Albrecht Dürer: Das Meerwunder (1498); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Es gibt von Albrecht Dürer (1471–1528) eine ganze
Reihe von Grafiken – Zeichnungen, Holzschnitte, Kupferstiche und
Eisenradierungen –, die der kunsthistorischen Forschung immer noch Rätsel
aufgeben und bis heute nicht eindeutig interpretiert werden konnten. Dazu
gehört auch der Kupferstich Das
Meerwunder von 1498, der die Entführung einer nackten jungen Frau durch ein
Seeungetüm zeigt. Der bärtige Meermann, halb Mensch, halb Fisch, trägt ein
gezacktes Geweih auf der Stirn und ist mit einem Schildkrötenpanzer sowie einer
Knochenkeule bewaffnet. Seine bizarre Gestalt kontrastiert wirkungsvoll mit der
ebenmäßigen Schönheit seiner Beute, die er fest am linken Oberarm gepackt hat.
Die nackte Frau, einzig am rechten Unterschenkel von einem flatternden Tuch
bedeckt, trägt als Zeichen hoher Herkunft ein besticktes Diadem und ein
Perlenband im Haar. Scheinbar unbeeindruckt von der Gewalt, die das Fabelwesen
ihr antut, lässt sie sich auf das Meer hinaustragen – Widerstand wird
jedenfalls nicht geleistet.
Die Geraubte lagert halb liegend, halb sitzend in
klassischer Pose auf dem schuppigen Fischleib, der Situation wahrlich
unangemessen, entspannt wie auf einem Kanapee. Den Oberkörper dem Betrachter
frontal zugewendet, dreht sie ihren Kopf ins Profil und wirft einen schmerzlichen
Blick zurück auf ihre Gespielinnen. Drei von ihnen versuchen sich ans
jenseitige Ufer zu retten, während eine vierte, bekleidet, dort in Verzweiflung
die Hände ringt und ein bewaffneter Orientale gestikulierend zum Strand läuft.
Er scheint der davoneilenden Gruppe hinterherzurufen oder den Frauenraub
lautstark zu beklagen – vielleicht handelt es sich um den Leibwächter der
jungen Frauen, vielleicht um den Vater der Entführten.
Der mythische Geschehen spielt sich vor der Kulisse
einer detailliert geschilderten nordalpinen Stadt- und Mittelgebirgslandschaft
ab. Zwischen dem bewachsenen Ufer und einer hohen Felsenburg erhebt sich eine
mächtige Festungsanlage mit Anklängen an die Nürnberger Burg. Dabei kontrastiert die große, helle Wolke, die die Burg hinterfängt, effektvoll mit der dunkler schraffierten Himmelsfläche. Bestimmt wird die
Komposition von einer Dreiecksform: Ihre Schenkel werden von den
Davonschwimmenden und der Gebirgssilhouette, ihre Spitze von der Kinnbackenwaffe
gebildet.
Schlafende Ariadne (römische Kopie eines griechischen Originals aus dem 2. Jh. v.Chr.); Rom, Vatikanische Museen |
Ebenso ist aber auch denkbar, dass Dürer
keine konkrete Erzählung aufgreift, sondern ganz unspezifisch einfach die
Entführung einer „Nymphe“ darstellt, wie der Künstlerbiograf Giorgio Vasari die
Liegende in seiner Beschreibung des Blattes nennt. Das erscheint mir am
wahrscheinlichsten, denn das Bildgeschehen ist auch ohne direkte Rückbindung an
einen bestimmten Sagenstoff für den Betrachter verständlich. Vor allem aber bot sich dem Künstler so die Gelegenheit, einen weiblichen Akt
darzustellen, ähnlich wie in seinem Kupferstich der Vier nackten Frauen von 1497 (siehe meinen Post „Hinfälliges Fleisch“). Von Dürer selbst
ist uns nur die Bezeichnung „Mehrwunder“ überliefert: Unter diesem Titel hatte
er den Kupferstich 1520 in Antwerpen verkauft, wie er in seinem
„Niederländischen Tagebuch“ festhält. Als kluger Geschäftsmann führte Dürer zu
diesem Zweck auf seinen Reisen stets ein Konvolut seiner Druckgrafiken mit
sich.
Kein Schrei, nur ein Seufzen entfährt der Entführten |
Über die Absichten des Wassermanns lässt uns der
Kupferstich jedenfalls nicht im Unklaren: Neben der linken Hand der jungen Frau
(mit deren Zeigefinger sie wohl auf Dürers Monogramm hinweist) ist das Gemächt
des Wassermannes zu erkennen. Für Anna Scherbaum gehört Dürers Kupferstich deswegen zu einer Vorstellungswelt, die (Unge)-Tiere und Wilde Männer als „Metaphern für instinktives, besonders Trieb geleitetes und sündhaftes Handeln einsetzte“ (Scherbaum 2008, S. 138).
Dietwald Doblies hat darauf hingewiesen, dass der
Satyr in Dürers Kupferstich Die
Satyrfamilie seine Männlichkeit ganz ähnlich präsentiert. Der italienische
Künstler Jacopo de’ Barbari (1450–1516) hat die sexuelle Komponente des Meerwunders aufgegriffen und in seinem
Kupferstich Triton und Nereide in den
Mittelpunkt gerückt.
Albrecht Dürer: Die Satyrfamilie (1505); Kupferstich |
Jacopo de’ Barbari: Triton und Nereide (1501/06); Kupferstich |
Andrea Mantegna: Kampf der Seegötter (um 1485/88); Kupferstich, rechte Hälfte |
Literaturhinweise
Anzelewsky, Fedja: Dürer-Studien. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 1983, S.
45-56;
Bornscheuer, Marion: Geglückte aemulatio. Dürers Mantegna-Rezeption und seine Rückbeeinflussung der italienischen Graphik. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden Württemberg 45 (2008), S. 31- 48;
Bornscheuer, Marion: Geglückte aemulatio. Dürers Mantegna-Rezeption und seine Rückbeeinflussung der italienischen Graphik. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden Württemberg 45 (2008), S. 31- 48;
Doblies, Dietwald: Das Meerwunder. http://www.albrecht-duerer-apokalypse.de/das-meerwunder
(letzter Zugriff: 20.03.2020);
Renkl, Thomas: Dürers
„Meerwunder
“
als politische Mythenrezeption des deutschen Frühhumanismus. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 65 (2018), S. 43-58;
Schoch, Rainer: Das Meerwunder. In: Matthias Mende u.a. (Hrsg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I:
Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 73-74;
Panofsky, Erwin: Das Leben und die Kunst Albrecht
Dürers. Rogner & Bernhard, München 1977 (zuerst 1943), S. 98-99;
Schauerte, Thomas: Das große Glück. Kunst im Zeichen
des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 163-164;
Scherbaum, Anna: „Was
malt er nicht alles, was man nicht malen kann“. Phantastik und Traum in
der Graphik Albrecht Dürers. In: Martin Zenck u.a. (Hrsg.), Signatur
und Phantastik in den schönen Künsten und in den Kulturwissenschaften
der frühen Neuzeit. Wilhelm Fink Verlag, München 2008, S. 123-147;
Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der
Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 244;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 86.
(zuletzt bearbeitet am 18. März 2022)
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 86.
(zuletzt bearbeitet am 18. März 2022)
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