Geertgen tot Sint Jans: Johannes der Täufer in der Einöde (um 1484); Berlin, Gemäldegalerie (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Melancholie, die
aus der Haltung des Täufers spricht, steht in eigentümlichem Kontrast zur
grünenden Landschaft, die ihn umgibt und die er in ihrer Schönheit gar nicht wahrnimmt: Es ist Sommer, alles blüht und sprießt,
am Himmel ziehen Mauersegler ihre Bahn, Kaninchen knabbern an den frischen Blättern,
ein Hase springt übermütig umher, während eine Elster durch das Gras hüpft,
Fasane aus den Büschen auffliegen, Hirsche unter Schatten spendenden Bäumen
äsen und ein Reiher am Ufer eines sumpfigen Teiches nach Nahrung sucht. Das Auf
und Ab des hügeligen Geländes, die Windungen des kleinen Bachlaufs und die
perspektivische Anordnung von Bäumen und Buschwerk führen das Auge Schritt für
Schritt in einen allmählich dichter werdenden Wald, der sich immer weiter in
die Ferne erstreckt, wo schließlich die Stadt Jerusalem erkennbar wird.
Wahrscheinlich hat der niederländischer Maler Geertgen tot Sint Jans hier eine
der ersten perspektivisch durchgestalteten Freilandschaften geschaffen.
Von der Idylle um ihn her nimmt Johannes nichts wahr |
„Das leise
geschäftige Treiben der kleinen Tiere um den Täufer herum macht durch den
Kontrast die Regungslosigkeit des Einsiedlers um so spürbarer“ (Pächt 1994, S.
224). Er bemerkt nichts von dem, was um ihn vorgeht, nicht einmal das Lamm
dicht neben ihm, auch nicht die Anwesenheit des Betrachters. Das weiße Tier,
von dessen Kopf goldene Strahlen ausgehen, ist ein Symbol für Christus;
Johannes selbst sagt über Jesus: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt
Sünde trägt“ (Johannes 1,29; LUT). Johannes ist die Außenwelt „völlig abhanden
gekommen“ (Pächt 1994, S. 226): in sich versunken, meditiert er in innerer Vorausschau über
den Leidensweg Jesu, denn das geopferte Lamm ist Sinnbild für das Passion
Christi, durch die der Sohn Gottes Erlösung für die Menschheit erwirkt. Auch
die übereinander geschobenen, durch ihre Größe hervorgehobenen Füße des Täufers
erinnern an die Kreuzigung Jesu; die Vorderhufe des Lammes an seiner Seite sind
ebenfalls gekreuzt. Vor allem aber verweist der Gestus des sitzenden Täufers
mit der in den Kopf gestützten Hand auf den Bildtypus des spätgotischen
„Christus in der Rast“ bzw. „Christus im Elend“ und betont so die innere Verbindung
zwischen dem letzten Propheten des Alten Testaments und dem Erlöser.
Hans Leinberger: Christus im Elend (um 1525); Berlin, Bode-Musuem |
Wohl sind die
Schwermut, die tiefe Trauer und die Weltabgewandtheit des Johannes durch den inneren
Blick auf den Kreuzestod Christi bedingt; aber der Betrachter nimmt wahr, dass
die „Einöde“, in der er sich aufhält, sich längst in ein sorgloses, friedvolles
Paradies verwandelt hat. Es ist ein durch den Baumbestand abgeschirmter hortus conclusus, eine stille, idyllische
Landschaft ohne gefährliche wilde Tiere, denn das Lamm versöhnt durch sein Opfer Gott und Mensch und steht sinnbildlich für ewiges Leben und paradiesisches
Glück in einer himmlischen Welt.
Albrecht Dürer: Heilige Familie (Zeichnung, 1493/94); Berlin, Kupferstichkabinett (für die Großansicht einfach anklicken) |
Albrecht Dürer war
von dem Geertgens-Gemälde sichtlich
beeindruckt. In einer frühen Zeichnung, einer Heiligen Familie im Berliner
Kupferstichkabinett, hat er Geertgens liebliche Landschaft übernommen. Auch in
seinem 1514 entstandenen Kupferstich Melencolia
scheint er sich an den Täufer des niederländischen Künstlers erinnert zu
haben. „Auch wenn die Haltung des ruhenden Denkers – einen Ellbogen aufs Knie
und das Kinn in die Hand gestützt – beinahe so alt wie die westliche Kunst selbst
ist, so kommen doch keine anderen Beispiele dieses weitverbreiteten Bildtyps
einander näher als Geertgens und Dürers Figuren“ (Panofsky 2001, S. 334). Sie
entsprechen einander nicht nur in Form und Umriss, sondern auch im Ausdruck
einer fast körperlichen Niedergeschlagenheit: Hier wie dort sinkt der Körper in
sich zusammen, die Knie weichen auseinander, die freie Hand liegt kraftlos im
Schoß.
Albrecht Dürer: Melencolia (1514); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Literaturhinweise
Belting, Hans/Kruse, Christian: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der
niederländischen Malerei. Hirmer Verlag, München 1994, S. 266;
Krönig, Wolfgang: Geertgens Bild
Johannes’ des Täufers. In: Das Münster 3 (1950), S. 193-206;
Pächt, Otto: Altniederländische
Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. Prestel Verlag, München
1994, S. 222-226;
Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei.
Ihr Ursprung und ihr Wesen. Band 1. DuMont Buchverlag, Köln 2001 (urspr. 1953),
S. 334-335;Salomon, Nanette: Geertgen tot Sint Jans and the Paradigmatic Personal; or the Moment before the Moment of Self-Portraiture. In: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 59 (2009), S. 44-69;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 31. Januar 2022)
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