Montag, 28. Februar 2022

Magische Stille – Jan Vermeers „Junge Briefleserin am offenen Fenster“


Jan Vermeer: Junge Briefleserin am offenen Fenster (um 1657-59); Dresden,
Gemäldegalerie Alte Meister (für die Großansicht einfach anklicken)
Ein junges Mädchen, in strengem Profil wiedergegeben, steht vor einem geöffneten Fenster und ist in einen Brief vertieft. Wir blicken in den hinteren Teil eines hohen, fast schachtartigen Raumes, der durch einen Vorhang auf der rechten Seite zu etwa einem Drittel verdeckt wird. Die Szene strahlt eine poetische, geradezu magische Ruhe aus. Die stille Lektüre bildet ohne Frage den inhaltlichen Mittelpunkt dieses Gemäldes von Jan Vermeer (1632–1675). Die Gesichtszüge des Mädchens, die sich in der Fensterscheibe spiegeln, ihre leicht geöffneten Lippen und ihre Körperhaltung machen deutlich, wie sehr sie auf die Zeilen in ihren Händen konzentriert ist. Im Vordergrund bilden der Tisch mit dem aufgeworfenen Teppich und der nach rechts geschobene Vorhang eine kompositorische Barriere, die es dem Betrachter erschwert, visuell in diesen umschlossenen Raum einzutreten.
Gedämpftes Sonnenlicht fällt von links durch das weit geöffnete Fenster auf Gesicht und Oberkörper des Mädchens sowie den Brief, den sie in beiden Händen hält. Dieses Licht erzeugt auf den Faltenhügeln des Teppichs wie auf der Oberfläche der Früchte in der chinesischen Porzellanschale ein intensives Farbenspiel. Vermeer erzielt es, indem er einzelne leuchtende, helle Farbflecken in pointillistischer Manier aneinandersetzt. Ähnlich pastos gemalte Lichtpunkte finden sich auch auf dem mit schwarzen Streifen abgesetzten Satinärmel und im Haar des Mädchens, im leicht geknitterten Papier des Briefes sowie auf den Kreuzungspunkten der Fensterstege. 
Kräftiges Licht, das offensichtlich einer außerhalb des Bildraumes befindlichen Quelle entspringt, fällt zudem auf den illusionistisch gemalten Vorhang und lässt ihn in einem hellen Gelb-Grün aufleuchten. Seine leicht gebauschten, voluminösen Faltenbahnen, die unten mit einer Fransenborte abschließen, entfalten dabei eine haptische Wirkung. Der Effekt einer Augentäuschung stellt sich sofort ein: Der Vorhang gehört einer außerbildlichen, dem Betrachterraum zuzurechnenden Ebene an. Für einen Moment nur scheint er nach rechts gezogen worden zu sein, um uns den Blick auf die intime Szene zu ermöglichen. Der spanische Stuhl mit seinen geschnitzten Löwenköpfen wird ebenfalls vom Licht gestreift und wirft einen Schatten auf die Wand. „Diese subtile Lichtbehandlung verleiht der dargestellten Figur ebenso wie den Objekten eine beinahe tastbare Körperlichkeit“ (Neidhart 2010, S. 68). Sie ist ein Beleg für Vermeers außergewöhnliche Fähigkeit, Licht in Malerei umzusetzen.
Der quer zur Bildfläche liegende Teppich, der den Zutritt zum dargestellten Innenraum mehr oder weniger verstellt, gehört zu den konstanten Merkmalen von Vermeers Gemälden. Das Bild wird so zu einem Ort der Zurückgezogenheit, an dem die menschliche Figur präsent, ja nah ist, jedoch geschützt vor jeder unmittelbaren Begegnung, jeder direkten Kommunikation. Von Vermeers 26 erhalten gebliebenen Interieurs lassen nur drei den Raum frei, der den Betrachter von dem Modell trennt, das der Maler abbildet.
Vermeer hat das Mädchen, dessen Kopf sich exakt in der Bildmitte befindet, direkt vor dem zweiteiligen Fenster positioniert, über das effektvoll ein roter Vorhang geschlagen ist. Das geöffnete Fenster erlaubt keinen Blick ins Freie, es signalisiert lediglich das Außen, woher der Brief kommt“ (Hammer-Tugendhat 2009, S. 280/281). Der Vorhang rechts gehört nicht zu dem vergleichsweise engen Zimmer der Briefleserin, sondern eindeutig zu einer anderen, dem Betrachter wesentlich näheren Bildebene. Er ist mittels zwölf kleiner Ringe an einer Messingstange aufgehängt. Scheinbar soeben zur Seite gezogen, gibt dieser Vorhang – das einzige Trompe-l’œil in Vermeers erhaltenem Werk – nun dem Betrachter den Blick auf eine Szene frei, die ihm sonst verborgen ist. Die in sich abgeschlossene Szene mit der bewegungslos verharrenden, in sich gekehrten jungen Frau wirkt wie ein erlesenes Stillleben, dessen Kostbarkeit durch diesen Trompe-l’œil-Vorhang noch gesteigert wird.
