt, um ihn erneut am Strick abzuführen.
Martin Schongauer: Kreuztragung Christi (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Ganzfigurig und kaum überschnitten bilden die drei Hauptpersonen, Jesus, Veronika und der voraneilende Scherge, aufgrund ihrer Helligkeit eine Reliefschicht im Vordergrund. Nur ein zuschlagender Soldat und der barfüßige Knabe mit dem Knüppel aus der Dornenkrönung gehören noch dieser vordersten Bildebene an, jedoch etwas zurückgesetzt. Christus, gebeugt unter der Last des Kreuzes in der Bildmitte schreitend, wendet sich der knienden Veronika zu. „Für einen Moment scheint die Bewegung im Bild in dem Wunder, das sich zwischen den beiden ereignet, zur Ruhe zu kommen“ (Brown/Dautert 1991, S. 103).
Der Legende nach reichte Veronika Jesus auf dem Weg nach Golgatha ein Tuch zum Abtrocknen seines Schweißes, auf dem ein Abbild seines Antlitzes („vera icon“) zurückblieb. Das Tuch zeigt jedoch nicht das dornengekrönte Haupt Christi – Schongauer stellt in seiner Kreuztragung vielmehr das leidende, demütig duldende dem überzeitlichen Angesicht Christi gegenüber. Am linken Bildrand ist die weinende Maria platziert; an ihrer Seite steht Johannes, der Lieblingsjünger Jesu. Ein aufgebrachter Kriegsknecht – wir kennen die Figur aus der Gefangennahme und dem Verhör vor dem Hohepriester – drängt sie ab, während er empört auf ihren Sohn weist. „Marias seelisches Martyrium durch ihr Miterleiden der Passion, ihre »compassio«, wird so in den Zyklus aufgenommen“ (Brown/Dautert 1991, S. 104).
Martin Schongauer: Kreuzigung Christi (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Totenschädel und Kieferknochen an den Bildrändern rechts und links weisen den Ort des Geschehens als den Berg Golgatha aus. Der Schädel neben Johannes ist aber auch ein typologischer Hinweis auf Adam, den Stammvater des Menschengeschlechts, durch dessen Ursünde im Garten Eden Tod und Verdammnis in die Welt kamen. Durch seine Erlösungstat hatte Christus als „neuer Adam“ (Römer 5,12-21) die Sühne für diese Ursünde auf sich genommen und die Menschheit wieder mit Gott versöhnt. Der Schädel scheint uns ebenfalls anzublicken – was wohl bedeutet, dass Christus sein Erlösungswerk auch für den auf diese Weise erneut einbezogenen Betrachter vollbracht hat.
Die helle, weiche Hügellandschaft im Hintergrund erscheint als Gegensatz zu den karstigen Felsen vorne: An einem besonnten See liegt eine ummauerte Stadt; auf dem Wasser ist, mit winzigen Strichen angedeutet, ein Schiff erkennbar.
Martin Schongauer: Grablegung Christi (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
In die Bildmitte gerückt, ringt Maria, sich leicht über den Leichnam beugend, die Hände und blickt ihrem Sohn – da sich beide Köpfe auf gleicher Höhe befinden – direkt ins Antlitz. Ganz als Rückenfigur gestaltet, kniet Johannes andächtig vor Christus, während er den rechten Arm um Maria legt, um sie zu stützen und zu trösten. Das Johannes-Evangelium berichtet, Jesus habe, unmittelbar bevor er starb, vom Kreuz herab Maria und den Lieblingsjünger sich gegenseitig als Mutter und Sohn anempfohlen. Ihre Position vor dem Sarkophag und das großflächige Faltenmotiv ihrer beider Gewänder hebt die zwei von hinten bzw. im Profil gesehenen Figuren vor den anderen Beteiligten nachdrücklich hervor. Neben Johannes liegt auf der Basisplatte des Sarkophags sein Evangelienbuch; neben Maria, an das Grab gelehnt, die Dornenkrone, die nicht nur auf die Passion Christi, sondern auch auf die Gottesmutter bezogen erscheint und so nochmals ihre Rolle als Miterleidende betont.
Joseph von Arimathäa und Nikodemus sind im Begriff, den Leichnam Christi in das Grab zu legen. Joseph umfasst den Oberkörper unterhalb der Seitenwunde, während Nikodemus die Füße des Erlösers hält. Ähnlich wie im Bouts-Gemälde scheint der Körper des Gottessohns gleichzeitig zu schweben und zu ruhen. Sein Leib wird in Anspielung auf seine eucharistische Bedeutung der andächtigen Betrachtung dargeboten – „der bildparallel dargestellte Sarkophag erinnert an eine Altarmensa, auf der der tote Körper wie eine Hostie auf dem Altar präsentiert wird“ (Brown/Dautert 1991, S. 106). Die gramgebeugte Maria Magdalena küsst wie zum Abschied noch einmal behutsam die Hand des Herrn. Sein Oberkörper mit den gestreckten Armen erinnert an die Haltung auf Pietà-Darstellungen – „es sind sozusagen Beweinung, Grabtragung und Grablegung in einer einzigen Bildformel verschmolzen“ (Falk 1991, S. 96).
