Donnerstag, 4. Dezember 2014

Ein letztes Abschiednehmen – Rogier van der Weydens „Beweinung vor dem offenen Grab“

Rogier van der Weyden: Grablegung Christi (1450); Florenz, Uffizien
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Rogier van der Weydens Grablegung Christi ist eines der Gemälde, die wahrscheinlich 1450 während seiner Pilgerreise nach Italien entstanden sind. Es wurde für ein Mitglied der Medici-Familie geschaffen und befindet sich noch heute in Florenz (Uffizien). Offensichtlich ist, dass sich sein Bild auf das Predella-Täfelchen von Fra Angelico aus dem Dominikanerkloster San Marco in Florenz bezieht (heute in der Alten Pinakothek in München). Obwohl es keinen stilistischen Zusammenhang gibt, ist das Gemälde überdeutlich motivisch auf dieses Vorbild ausgerichtet – und das bis in Details wie die rechteckige Graböffnung mit ihrer gemauerten Einfassung oder die Art, in der Johannes sich über die Wunde in der Hand Christi beugt. 

Fra Angelico: Grablegung Christi (1438/40); München, Alte Pinakothek
Das gilt auch für den Pflanzenteppich vor der Grabhöhle oder eine besondere Baumart, deren Äste sich von einem Punkt aus fächerartig ausbreiten. „Dieser fremdländische Baum, der zweimal in Rogiers Uffizienbild vorkommt und mit keiner bekannten Spezies identifiziert werden kann, ist dem botanischen Vokaluar Rogiers und anderer Flamen so fremd, wie er für Fra Angelico typisch ist“ (Panofsky 2001, S. 267). Das Kloster San Marco wurde von Cosimo de’ Medici (1389–1464) patroniert – höchstwahrscheinlich ist die Tafel von ihm in Auftrag gegeben worden.
Rogier übernimmt von Fra Angelico das nördlich der Alpen damals noch unbekannte Motiv der „Beweinung vor dem offenen Grab“. Er behält die kreuzförmige Darbietung des toten Christus bei, ebenso die Rahmung durch seine blau gewandete Mutter und den rot gekleideten Jünger Johannes. Hinzu kommen allerdings zwei weitere Figuren, vor allem aber bereichert Rogier die Landschaft mit vielen Details. Der Leichnam wird vor der Graböffnung zur Schau gestellt und so – „gleich der Hostie in einer Monstranz oder beim Erheben während der Konsekration – zum Gegenstand mitfühlender Anschauung, Anbetung und Meditation“ (De Vos 1999, S. 330).
Rogier van der Weyden: Kreuzabnahme (um 1435–1440); Madrid, Prado
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Der bereits in das Leichentuch gehüllte Körper Jesu wird bei Rogier neben Nikodemus zusätzlich von Joseph von Armithäa gestützt: Er ist die Greisenfigur mit roten Strümpfen, die der Maler immer wieder aus seiner Madrider Kreuzabnahme entnommen hat (siehe meinen Post „Die Schönheit der Trauer“). Nikodemus sieht den Betrachter eindringlich und schmerzvoll an, als fordere er uns dazu auf, den toten Christus gemeinsam mit ihm zu beweinen. Kunsthistoriker vermuten, dass die Figur des Nikodemus als Porträt des Auftraggebers Cosimo de’ Medici gestaltet ist. Michelangelo wird die Figur des Nikodemus in seiner um 1550 begonnnenen, aber unvollendet gebliebenen Pietà-Gruppe (heute im Dom-Museum von Florenz) als Rollenselbstporträt neu interpretieren.
Michelangelo: Pietà Bandini, unvollendet; Florenz, Dom-Museum
Die zweite zusätzliche Gestalt ist die Rückenansicht dargestellte Maria Magdalena. Sie ist als Identifikationsfigur für den Betrachter gemeint; kniend ahmt sie die Armhaltung des Gekreuzigten nach. Wie allen anderen Figuren rollen auch ihr die Tränen über das Gesicht. Auf der schräg gestellten Grabplatte ist Johannes herangetreten; auf ihr ruhen auch die Füße Jesu. Sie liegt mit der vorderen Ecke auf einem Stock, damit man sie leichter hochheben kann. Die grau geäderte Grabplatte spielt kompositorisch „eine wichtige Rolle als Element der Dynamisierung und der tiefenräumlichen Gestaltung des Gemäldes“ (Thürlemann 2006, S. 107); sie war ursprünglich nicht geplant und ist von Rogier erst im letzten Stadium eingefügt worden. Die Grabplatte wird manchmal als Stein der Salbung Christi interpretiert; das Gefäß direkt davor auf der rechten Seite könnte dies nahelegen. Auf der gleichen Höhe liegt links der Hut des Joseph von Arimathäa, „wodurch die Symmetrie des Bildes bis in die Ecken fortgesetzt wird“ (De Vos 1999, S. 330). Links im Hintergrund sind zwei Frauen auf einem Pfad zu sehen, der bis vor das Grab führt – sie werden es, so berichtet das Matthäus-Evangelium, nach der Auferstehung Jesu leer vorfinden (Matthäus 28,1).

Literaturhinweise
De Vos, Dirk: Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk. Hirmer Verlag, München1999, S. 330-334;
Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und ihr Wesen. Band 1. DuMont Buchverlag, Köln 2001 (urspr. 1953), S. 266-268;
Suckale, Robert: Rogier van der Weyden und die Kunst Italiens. In: Städel-Jahrbuch 18 (2002), 37-58:
Thürlemann, Felix: Rogier van der Weyden. Leben und Werk. Verlag C.H. Beck. München 2006.

(zuletzt bearbeitet am 29. Juni 2022)

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