Die Spiegelung der jungen Frau in der Fensterscheibe ermöglicht dem Betrachter einen indirekten Blick auf ihr ansonsten nur im Profil sichtbares Antlitz. Doch weder Haltung und Kopfneigung des Mädchens noch Haartracht und Halsausschnitt stimmen mit dem Spiegelbild genau überein. Strahlendiagnostische Untersuchungen haben gezeigt, dass Vermeer die Figur der Briefleserin in einer ersten Fassung ein wenig kleiner und weiter in Rückenansicht gedreht angelegt hatte. Als er die Position des Mädchens nachträglich veränderte, hat er offensichtlich darauf verzichtet, das Spieglbild im Fensterglas ebenfalls zu korrigieren. 
Jan Vermeer: Stehende Virginalspielerin (um 1670-72); London, National Gallery
(für die Großansicht einfach anklicken)
Seit 1979 weiß man, dass an der Wand hinter der Briefleserin ursprünglich auch ein großformatiges Gemälde hing, das einen stehenden Cupido zeigt. Damals wurde vermutet, Vermeer habe den Liebesgott in einem späteren Arbeitsschritt selbst wieder übermalt, weil er ihn als störend empfand. Doch heute steht fest, dass der Cupido erst nach 1700 aus der Komposition getilgt wurde: Bei den 2017 begonnenen gründlichen Restaurierungsmaßnahmen zeigte sich, dass unter der später aufgebrachten Deckschicht, die den durchs offene Fenster einfallenden Lichtschein auf der kahlen Wand simuliert, der originale Firnis Vermeers erhalten ist. Den trug der Meister nur auf fertige Gemälde auf. Unter der Firnis aber reckt sich der Cupido empor ... Damit werden die obere und die untere Bildhälfte jeweils von einer der beiden Figuren dominiert, denn die nackte, dralle Gestalt des Liebesgottes erreicht beinahe die Größe der hinter dem Tisch sichtbaren Dreiviertelfigur des Mädchens.
Das restaurierte Gemälde mit wiederentdecktem Bild im Bild
Ein solches Bild im Bild findet sich insgesamt dreimal in den stillen Interieurs des Künstlers, so z. B. in der Stehenden Virginalspielerin aus der Londoner National Gallery. Das Bild im Bild ist ein seit den 1630er Jahren in der holländischen Genremalerei verbreitetes „sprechendes“ Motiv, um in verhüllter Form die eigentliche Aussage des Gemäldes zu transportieren. Ohne Zweifel bezog sich dieser ursprüngliche Cupido auf den Brief in den Händen der jungen Frau, der dadurch als Liebesbotschaft erkennbar wurde.
Jan Vermeer: Christus bei Maria und Martha (1654/55); Edinburgh, National Gallery of Scotland
Vermeer hat in den ersten Jahren seines Schaffens eine Reihe mehrfiguriger Szenen gemalt, so z. B. Bei der Kupplerin oder Christus bei Maria und Martha. Dann aber wendete er sich der Darstellung einer einzelnen Mädchenfigur in ihrer häuslichen Umgebung zu. In diesen Bildern wird auf jegliche Interaktion verzichtet; die Szenen sind „geprägt von völliger Vereinzelung, Verinnerlichung und Stille“ (Neidhardt 2010, S. 71). Die Briefleserin in Dresden gehört zu Vermeers frühen Interieurbildern aus den Jahren 1657 bis 1659, in denen er sich darauf konzentriert, einen konkreten Innenraum wiederzugeben. So taucht das charakteristische Fenster mit der Bleiverglasung und dem gekehlten oberen Gewände sowohl in dem Gemälde Soldat und lachendes Mädchen als auch im Milchmädchen auf.
