Albrecht Dürer: Vier nackte Frauen (1497); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Interpretationsansätze hat es in der Forschung
zuhauf gegeben: Bordellszene, Hexenversammlung, Liebeszauber, Parisurteil, Venus
und die Grazien, Proserpina und die Erynien, Discordia und die drei Parzen,
die Horen, die Jahreszeiten, die Lebensalter, die Temperamente, Allegorie der
Eitelkeit, der Vergänglichkeit oder gar der Mäßigkeit?
Venus Medici, 1618 in der Villa des römischen Kaisers Hadrian aufgefunden; sie befindet sich heute in der Galleria degli Uffizi in Florenz |
Die „Drei
Grazien“ aus dem Dom von Siena (4. Jahrhundert): 1460 in Rom aufgefunden, Nachbildung eines griechischen Originals aus hellenistischer Zeit |
Zur Polarisierung der
Meinungen trugen die verschiedenartigen Bildelemente bei: Einerseits verraten
die vier weiblichen Aktfiguren die Kenntnis antiker Statuen, z. B. der Venus
Medici und der Drei Grazien im Dom von Siena, was eine mythologische Deutung
nahelegt. Andererseits wird die freizügige Sinnlichkeit der Frauengestalten mit
Todessymbolen und einem höllischen Dämon verknüpft und damit negativ besetzt – für Dürer vielleicht ein Mittel, um die anstößige Darstellung des weiblichen Aktes zu rechtfertigen. Für Rainer Schoch jedenfalls handelt Dürers Stich „von weiblicher Nacktheit, Sexualität,
Sünde und Tod, einem Themenkreis, der die Kunst des 15. Jahrhunderts vielfach
beschäftigt hat“ (Schoch 2001, S. 63).
Die Vier nackten Frauen können auch als
Versuch gesehen werden, den weiblichen Akt in verschiedenen Ansichten
wiederzugeben, gewissermaßen dreidimensional. Dürers Kupferstich wäre damit ein
Beitrag zur „Paragone“-Diskussion der Renaissance, der den Wettstreit mit der
Skulptur aufnimmt. Dabei ist die
Körperlichkeit der dargestellten Frauen weniger ein Ergebnis des
Antikenstudiums, sondern „der Natur abgeschaut“, fern von klassischen
Schönheitsidealen. Im Professoren-Sprech heißt das: „Statt des hermetisch modellierten Modus der Skulptur macht
sich weibliche Physis in freiem Wuchse breit“ (Hinz 1993, S. 213). Vor allem
der Rückenakt war wegen seiner vitalen Sinnlichkeit vielen Künstlern im 16.
Jahrhundert Vor- und Leitbild: „Der hier erstmals vor die Augen der Öffentlichkeit
gelangte Anblick einer nackten Frau von
hinten bescherte dieser Perspektive einen anhaltenden künstlerischen Boom“
(Hinz 1993, S. 217). Mit Fug und Recht kann man daher Dürer die Erfindung des neuzeitlichen Rückenaktes zuerkennen.
Zuletzt hat sich Thomas Renkl nochmals sehr nachdrücklich dafür ausgesprochen, Dürers Frauenakte als die Vier Lebensalter zu betrachten: Der Künstler habe jede einzelne seiner Figuren mit Blick auf Körpersprache und Kopfbedeckung so fein ausdifferenziert, dass es sich bei der Gruppe als Ganzes nicht um eine der vorgeschlagenen Drei- bzw. Vierheiten aus der griechischen Mythologie handeln könne. „Diese waren schon in der Dreizahl unter sich jeweils gleichaltrig, während Dürer sichtbar vier verschiedene Abschnitte im Leben einer Frau wiedergibt: die Unschuld und die Unbekümmertheit in der Phase der Kindheit und Jugend, das Aufbgehren und die Verlockung durch sinnliche Reize in der Phase des Erwachsenwerdens, den Ernst und das Benehmen der gereiften Frau, den Wandel weiblicher Formen und das Schwinden der Kräfte im Alter“ (Renkl 2015, S. 394). Das Hauptaugenmerk in Dürers Kupferstich liege, so Renkl, auf dem unaufhaltsamen Älterwerden und damit letztendlich auf der Vergänglichkeit des irdischen Daseins. Auch mit dem Totenschädel und dem vereinzelt am Boden liegenden menschlichen Knochen verweise Dürer auf das Vergehen, auf die Hinfälligkeit alles Fleischlichen.
