Wilhelm Lehmbruck: Große Sinnende (1913/14, Gips); Stuttgart, Staatsgalerie |
Die Große
Sinnende, 1913/14 gestaltet, ist die letzte ganzfigurige Frauendarstellung im
Werk von Wilhelm Lehmbruck (1881–1919). Danach beschäftigte sich der Bildhauer nur
noch mit Fragmenten weiblicher Körper, während Männer- und
Jünglingsdarstellungen ganzfigurig blieben.
Die überlebensgroße, schlanke weibliche
Aktfigur steht aufrecht auf einem flachen Sockel. Über den eng nebeneinander
gestellten Füßen erheben sich die deutlich überlängten Beine: ein linkes Standbein
und ein rechtes, sich nur auf die Zehen stützendes und etwas vorragendes Spielbein.
Der rechte Arm mit der entspannt geöffneten Hand hängt locker neben dem Körper
herab und ist nach hinten gedreht. Ihren linken Arm hat die Figur rechtwinklig
gebeugt: Während die Oberarme bis zum Ellbogen parallel verlaufen, wird der
linke anders als der rechte Unterarm quer über den Rücken geführt; die Hand
umfasst von hinten den anderen Arm, sodass in der Vorderansicht die Finger der
linken Hand in der Armbeuge sichtbar werden.
Auf dem langen Hals mit den breiten
Schultern sitzt der nach rechts geneigte kleine Kopf. Die Augen sind geöffnet,
der Blick scheint träumerisch ins Unbestimmte zu schweifen bzw. nach innen
gerichtet zu sein. „Der Vertikalzug der Figur resultiert nicht allein aus der Länge
ihrer Einzelglieder, der Zehen, Beine, Arme und Finger, er wird auch vom
Kontrapost, der damit einhergehenden leicht angedeuteten Körperdrehung und der
senkrechten Linie des herabhängenden Armes unterstützt“ (Ende 2015, S. 194). Der
gesenkte Kopf und die Horizontale des angewinkelten Armes unterbrechen die
dominierende, ruhig aufsteigende Achse; ebenso beleben der Kontrapost und die
den Rumpf einrahmende Armhaltung die symmetrisch-strenge Konstruktion der
Skulptur.
In der Rückenansicht bilden Arme,
Schulterlinie und Taille beinahe ein Quadrat, dessen Seitenlängen von den Abmessungen
der Sockelbreite vorgegeben werden. Trotz der strengen Komposition offenbart
die Rückenansicht der Statue eine dezente Bewegung: Aus der Fuß- und Beinstellung
ergibt sich die Andeutung einer in die Länge gezogenen S-Linie. „Das etwas nach
vorn zeigende Spielbein schneidet den Umriss des Standbeins unten an, so dass
die Unterschenkel als geschlossene Form erscheinen“ (Ende 2015, S. 195). Der
aufgestellte rechte Fuß, das entsprechend herausstehende Knie, der nach unten
weisende Zeigefinger der rechten Hand, der Klammergriff der linken und der
gebeugte Kopf betonen die rechte Seite der Gestalt. Zwischen den Beinen ergibt
sich ein schmaler länglicher Freiraum, zwischen Hüfte und gestrecktem rechten
Arm und der Hand am Ellbogen ein schmaler Spalt.
Während der Körper der Großen Sinnenden von vorn und hinten
hoch aufgeschossen und überschlank wirkt, erscheint die Figur im Profil keineswegs
hager: Die schweren Formen der Unterschenkel und Knie, das Gesäß, der rundliche
Bauch und das starke Schultergelenk verleihen ihr eine in der Frontalansicht
nicht ersichtliche, kräftige Plastizität. Die Taille ist als Trennlinie gebildet
zwischen dem beinahe kugeligen Becken und dem unvermittelt darauf gesetzten
kegelförmigen Rumpf. Dieser ist mit als Halbkugeln gestalteten Brüsten
versehen. „Aus diesen geometrischen ,Bauteilen‘ konstruiert Lehmbruck einen hohen,
gerüsthaft strengen ,Körperturm‘, der dennoch organisch gewachsen und lebendig
erscheint“ (Ende 2015, S. 195). Lehmbruck verzichtet bei seiner Großen Sinnenden darauf, den nackten
Körper vordergründig „sinnlich“ zu gestalten, wie es für die Mehrzahl der
weiblichen Aktplastiken dieser Zeit charakteristisch ist.
Lehmbruck hat seiner weiblichen Figur
kein individuelles Antlitz verliehen, sondern vielmehr den Typus einer
melancholisch-nachdenklichen, in sich gekehrten Frau geschaffen. Die hohe Stirn,
die weit auseinander stehenden Augen und die Neigung des im Verhältnis zum Körper
viel zu kleinen Kopfes verstärken den Eindruck einer von der Welt entrückten, unzugänglichen,
in sich verschlossenen Figur: Sie nimmt weder Blickkontakt zum Betrachter auf
noch fixiert sie einen bestimmten Punkt. Da Lehmbruck auf alles Anekdotische
verzichtet hat, entzieht sich seine Große
Sinnende einer eindeutigen Interpretation: Wir haben eine säulenhaft aufragende,
unantastbar wirkende, völlig in sich versunkene Gestalt vor uns, „die in einer
eigenen Maß- und Vorstellungswelt beheimatet zu sein scheint“ (Ende 2015, S.
204).
Literaturhinweise
Berger, Ursel: Lehmbrucks Stehende weibliche Figur und verwandte Frauendarstellungen seiner Pariser Werkphase. In: In: Martina Rudloff/Dietrich Schubert, Wilhelm Lehmbruck. Gerhard-Marcks-Stiftung, Bremen 2000, S. 49-69;
(zuletzt bearbeitet am 13. März 2021)
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