Die Hildesheimer Michaelskirche: Blick von Südosten (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Hildesheimer Michaelskirche habe ich zuletzt
vor etwa 30 Jahren besucht – ein großer Fehler, das hätte ich längst
wiederholen müssen. Damals, 1986, bereitete ich mich auf eine mündliche Prüfung
zum Thema „Ottonische und salische Architektur“ vor (die beiden anderen Themen
lauteten „Romantische Landschaftsmalerei“ und „Expressionistische Skulptur“).
In der Prüfung selbst hielt ich mich ganz wacker – bis mein Professor mir ein
historisches Foto vom Inneren des Mainzer Doms zeigte. Ich erkannte ihn nicht. Mein Professor
war wenig angetan, und meine Unkenntnis konnte mir zu recht peinlich sein, da
ich all die Jahre in Mainz studiert hatte ...
Blick ins Mittelschiff auf den Ostchor (für die Großansicht einfach anklicken) |
Die Michaelskirche gehört zusammen mit dem Hildesheimer
Dom seit 1985 zum UNESCO-Weltkulturerbe – aus gutem Grund, denn St. Michael ist
einer der bedeutendsten erhaltenen Sakralbauten aus ottonischer, also
vorromanischer Zeit. 1010 wurde im Auftrag Bischof Bernwards mit dem Bau der
Kirche begonnen. Er ließ auf einem Hügel außerhalb der damaligen Stadtmauer ein
Benediktinerkloster errichten. Die Krypta und spätere Bestattungsstätte
Bernwards wurde im Jahr 1015 von ihm geweiht, kurz vor seinem Tod (1022) auch
die noch im Bau befindliche Kirche. Sein Nachfolger, Bischof Godehard, setzte
den Bau fort, der schließlich 1033 die Schlussweihe erhielt. Als am 22. März
1945 große Teile Hildesheims durch Bomben zerstört wurden, fiel auch St.
Michael in Schutt und Asche. Die berühmte Holzdecke (um 1200 entstanden) und
andere bedeutende Kunstschätze waren zuvor ausgelagert worden und blieben
unversehrt. Ab 1947 wurde die Kirche nach den ursprünglichen Plänen originalgetreu
wiederaufgebaut, 1960 endgültig fertiggestellt und wiedergeweiht.
Längsschnitt und Grundriss der Michaelskirche |
Bei St. Michael handelt es sich um eine
doppelchörige, flachgedeckte, dreischiffige Basilika mit zwei Querhäusern. Der
Grundriss des Baus ist streng aus geometrischen Figuren entwickelt, wobei das
Vierungsquadrat in West- und Ostquerhaus den Maßstab der gesamten Anlage
bildet. „Dort, wo Langhaus und Querhaus ineinandergreifen, steigen an allen
vier Seiten gleich hohe Bogenstellungen auf und heben so die Vierung als klar
umgrenzte Raumform heraus“ (Klotz 1998, S. 92). Man spricht in diesem Fall von
einer „ausgeschiedenen Vierung“. Das Vierungsquadrat von St. Michael ist im
Langhaus genau dreimal enthalten. „Um die Quadratfolge anschaulich werden zu
lassen, hat der Architekt nach je zwei Säulen als dritte Stütze einen Pfeiler
folgen lassen; vier Pfeilerpfosten markieren im Grundriß jeweils ein Quadrat“
(Klotz 1998, S. 93). Damit war der doppelte bzw. „niedersächsische“
Stützenwechsel geboren.
Blick auf den Westchor |
Über den ausgeschiedenen Vierungen im Osten und
Westen sitzen jeweils Türme, die den Außenbau dominieren. Die ungewöhnlich
breiten Seitenschiffe öffnen sich zu den Querarmen durch Doppelarkaden. An den
Stirnwänden der Querhäuser befinden sich zweigeschossige, mittig angelegte
Emporenbauten, wobei die Arkaden hier von zwei auf vier und dann sechs
zunehmen. Sie sind erreichbar durch außen angesetzte, achteckige, oben runde
Treppentürme. Der erhöhte Chor im Westen besteht im Grundriss ebenfalls aus
einem Quadrat mit Apsis und einem Umgang; darunter befindet sich eine auf dem
Bodenniveau der Kirche errichtete Hallenkrypta, deren Kreuzgratgewölbe auf acht
frei stehenden, stämmigen Säulen ruht. Die von einem Tonnengewölbe überfangene Krypta ist ebenfalls mit einem
Umgang versehen. Die Wände dieses
Umgangs wiederum sind mit Nischen ausgestattet. Der Ostchor verfügt nur über
ein kurzes Chorjoch mit Apsis und wird flankiert von doppelgeschossigen Apsiden
an den Querschiffarmen. Sie sind von den Querhausemporen aus zugänglich. Im
Westchor ist ein Michaels-, im Ostchor ein Johannes-Altar aufgestellt. „Die
Altardisposition entspricht also einem spiegelbildlich gedoppelten Kreuz; um
diese konzipierte Altaraufstellung herum ist der Bau errichtet“ (Jacobson 2004,
S. 11).
An der Stirnwänden der Querhäuser befinden sich zweigeschossige Emporenbauten |
Neben dem niedersächsischen Stützenwechsel ist
eine weitere Besonderheit von St. Michael das erstmals voll ausgebildete
Würfelkapitell: „Aus dem antiken Kapitell ist eine vollkommen stereometrische
Form geworden, die zwischen dem Zylinderschaft der Säule und der viereckigen
Kämpferplatte vermittelt, also Kreis und Quadrat als Grundfiguren in sich
zusammenführt“ (Klotz 1999, S. 94). Ein das gesamte Langhaus durchlaufendes
einfaches Gesims trennt die Arkadenzone von der restlichen Mittelschiffwand ab.