Jan Vermeer: Das Milchmädchen (um 1657-58); Amsterdam, Rijksmuseum
(für die Großansicht einfach anklicken)
Vermeer zeigt eine junge Frau beim Lesen eines Briefes – eine Beschäftigung von großer Privatheit. Die eigentliche Handlung im Bild ist allerdings für den Betrachter nicht sichtbar, sie vollzieht sich im Inneren der Briefleserin. Wir werden Augenzeuge eines intimen, konzentrierten Geschehens, zu dem uns der Zugang verwehrt ist. Und Vermeer gibt uns auch keine Möglichkeit, den Inhalt der Zeilen durch Gestik oder Mimik des Mädchens zu erahnen – wir wissen nicht, ob der Brief gute oder schlechte Nachrichten enthält. Dass es dennoch um Liebe geht, verrät, wie ich meine, die Aufmerksamkeit, mit der sich das Mädchen diesem Brief zuwendet. Dabei entspricht die junge Frau in ihrem zweiteiligen schwarz-gelben Kleid und mit ihrer raffinierten Frisur, ihrer offensichtlichen  Bildung und feinen Zurückhaltung äußerlich ganz dem Frauenideal, „das in den besseren Kreisen der holländischen Gesellschaft seit Mitte des 17. Jahrhunderts als Maßstab galt“ (Neidhardt 2021, S. 180). In exakt dem gleichen Kleid und zur selben Zeit malte Vermeer eine weitere junge Frau, die er in eine vergleichbare Zimmerecke, aber in einen ganz anderen inhaltlichen Zusammenhang setzte: Das kopftuchtragende Mädchen mit dem Weinglas in dem Bild Soldat und lachendes Mädchen ist in seiner offenen Körpersprache direkt auf sein männliches Gegenüber bezogen – eine Situation, die derjenigen der brieflesenden Frau im Dresdner Gemälde unverkennbar entgegengesetzt ist.
Jan Vermeer: Soldat und lachendes Mädchen (um 1657/60); New York, The Frick Collection
Das Thema des Brieflesens, -schreibens und -empfangens hat Vermeer in sechs seiner insgesamt 37 erhaltenen Gemälde aufgegriffen. „Er folgte damit einer seit Mitte der 1650er Jahre in der holländischen Genremalerei verbreiteten Mode, die wiederum auf eine neue Kultur des Briefschreibens in weiten Kreisen des europäischen Bürgertums reagierte“ (Neidhardt 2010, S. 71). Dem Dresdner Bild steht dabei die etwa sechs Jahre später gemalte Briefleserin in Blau aus Amsterdam besonders nahe. Vermeer zeigt jeweils eine junge Frau in einem Moment des völligen Versunkenseins in den Inhalt eines Briefes, den sie vor sich hält. Ihr Gesichtsausdruck, die niedergeschlagenen Augen und die leicht geöffneten Lippen, die ein leises Buchstabieren ahnen lasssen, sind sich sehr ähnlich. In beiden Werken sorgte Vermeer durch einen Wandschmuck für einen abgedunkelten Hintergrund, vor dem sich die weichen Profillinien ihrer Köpfe absetzen. Während jedoch die Lesende im Dresdner Frühwerk hinter einer zweifachen Barriere optisch abgeschirmt ist, meint man, in den Privatbereich der Briefleserin in Blau unmittelbar eintreten zu können.

Jan Vermeer: Briefleserin in Blau (um 1662/1663); Amsterdam, Rijksmuseum
Literaturhinweise
Alpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. DuMont Buchverlag, Köln 1985, S. 321-343;
Arasse, Daniel: Vermeers Ambition. Verlag der Kunst, Basel/Dresden/Berlin 1996, S. 126-133;
Büttner, Nils: Vermeer. Verlag C.H. Beck, München 2010, S. 43-51;
Hammer-Tugendhat, Daniela: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2009;
Neidhardt, Uta: „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“. Ein begabter junger Maler orientiert sich. In: Uta Neidhardt (Hrsg.), Der frühe Vermeer. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2010, S. 66-81;
Neidhardt, Uta: Zusammenspiel von Kunst und Leben.Vermeers Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster in neuer Gestalt. In Stephan Koja u.a. (Hrsg.), Johannes Vermeer. Vom Innehalten. Sandstein Verlag. Dresden 2021, S. 165- 200;
Vergara, Lisa: Women, Letters, Artistic Beauty: Vermeers Theme and Variations. In: Peter C. Sutton u.a. (Hrsg.), Love Letters. Dutch Genre Paintings in the Age of Vermeer. Bruce Museum/National Gallery of Ireland 2003, S. 50-62.

(zuletzt bearbeitet am 28. Februar 2022)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen