Dienstag, 7. Juni 2016

Dramatischer Stoff – Raffael entwirft Wandteppiche für die Sixtinische Kapelle


Raffael: Der wunderbare Fischzug (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Der wunderbare Fischzug (1517-1519); Rom, Vatikanische Museen
Als Kardinal Giovanni de’Medici am 11. März 1513 als Nachfolger von Julius II. zum Papst gewählt wurde und den Namen Leo X. annahm, verfügte die Sixtinische Kapelle bereits über einen reichen Bildschmuck. 1477 hatte Sixtus IV. die päpstliche Palastkapelle grundlegend erneuern lassen; 1481 war der Neubau vollendet und erhielt von ihm seinen Namen. Mit einer Höhe von 19 Metern und einem Grundriss von 40 x 23 Metern war der Raum von Anfang an für eine großzügige Ausstattung konzipiert. Zunächst wurde die Fensterzone mit Darstellungen der frühen Päpste ausgemalt. Es folgte darunter der ehemals umlaufende, später von Michelanglos Jüngstem Gericht unterbrochene Freskenzyklus mit Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament (1480/81 entstanden). Den vorerst krönenden Abschluss erhielt die Sixtina mit der Deckenbemalung, die Michelangelo im Auftrag von Julius II. in den Jahren 1508 bis 1512 ausführte.
1515 schließlich verpflichtete Leo X. seinen Hofkünstler Raffael (1483–1520), großformatige Entwurfszeichnungen für die Wandteppiche der Sixtinischen Kapelle anzufertigen. Diese Tapisserien sollten unter den umlaufenden Wandfresken aufgehängt werden. Wann genau Raffael mit der Arbeit an den Teppichkartons für die Sixtina begann, lässt sich nicht genau bestimmen. Am 15. Juni 1515 erhielt er eine Vorauszahlung von 300 Dukaten, die letzte nachweisbare Zahlung von 134 Dukaten erfolgte im Dezember 1516. Leo X. ordnete an, dass die Wollteppiche, die nur zu besonderen Anlässen angebracht werden durften, von Seiden-, Silber- und Goldfäden durchwirkt sein sollten. Für die Ausführung der Webarbeiten kamen nur flämische Werkstätten in Frage, da man in Italien in jener Zeit diese komplizierte Technik nicht beherrschte.
Die Gobelins forderten Raffaels ganzen Künstlerstolz heraus, da sie dem direkten Vergleich mit der überwältigenden Wirkung von Michelangelos Decke und dem prächtigen Freskenzyklus aus dem 15. Jahrhundert in den oberen Wandbereichen ausgesetzt waren. Er bereitete die in Gouachemalerei angefertigten Vorlagen in zahllosen Zeichnungen vor. Diese Vorlagen wiederum bestanden aus je ca. 200 dicken, aneinander geklebten Papierblättern, die ihrer Aufgabe gemäß seitenverkehrt angelegt, wurden. Sie mussten die Originalgröße der späteren Teppiche haben und den spezialisierten Webern im fernen Brüssel alle Details sowie die genaue Farbverteilung vermitteln. Die Farbauswahl in den fertigen Teppichen weicht jedoch deutlich von der in den Kartons ab. Einige Unterschiede sind auf das Verblassen oder die Zersetzung der Färbemittel und Pigmente zurückzuführen. Vor allem aber waren Raffaels nuancierte Farben mit ihren feinen Variationen auf Tapisserien nicht reproduzierbar, für die üblicherweise gesättigtere Primärfarben verwendet wurden. Die flämischen Handwerker an ihren Webstühlen „waren es nicht gewöhnt, so präzise und schwer umzusetzende Farbanweisungen wie die Raffaels zu erhalten. Da sie gewöhnlich sich selbst überlassen wurden, folgten die Weber trotz nachdrücklicher Forderungen des Künstlers ihrer üblichen Praxis. Dennoch gelang es ihnen bemerkenswert gut, seine schwierigen Kompositionen umzusetzen“ (Talvacchia 2007, S. 154).
Im Dezember 1519 waren dann erstmals sieben der Teppiche in der Sixtinischen Kapelle öffentlich ausgestellt; drei weitere wurden nachgeliefert. Da die Sixtina an den Schmal- und Längsseiten zusammen sechzehn Wandfelder aufweist, ist wohl ursprünglich für den gesamten Kapellenraum ein sechzehnteiliger Tapisseriebehang vorgesehen gewesen. Das Projekt dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit angesichts der exorbitanten Schulden, die Leo X. in den neun Jahren seines Pontifikats angehäuft hatte, und aufgrund seines Todes am 21. Dezember 1521 nach zehn Teppichen abgebrochen worden sein. Mit den ausgeführten Stücken ließ sich immerhin das Presbyterium der Sixtina innerhalb der Chorschranke ausstatten. 
