Donnerstag, 30. Juni 2016

Der abgeschiedene Geist – Georg Friedrich Kerstings „Lesender im Lampenlicht“


Georg Friedrich Kersting: Lesender bei Lampenlicht (1814); Winterthur, Museum Oskar Reinhart
Die Innenraumbilder von Georg Friedrich Kersting (1785–1847) gehören für mich zum Schönsten, was die deutsche Kunst im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Bei diesen „Zimmerporträts“ gehen Interieur und Person eine enge Verbindung ein. Die einzigartige Atmosphäre von meditativer Stille und Abgeschiedenheit, die sie auszeichnet, ist immer wieder bewundert worden. Wir kennen kaum mehr als ein Dutzend dieser Werke von Kersting – sie sind allesamt Kostbarkeiten. Eines von ihnen, Lesender bei Lampenlicht (1814 entstanden), sei hier näher vorgestellt.
Ins Profil gerückt, sitzt ein Mann in blauem Rock konzentriert lesend an einem Schreibtisch. Mit der linken Hand hält er das Buch auf der Schreibtischkante fest, während er den Kopf mit der strohblonden Windstoßfrisur auf seine Rechte stützt. Das hohe, aber schmale Zimmer, in das wir blicken, ist schlicht eingerichtet und akkurat aufgeräumt. Die strenge Ordnung im Bild beruht auf einem Gerüst von Senkrechten und Waagrechten. Rechts sind zwei Bücherregale im Wandwinkel aneinandergestellt; an einem ist eine Art Stehpult befestigt. Davor steht ein weiteres Regal mit Schatullen und Schachteln, wohl aus Platzmangel mit Rädern versehen. Die leere grüne Rückwand des Zimmers ist nach den Vorgaben des Goldenen Schnitts gegliedert: Die hintere Kante des bildparallelen Regals teilt die Breite, die hintere Kante des Schreibtisches die Höhe des Bildes entsprechend seinen Verhältnissen. Eine Gardinenschnur mit ringförmigem Griff am unteren Ende durchschneidet die Zimmerwand „wie ein Messer genau in der geometrischen Mitte“ (Schnell 1994, S. 76). Ihre Länge entspricht ebenso exakt der halben Bildhöhe.
Das Wandstück wird erhellt von einer dreiarmigen Kerzenlampe und belebt durch die langen Schatten ihres Lampenschirms. „Die Schatten vom obern und untern Rand des Lampenschirms sind leicht erkennbar. (...) Es fiele aber schwer, sich über alle Rechenschaft abzulegen. Die schrägen Schattenstreifen, die beiden dünnen, die von dem Schirm aufsteigen, und der breitere, der über dem Kopf des lesenden Manns nach oben führt, wirken völlig irrational und umso erregender, als sie den eigentümlichsten Gegensatz zu dem Waag- und Senkrecht bilden, das sonst vorherrscht“ (Staiger 1983, S. 25/26). Allerdings geht ihnen jedes dämonische Moment ab: „Sie wirken nicht als Gefahr für den Leser, der sie im Gegensatz zum Betrachter gar nicht wahrzunehmen scheint“ (Schnell 1994, S. 76). Nicht einmal der Schimmer eines Schattens fällt über sein hell ausgeleuchtetes Gesicht, obwohl man ihn erwarten dürfte, da die Kerzen tiefer im Raum platziert sind als der Kopf des Mannes.
Die Bouillotte-Lampe wird von Kersting als bestimmender Bildgegenstand inszeniert: Die leuchtend weiße Innenseite des dunkelgrünen Schirms ist der hellste Fleck des Gemäldes. Gleich links neben der Lampe und in derem Licht steht ein aufgeklapptes Etui mit einer weiblichen Bildnisminiatur: Ist es die Geliebte, Braut oder Frau des Lesenden, die er bei jedem Aufblicken ansieht? Vor ihm auf dem Tisch befinden sich Briefe, Töpfe und eine Schreibfeder. Die Schatulle links auf dem Beistelltisch ist geöffnet – was sie enthielt, liegt wohl daneben, ist aber in Stoff eingeschlagen und somit für den Betrachter verborgen.