Darüber bildet die bemalte Holzdecke den Abschluss des Raumes. „Strukturierung
erfährt die Wand ansonsten ausschließlich durch den Obergaden mit je zehn Rundbogenfenstern;
es darf aber vermutet werden, dass ursprünglich Malereien zusätzlich diese heute
sehr kahl wirkende Wandfläche belebten“ (Brachmann 2014, S. 95).
Die beiden noch originalen „bernwardinischen“ Säulen mit ihren Würfelkapitellen |
Die Eingänge zur Kirche befinden sich an den
Seiten des Langhauses – damit rückt St. Michael vom Prinzip der römischen Basilika
ab, deren Grundriss sich vom Zugang im Westen zum Altar im Osten erstreckt. Der
Tiefenzug des richtungsbetonten Wegbaus wird aber vor allem durch die Verdopplung
des Chors und der Querhäuser aufgehoben – St. Michael hat daher eher zentralen
Charakter. Man spricht auch vom Typus des „ruhenden Langbaus“. Diese
Zentralisierung wurde von der karolingischen Baukunst übernommen – sie kommt
aber weniger dadurch zustande, dass eine Mitte gebildet und betont wird, sondern
vielmehr durch die gleichmäßige Anordnung der Endglieder. Die ausgewogen verteilten
Baumassen der beiden Querhäuser mit ihren Treppen- und Vierungstürmen betonen
vor allem in der Außenansicht die streng symmetrische Gesamtanlage von St.
Michael.
Aus der Gründungszeit der Michaelskirche haben
sich – neben der heute im Hildesheimer Dom stehenden Bronzesäule – Reste der
Kryptaausmalung sowie zwei Mittelschiffsäulen mit ihren Würfelkapitellen und
den eingezogenen Kämpfersteinen erhalten. (Zehn der zwölf bernwardinischen
Säulen wurden im 12. Jahrhundert ersetzt.) Die auf den Kämpfern eingemeißelten
Heiligennamen verweisen auf Reliquien, die Bernward in den Kapitellen versenken
ließ.
Glossar
Apsis oder Apside: ein im
Grundriss halbkreisförmiger oder polygonaler Raumteil, der an einen Hauptraum
anschließt und meist von einer Halbkuppel überwölbt wird; Apsiden unterscheiden
sich von Wandnischen durch ihre Größe und Begehbarkeit.
Arkade: ein von Pfeilern oder Säulen getragener Bogen.
Empore: erhöhte Galerie oder Tribüne, die mit einer Langseite zu einem größeren Innenraum hin geöffnet ist.
Empore: erhöhte Galerie oder Tribüne, die mit einer Langseite zu einem größeren Innenraum hin geöffnet ist.
Kämpfer: lasttragender Stein;
er liegt auf einem Pfeiler oder dem Kapitell einer Säule oder kragt aus der
Wand.
Obergaden:
Fensterzone im oberen Teil des Mittelschiffes einer Basilka.
Zentralbau:
Gebäude, das auf einen Mittelpunkt ausgerichtet ist und sich daher über einen
regelmäßigen Grundriss in Form von Kreis, Qauadrat, Viereck und griechischem
Kreuz (mit gleichlangen Schenkeln) erhebt; Zentralbauten sind meist
überkuppelt.
Literaturhinweise
Brachmann, Christoph: WGB Architekturgeschichte.
Das Mittelalter (800–1500). Klöster – Kathedralen – Burgen. Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, Darmstadt 2014, S. 92-96;
Brandt, Michael: St. Michael – Der Gründungsbau und seine Bilder. In: Gerhard Lutz/Angela Weyer (Hrsg.), 1000 Jahre St. Michael in Hildesheim. Kirche – Kloster – Stifter. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2012, S. 88-106;
Brandt, Michael: St. Michael – Der Gründungsbau und seine Bilder. In: Gerhard Lutz/Angela Weyer (Hrsg.), 1000 Jahre St. Michael in Hildesheim. Kirche – Kloster – Stifter. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2012, S. 88-106;
Jacobson, Werner: Ottonische Großbauten zwischen
Tradition und Neuerung. Überlegungen zum Kirchenbau des 10. Jahrhunderts im
Reichsgebiet (919–1024). In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für
Kunstwissenschaft 58 (2004), S. 9-41;
Klotz, Heinrich: Geschichte der deutschen Kunst.
Erster Band: Mittelalter 600 – 1400. Verlag C.H. Beck, München 1998, S. 92-95.
(zuletzt bearbeitet am 8. Juli 2020)
(zuletzt bearbeitet am 8. Juli 2020)
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