Allerdings erwies sich die päpstliche Finanzlage als so desaströs, dass sieben der Tapisserien (neben anderen Pretiosen) zunächst verpfändet werden mussten, um die Beerdigung und das neue Konklave finanzieren zu können. Zwar löste der neu gewählte Papst Hadrian VI. die Stücke sofort wieder aus, aber während der Plünderung Roms 1527 („Sacco di Roma“) durch die kaiserlichen Truppen wurden wiederum drei Teppiche gestohlen, die erst zwischen 1544 und 1554 in den Vatikan zurückgelangten. Der Napoleonische Beutezug durch Italien entführte die Tapisserien erneut, der Vatikan konnte sie erst zehn Jahre später zurückkaufen. Heute befinden sie sich in der Vatikanischen Pinakothek. 
Von den Originalkartons für die Teppiche sind noch sieben erhalten – sie wurden offenbar unverzüglich als abgeschlossene autonome Arbeiten angesehen und dienten darüber hinaus als Grundlage für weitere Ausführungen der Gobelinfolge. 1623 wurden Raffaels Vorlagen in Genua für den Prinzen von Wales, den späteren König Karl I., gekauft. Seit 1865 sind sie im Londoner Victoria & Albert Museum ausgestellt, gehören aber nach wie vor dem englischen Königshaus.
Raffael: Die Heilung des Lahmen im Tempel (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Der Tod des Hananias (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Die Bekehrung des Prokonsuls (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Das Opfer in Lystra (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Die Predigt des Paulus auf dem Aeropag (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael hat auf seinen Kartons vier Szenen aus dem Leben des Petrus dargestellt: der wunderbare Fischzug (Lukas 5,1-10); Christi Schlüsselübergabe an Petrus (Matthäus 16,18-19 und Johannes 21,17-17); die Heilung des Lahmen im Tempel (Apostelgeschichte 3,1-8) und der Tod des Hananias (Apostelgeschichte 5,1-5). Dann folgen noch sechs Darstellungen aus dem Leben des Paulus, beginnend mit der Steinigung des Stephanus (Apostelgeschichte 7,54-60), die der junge Saulus als Beobachter verfolgt. Aus diesem Saulus wird dann auf dem Weg nach Damaskus Paulus – verursacht durch ein blendend helles Licht, einen Sturz von seinem Pferd und die Stimme Christi (Apostelgeschichte 9,1-7). Es schließen sich an: die Bekehrung des Prokonsuls (Apostelgeschichte 13,6-12); das Opfer in Lystra (Apostelgeschichte 14,8-18); Paulus im Gefängnis (Apostelgeschichte 16, 23-26) und die Predigt auf dem Aeropag (Apostelgeschichte 17,16-34).
Ausschnitt aus Filaretes Bronzetür in St. Peter (1445 fertiggestellt)
Alle Teppiche weisen als unteren Abschluss einen fiktiven Bronzefries auf, „wobei diese Anordnung von großem Ereignisfeld und schmalen Fries möglicherweise von Filaretes 70 Jahre älterer Bronzetür für das Hauptportal von Alt-St. Peter angeregt wurde“ (Pfisterer 2003, S. 84). Die angefügten Friese zeigen jeweils fünf Episoden aus dem Leben des Paulus bzw. des Auftraggebers Leo X.: So schildert der Fries, der zu dem Teppich mit der Schlüsselübergabe an Petrus gehört, die Plünderung des Florentiner Medici-Palastes bei der Vertreibung der Familie im Jahr 1494, und ganz rechts ist die Flucht des damals noch jungen Giovanni de’Medici dargestellt.
So siehts in der Sixtina aus, wenn die Teppiche an der Wand hängen