Nichts dringt in diesen Raum ein, der – wie der einsame Leser selbst – völlig in sich ruht. Dessen geistige Sammlung trifft sich mit der nächtlichen Stille, die offensichtlich von keinem Geräusch im Haus oder einem Lärm auf der Straße gestört wird. Zeichen der Abgeschlossenheit ist auch die Land- bzw. Weltkarte, die aufgerollt in der Zimmerecke steht. Darüber hinaus hat der Lesende das Fenster mit einem Rollo fest verschlossen.
Der Lesende ist der hellen Seite des Zimmers zugewandt. „Hier entwickelt sich durch die beleuchtete Schatulle, das Frauenbildnis, den Lampenfuß, die Papiere und Briefschaften bis hin zu dem tiefen Grün des Teppichs und dem leuchtenden Grün der Wand eine intensive Farbigkeit“ (Gärtner 1988, S. 76). Hinter dem Mann jedoch verdunkelt sich die rechte Bildhälfte zunehmend. Das Regal mit den Schatullen ist noch zu erkennen, aber am Boden und in der Ecke breiten sich tiefe Schatten aus; die Bücher in den Wandregalen führen regelrecht ein „Schattendasein“. „Das gespeicherte Wissen liegt verschlossen im Dunkeln, wartet, bis es nach und nach ans Licht darf im Schein der Kerze, wo es selbst zu leuchten beginnt durch seine Vernunft“ (Wegmann 1993, S. 80). Kerstings Innenraum zeigt nicht nur eine Idylle in Grün, es ist ebenso Spiegelbild des bürgerlich-aufgeklärten Geistes. 
Werner Schnell sieht in den Schachteln und Kästen der Regale vor allem Akten und sonstige Geschäftspapiere aufbewahrt und geht deswegen davon aus, dass Kersting wohl kaum einen Gelehrten oder Literaten darstellen wollte, sondern eher einen höheren Verwaltungsbeamten, einen Juristen, einen Bankier oder Kaufmann: „So ließe sich in dem Band auf der aufgeklappten Buchstütze dann ein Rechnungsbuch vermuten“ (Schnell 1994, S. 77). Entsprechend würde dann die strenge geometrische Bildordnung den Betrachter an die Geradheit, die Rechtschaffenheit und das Pflichtbewusstsein des Lesenden erinnern, „dessen notwendige Tatkraft, sofern er als Vertreter der genannten Berufsgruppen anzusprechen ist, durch den Melancholiegestus gebrochen wird“ (Schnell 1994, S. 78).
Jan van Eyck: Hieronymus im Gehäus (1442); Detroit,
The Detroit Institute of Arts
Jan Vermeer: Junge Briefleserin am offenen Fenster (um 1657-59);
Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister
Die Interieur-Darstellungen von Kersting erinnern zum einen motivisch an die Bildtradition des Kirchenvaters Hieronymus im Studierzimmer, zum anderen lassen sie wegen ihrer Seltenheit und besonderen Ausstrahlung an die ebenfalls oft kleinformatigen Bilder Jan Vermeers denken.

Literaturhinweise
Gärtner, Hannelore: Georg Friedrich Kersting. E.A. Seemann Verlag, Leipzig 1988, S. 74-76;
Schnell, Werner: Georg Friedrich Kersting (1785–1847). Das zeichnerische und malerische Werk mit  Œuvrekatalag. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 1994, S. 76-78;
Roters, Eberhard: Malerei des 19. Jahrhunderts. Themen und Motive. Band I. DuMont Buchverlag, Köln 1998, S. 347-351; 
Staiger, Emil: Vor drei Bildern. G.F. Kersting, C.D. Friedrich, J.L. Agasse. Artemis Verlag, Zürich 1983, S. 9-33;
Wegmann, Peter: Museum Stiftung Oskar Reinhart Winterthur. Deutsche, österreichische und schweizerische Malerei aus dem 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1993, S. 80.

(zuletzt bearbeitet am 19. Juli 2022)

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