Dürer demonstriert aber mit seinen vier weiblichen Figuren, erläutert Renkl weiter, nicht einfach den Alterungsprozess und körperlichen Verfall der Frauen – gemeint ist vielmehr das gesamte dem Gesetz der Sterblichkeit ausgelieferte Menschengeschlecht. Als Beleg dient ihm die Inschrift „·O·G·H·“ auf der Kugel über den Köpfen der vier Akte: Es handele sich um die Abkürzung von „omne genus hominem“, ein Vulgata-Zitat aus der Apostelgeschichte: „Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen“ (17,26; LUT).
Welche Bedeutung hat nun aber die Teufelsgestalt links im Hintergrund? Sie reißt nicht nur ihren Rachen auf und zeigt ihre Zähne, sondern hält auch einen Kloben in der rechten Klaue. Dabei handelt es sich um eine zeitgenössische Vorrichtung für den Vogelfang: Auf einen gespaltenen Stock, dessen Enden ein Keil auseinanderhält, wurde ein Lockvogel gesetzt. Sobald sich ein Vogel zu ihm gesellte, zog der Vogelsteller den Keil über eine Schnur aus dem Kloben, und die Falle schnappte zu. Bis in die jüngere Vergangenheit hinein war der Kloben als Bild für teuflische Versuchungen auch in deutschen Bibelübersetzungen gegenwärtig. So heißt es in Jeremia 5,26-27: „Man findet unter meinem Volk Gottlose, die den Leuten nachstellen und Fallen zurichten, um sie zu fangen, wie’s die Vogelfänger tun. Ihre Häuser sind voller Tücke, wie ein Vogelbauer voller Lockvögel ist“ (LUT). In der von Anton Koberger 1483 in Nürnberg gedruckten deutschsprachigen Bibel wird für „Fallen“ das Wort „kloben“ benutzt. Vor diesem Hintergrund könnte Dürers Kloben als Hinweis gesehen werden, „dass hinter dem Reiz weiblicher Nacktheit stets die Gefahr lauert, den Verlockungen des Teufels zu erliegen“ (Renkl 2015, S. 399).
Zuletzt hat sich Thomas Renkl nochmals sehr nachdrücklich dafür ausgesprochen, Dürers Frauenakte als die Vier Lebensalter zu betrachten: Der Künstler habe jede einzelne seiner Figuren mit Blick auf Körpersprache und Kopfbedeckung so fein ausdifferenziert, dass es sich bei der Gruppe als Ganzes nicht um eine der vorgeschlagenen Drei- bzw. Vierheiten aus der griechischen Mythologie handeln könne. „Diese waren schon in der Dreizahl unter sich jeweils gleichaltrig, während Dürer sichtbar vier verschiedene Abschnitte im Leben einer Frau wiedergibt: die Unschuld und die Unbekümmertheit in der Phase der Kindheit und Jugend, das Aufbgehren und die Verlockung durch sinnliche Reize in der Phase des Erwachsenwerdens, den Ernst und das Benehmen der gereiften Frau, den Wandel weiblicher Formen und das Schwinden der Kräfte im Alter“ (Renkl 2015, S. 394). Das Hauptaugenmerk in Dürers Kupferstich liege, so Renkl, auf dem unaufhaltsamen Älterwerden und damit letztendlich auf der Vergänglichkeit des irdischen Daseins. Auch mit dem Totenschädel und dem vereinzelt am Boden liegenden menschlichen Knochen verweise Dürer auf das Vergehen, auf die Hinfälligkeit alles Fleischlichen.
Dürer demonstriert aber mit seinen vier weiblichen Figuren, erläutert Renkl weiter, nicht einfach den Alterungsprozess und körperlichen Verfall der Frauen – gemeint ist vielmehr das gesamte dem Gesetz der Sterblichkeit ausgelieferte Menschengeschlecht. Als Beleg dient ihm die Inschrift „·O·G·H·“ auf der Kugel über den Köpfen der vier Akte: Es handele sich um die Abkürzung von „omne genus hominem“, ein Vulgata-Zitat aus der Apostelgeschichte: „Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen“ (17,26; LUT).