Die Figuren in der linken Bildhälfte werden von einem stark verschatteten Felsen hinterfangen, auf dem ein knorriger kahler Baum in den Himmel ragt. Rechts im Hintergrund hat Schongauer mit wenigen Strichen eine helle Landschaft angedeutet: Im Tal ist der Kirchturm einer Stadt sichtbar; auf dem Hügel erkennt man das einsame Kreuz mit der Leiter der Kreuzabnahme.Ausschnitt aus Rogier van der Weydens Kreuzabnahme mit Nikodemus und Maria Magdalena |
Ulrike Heinrichs benennt noch ein weiteres mögliches Vorbild: Rogier van der Weydens um 1435/40 entstandene Kreuzabnahme im Prado (siehe meinen Post „Die Schönheit der Trauer“). Die Haltung von Rogiers Maria Magdalena mit ihrem gekrümmten Körper und den vor der Brust erhobenen und gerungenen Händen erscheint ihr an der Gottesmutter in Schongauers Stich abwandelt. „Schongauer muß Rogiers Gemälde in der Kapelle der Schützengilde in der Kirche St. Marien vor der Mauer in Löwen gesehen haben, wo es bis 1458 als Hauptaltarbild aufgestellt war. Dies ist insofern interessant, als auch Bouts’ Werkstatt sich in Löwen befand. So scheint die »Grablegung« Eindrücke von ein und derselben Reise zu kombinieren und zu variieren“ (Heinrichs 2007, S. 333).
Martin Schongauer: Abstieg Christi in die Vorhölle (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Der Erlöser hat den langbärtigen Adam bei der Hand ergriffen, dessen Daumen das Wundmal berührt, und zieht ihn von der Eingangsstufe der Vorhölle zu sich empor. An Adams Arm kniet erwartungsvoll Eva mit dem angebissenen Apfel des Sündenfalls in der Linken – sie ist die einzige weibliche Aktfigur in Schongauers gesamtem Kupferstichwerk. Neben dem Stammelternpaar harren vor der geborstenen Höllentür Johannes der Täufer und ein weiterer älterer Mann ihrer Befreiung. Andere Männer und Frauen drängen hinter dem Türflügel nach, während zwei fratzenhaft-dämonische Mischwesen versuchen, sie im Limbus festzuhalten.
Martin Schongauer: Auferstehung Christi (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Nach dem Matthäus-Evangelium (27,62-66) baten die Hohepriester und Pharisäer Pilatus, das Grab bewachen zu lassen. Sechs bewaffnete Grabwächter sind auf die vier Seiten des Sarkophags verteilt; nur zwei von ihnen sind aus dem Schlaf erwacht und werden Zeugen des Geschehens: Zwischen den Felsen im Hintergrund und der rückwärtigen Schmalseite des Sarkophags geduckt, beobachtet ein Soldat fassungslos das Ereignis. Im Vordergrund blickt Malchus, verängstigt am Boden hockend und vor Schreck erstarrt, zu Christus auf und hebt in einer Abwehrgeste den linken Arm. Im Hintergrund sind die drei Frauen zu sehen, die sich auf den Weg gemacht haben, um den Leichnam Jesu zu salben (Markus 16,1). Sie sind noch deutlich von der abgezäunten Grabstätte entfernt und können, dem biblischen Bericht entsprechend, das Wunder nicht erblicken.
Literaturhinweise
Brown, Angela/Dautert, Ortrun: Die Passion. In: Hartmut Krohm/ Jan Nicolaisen (Hrsg.): Martin Schongauer – Druckgraphik. Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1991, S. 95-111;
Falk, Tilmann: Die Passion Christi. In: Tilman Falk/Thomas Hirthe, Martin Schongauer. Das Kupferstichwerk. Staatliche Graphische Sammlung, München 1991, S. 78-101;
Heinrichs, Ulrike: Martin Schongauer. Maler und Kupferstecher. Kunst und Wissenschaft unter dem Primat des Sehens. Deutscher Kunstverlag, München 2007;
Heinrichs, Ulrike: Martin Schongauer. Maler und Kupferstecher. Kunst und Wissenschaft unter dem Primat des Sehens. Deutscher Kunstverlag, München 2007;
Kemperdick, Stephan: Martin Schongauer. Eine Monographie. Michael Imhof Verlag, Petersburg 2004, S. 54-55;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.(zuletzt bearbeitet am 6. März 2021)
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