Zwei der Kartons seien hier beispielhaft kurz besprochen: Die Hauptszene des Wunderbaren Fischzug zeigt den Moment, in dem Petrus Jesus als Sohn Gottes erkennt. Christus sitzt segnend im Kahn des Petrus. Sein ehemals rotes Gewand spiegelt sich noch heute in dieser Farbe im Wasser. Auch auf dem Teppich erscheint das Gewand rot, es wurde jedoch zu einem späteren Zeitpunkt weiß übermalt, warum auch immer. Hinter Petrus breitet sein Bruder Andreas beim Anblick des Erlösers ergriffen die Arme aus. Im zweiten Boot sitzt Zebedäus mit seinen Söhnen Philippus und Jakobus, die damit beschäftigt sind, die gefüllten Netze aus dem Wasser zu ziehen. Im Hintergrund ist am Ufer, wo Jesus zuletzt gepredigt hatte, das Volk zu sehen. Im Mauerzug mit den Rundtürmen erkennt man den westlichen Trakt der Leoninischen Mauer, die sich über den Vatikanischen Hügel erhebt. Raffael gibt damit eine Ansicht der Stadt Rom zu seiner Zeit wieder, die auch die weiteren im Dunst verschwimmenden Gebäude einschließt. „Die Heilige Stadt als Sitz des Papstes wird so in unmittelbaren Zusammenhang mit dem biblischen Geschehen im Heiligen Land gesetzt“ (zur Capellen 2010, S. 81)
Raffael: Schlüsselübergabe an Petrus (1515/16, Karton); London, Victoria & Albert Museum
Raffael: Schlüsselübergabe an Petrus (1517-1519, Wandteppich); Rom, Vatikanische Museen
Inhaltlich folgt dem Wunderbaren Fischzug die Schlüsselübergabe an Petrus (Matthäus 16,13-19). Die Szene gehört zu den Erscheinungen Christi nach seiner Auferstehung, und dementsprechend wird Jesus in einem weißen, im Teppich zudem mit goldenen Sternen geschmückten Gewand dargestellt. Christus gibt Simon hier den Namen Petrus, von lat. petra, der Fels. Auf dem Teppich weist er mit der Linken auf die weidenden Schafe, mit der rechten auf Petrus. Sein Körper ist größer und schlanker als die der Apostel; „sein den Oberkörper und die Unterschenkel unverhüllt lassendes Gewand windet sich spiralförmig um ihn herum und betont so seine hohe Gestalt sowie die Dynamik seiner Bewegung“ (Oberhuber 1999, S. 163).
Die „Schlüsselübergabe“ an Petrus ist bis heute das für das Selbstverständnis der Päpste zentrale Ereignis im Neuen Testament. Raffael konzentriert seine Darstellung auf die beiden Hauptpersonen Christus und Petrus, der auf die Knie gesunken ist. Johannes, mit leuchtend rotem Mantel über grünem Untergewand rechts hinter Petrus, löst sich mit kraftvollem Schritt von der Gruppe der übrigen Jünger. Die wirkt zunächst wie ein geschlossener Block, doch bei genauerem Blick zeigt sich, dass alle Figuren in ihren Gesten, Kopfbewegungen und Blicken auf das eigentliche Geschehen bezogen sind. „Raffael wird hier Anregungen Leonardos gefolgt sein, welcher die sich in Gebärden und Mimik äußernde innere Beteiligung mehrer Personen an einem dramatischen Ereignis in seinem berühmten Abendmahl beispielhaft entwickelt hatte“ (zur Capellen 2010, S. 82).
Bei der Heilung des Lahmen im Tempel und dem Tod des Hananias greift Raffael auf Masaccios Fresken in der Florentiner Branacci-Kapelle zurück (1425-1427), die ebenfalls das Leben Petri zum Thema haben. Raffael hat sich offensichtlich „vom geballten Auftreten der Figuren und ihrer beredten Gestik“ (Talvaccio 2007, S. 155) inspirieren lassen. Vor allem Petrus selbst entspricht demselben Typus mit seinem kompakten Körperbau, kurzem, ergrauten Bart und Haar bis hin zur präzisen Übernahme des blauen Gewandes unter einem voluminösen goldenen Umhang.
Masaccio: Der Zinsgroschen (1425-1427); Florenz, Santa Maria del Carmine/Brancacci-Kapelle
Literaturhinweise
Meyer zur Capellen, Jürg: Raffael. Verlag C.H. Beck, München 2010, S. 79-83;
Oberhuber, Konrad: Raffael. Das malerische Werk. Prestel Verlag, München/London/New York 1999, S. 158-167;
Pfisterer, Ulrich: Die Sixtinsiche Kapelle. Verlag C.H. Beck, München 2013;
Pfisterer, Ulrich: Raffael. Glaube · Liebe · Ruhm. Verlag C.H. Beck, München 2019, S. 238-246;
Pon, Lisa: Raphael’s Acts of the Apostles Tapestries für Leo X: Sight, Sound, and Space in the Sistine Chapel. In: The Art Bulletin 97 (2015), S. 388-408;
Shearman, John: Only Connect … Art and the Spectator in the Italian Renaissance. Princeton University Press, Princeton 1992, S. 202-207; 
Talvacchia, Bette: Raffael. Phaidon Verlag, Berlin 2007, S. 150-155.

(zuletzt bearbeitet am 9. September 2022)

1 Kommentar:

  1. Toller Blog! Ich bin beim Lernen über die Google Bildersuche zufällig auf dich gestoßen!
    Weiter so!

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