Welche Bedeutung hat nun aber die Teufelsgestalt links im Hintergrund? Sie reißt nicht nur ihren Rachen auf und zeigt ihre Zähne, sondern hält auch einen Kloben in der rechten Klaue. Dabei handelt es sich um eine zeitgenössische Vorrichtung für den Vogelfang: Auf einen gespaltenen Stock, dessen Enden ein Keil auseinanderhält, wurde ein Lockvogel gesetzt. Sobald sich ein Vogel zu ihm gesellte, zog der Vogelsteller den Keil über eine Schnur aus dem Kloben, und die Falle schnappte zu. Bis in die jüngere Vergangenheit hinein war der Kloben als Bild für teuflische Versuchungen auch in deutschen Bibelübersetzungen gegenwärtig. So heißt es in Jeremia 5,26-27: „Man findet unter meinem Volk Gottlose, die den Leuten nachstellen und Fallen zurichten, um sie zu fangen, wie’s die Vogelfänger tun. Ihre Häuser sind voller Tücke, wie ein Vogelbauer voller Lockvögel ist“ (LUT). In der von Anton Koberger 1483 in Nürnberg gedruckten deutschsprachigen Bibel wird für „Fallen“ das Wort „kloben“ benutzt. Vor diesem Hintergrund könnte Dürers Kloben als Hinweis gesehen werden, „dass hinter dem Reiz weiblicher Nacktheit stets die Gefahr lauert, den Verlockungen des Teufels zu erliegen“ (Renkl 2015, S. 399).
Albrecht Dürer: Der Traum des Doktors (1497/98), Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken) |
Sehr wahrscheinlich waren Dürers Kupferstiche
mit so komplexen Bildthemen wie Vier nackte Frauen oder Der Traum des
Doktors für einen gebildeten Kreis von Humanisten bestimmt, dem der Künstler
zugleich Anregungen für seine Bildinhalte verdankt haben dürfte.
Literaturhinweise
Anzelewsky, Fedja: Vier nackte Frauen. In: Fedja Anzelewsky, Dürer-Studien. Untersuchungen zu den ikonographischen und geistesgeschichtlichen Grundlagen seiner Werke zwischen den beiden Italienreisen. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 1983, S. 29-44;
Hinz, Berthold: Nackt/Akt – Dürer und der „Prozess der Zivilisation“. In: Städel-Jahrbuch NF 14 (1993), S. 199-230;
Schoch, Rainer: Vier nackte Frauen. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 61-64;
Renkl, Thomas: Vier nackte Frauen? Zum Sichtbaren und zum Nichtsichtbaren in Dürers Kupferstich mit den Zeichen »O·G·H« und »1497«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 78 (2015), S. 387-411;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 52-53;
Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 240;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 54;
Anzelewsky, Fedja: Vier nackte Frauen. In: Fedja Anzelewsky, Dürer-Studien. Untersuchungen zu den ikonographischen und geistesgeschichtlichen Grundlagen seiner Werke zwischen den beiden Italienreisen. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 1983, S. 29-44;
Hinz, Berthold: Nackt/Akt – Dürer und der „Prozess der Zivilisation“. In: Städel-Jahrbuch NF 14 (1993), S. 199-230;
Schoch, Rainer: Vier nackte Frauen. In: Mende, Matthias u.a. (Hrsg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Band I: Kupferstiche und Eisenradierungen. Prestel Verlag, München 2000, S. 61-64;
Renkl, Thomas: Vier nackte Frauen? Zum Sichtbaren und zum Nichtsichtbaren in Dürers Kupferstich mit den Zeichen »O·G·H« und »1497«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 78 (2015), S. 387-411;
Schauerte, Thomas: Albrecht Dürer – Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs. Rasch Verlag, Bramsche 2003, S. 52-53;
Schröder, Klaus Albrecht/Sternath, Maria Luise (Hrsg.): Albrecht Dürer. Zur Ausstellung in der Albertina Wien. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2003, S. 240;
Sonnabend, Martin (Hrsg.): Albrecht Dürer. Die Druckgraphiken im Städel Museum. Städel Museum, Frankfurt am Main 2007, S. 54;
Sonnabend, Martin:
Vor Dürer. Kupferstich wird Kunst. Deutsche und niederländische
Kupferstiche des 15. Jahrhunderts aus der Graphischen Sammlung des
Städel Museums. Sandstein Verlag, Dresden 2022, S. 281-283;
Stumpel, Jeroen: The foul fowler found out: on a key motif in Dürer’s Four witches. In: Simiolus 30 (2003), S. 143-160;
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 11. März 2023)
LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
(zuletzt bearbeitet am 11. März 2023)
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