Ernst Ludwig Kirchner: Potsdamer Platz (1914); Berlin, Nationalgalerie (für die Großansicht einfach anklicken) |
Innerhalb eines halben
Jahrhunderts war Berlin zur neuen Weltstadt Europas herangewachsen, die mit London,
Wien und Paris konkurrieren konnte. Diese Veränderung hatte sich mit enormer
Geschwindigkeit vollzogen; sie setzte ein mit dem Einzug der Großindustrie, der
rasch expandierenden Maschinenfabriken. Durch eine anhaltende Hochkonjunktur
und erweiterte Absatzmärkte nahm die Zahl der Arbeiter und Beschäftigen stark
zu, und immer mehr Menschen strömten nach Berlin. Viele der Betriebe und Produktionsanlagen
waren um 1900 so groß geworden, dass sie in die Vorstädte verlegt werden
mussten. Die wirtschaftliche Macht Berlins produzierte Armut und Reichtum,
Ausgebeutete und Emporgekommene. Berlin war die größte Mietskasernenstadt
Europas mit katastrophalen Lebensumständen für die breite Masse; und es war eine
Stadt mit modernsten Verkehrsmitteln – 1902 wurde die erste Strecke der
Hochbahn eröffnet –, mit neuen großen Bahnhöfen, mit elektrischer
Straßenbeleuchtung, großen Kaufhäusern, prachtvollen Geschäfts- und
Einkaufsstraßen, luxuriösen Hotels, Opernhäusern, Theatern und allen sonstigen
Unterhaltungsmöglichkeiten.
Ernst Ludwig Kirchner: Berliner Straßenszene (1914); Zeichnung (für die Großansicht einfach anklicken) |
Das Thema der
Großstadt hat vor allem Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) in besonderem Maß
beschäftigt; diese Werkgruppe, zu der elf Gemälde, zahlreiche Pastelle,
Zeichnungen und Druckgrafiken gehören, wird als eine der wichtigsten in seinem
Schaffen betrachtet. Kirchner war begeistert von der modernen, temporeichen und
dicht bevölkerten Lebenswelt Berlins. „Stets hatte er sein Skizzenbuch zur
Hand, um mit fliegendem Stift und hastiger Schnelle das Gesehene, Erlebte zu
notieren“ (Dahlmanns 2005, S. 198). Kirchner zeichnete in Bars und Musikcafés,
in den Varietétheatern und immer wieder das Treiben auf den Straßen und
nächtlichen Boulevards, auf denen es so anders zuging als im beschaulichen
Dresden. Dabei erreichte sein Zeichenstil einen kaum zu übertreffenden Grad an
Spontaneität. „Nicht mehr die einzelne Linie, sondern der übergreifende
Zusammenhang der Striche läßt das eingefangene Motiv deutlich werden“ (Moeller
1993, S. 29). Kirchner kürzt die Einzelformen abbreviativ ab, um den
unmittelbaren Eindruck möglichst unverfälscht zu erfassen.
Ernst Ludwig Kirchner: Berliner Straßenszene (1914); Zeichnung (für die Großansicht einfach anklicken) |
1914 war für Kirchner
das Jahr der „Straßenszenen“. Der überwiegende Teil dieser Werkgruppe ist in diesen
Monaten entstanden, vermutlich verstärkt in der ersten Jahreshälfte, vor seinem
Aufenthalt auf der Ostseeinsel Fehmarn; die meisten setzen sich mit dem Motiv
der Kokotte, wie die Berliner Prostituierten genannt wurden, auseinander. Kirchners
größtes Straßenbild der Berliner Jahre (200 x 150 cm) zeigt den Potsdamer Platz
bei Nacht, damals der verkehrsreichste Ort Europas, der wichtige Straßen
sternförmig zusammenführte. Mit dem Bahnhof und den umliegenden Cafés, den
Geschäften und flanierenden Prostituierten war er zum Synonym für die deutsche
Metropole geworden. Begonnen wurde das Bild vermutlich im Februar 1914,
vollendet aber wohl erst im Herbst 1914 nach Kirchners Rückkehr von Fehmarn. In
der Mitte des Hintergrunds ist der Potsdamer Bahnhof zu erkennen, reduziert um
ein Geschoss auf eine Arkadenloggia. Die Bahnhofsuhr zeigt Mitternacht. Links
davon schließt sich das 1913 von Kempinski eröffnete „Café Piccadilly“ an, nach
Kriegsausbruch in „Haus Vaterland“ umbenannt. Rechts sehen wir das angeschnittene,
um mehrere Stockwerke reduzierte Bierhaus Siechen (später Pschorr-Haus). „Durch
differenzierte Schrägstellung dynamisiert Kirchner die Architektur und rafft
sie optisch zusammen“ (Moeller 1993, S. 29). Ein großes spitzwinkliges Element,
das vom Bahnhof ausgehende Trottoir, strebt von hinten nach vorn und bildet
einen formalen Kontrast zu dem Rund der Verkehrsinsel im Vordergrund.
Die Südseite des Potsdamer Platzes um 1912 mit (von links) Café Piccadilly, Potsdamer Bahnhof und Bierhaus Siechen – die Hintergrundbühne für Kirchner „Potsdamer Platz“ |
Einerseits sind die
Architekturzitate, die spitzwinkligen Trottoir- und Straßenführungen und die gesichtslosen
Staffagefiguren, die sich auf ihnen bewegen, in einer extremen Aufsicht und
Entfernung wiedergegeben. Die beiden Kokotten hingegen, die als
Hauptdarstellerinnern des Bildes auf der Bühne einer Verkehrsinsel stehen, werden
in frontaler Nahsicht gezeigt. Ihre am unteren Bildrand angeschnittene
Plattform suggeriert eine gemeinsame Standfläche mit dem Betrachter. Genau so –
nämlich in Bodenhöhe – wollte Kirchner sein Bild auch aufgehängt sehen. Die
Trennung von Kokotten und Stadtkulisse wird durch die Verkehrsinsel verstärkt:
„Wie eine Rotationsscheibe, die in die Fläche gekippt ist, scheint sie über den
grünbeleuchteten Straßen zu schweben, die einer der Staffagemänner vom
spitzwinkligen, zementfarbenen Bürgersteig aus zu überschreiten versucht, als
träte er über einen Abgrund“ (Sykora 1996, S. 40).
Sphingen auf dem Präsentierteller |
Ernst Ludwig Kirchner: Fünf Frauen auf der Straße (1913); Köln, Wallraf-Richartz-Museum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Kirchners Potsdamer Platz ist aber nicht nur Schauplatz
der Geschlechterverstrickung, sondern lässt sich auch sozialgeschichtlich
lesen. Die Prostitution in Berlin hatte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg
stark zugenommen; die Prostituierten, die meist aus den zugewanderten
Arbeiterfamilien stammten, gehörten zum alltäglichen Erscheinungsbild der
extrem rasch gewachsenen Metropole. Vor allem auf der Friedrichstraße und der
Leipziger Straße mit ihren Querstraßen, wo sich die meisten Bars, Cafés und
Nachtlokale befanden, auf dem Potsdamer Platz – hier vor allem vor dem Café
Josty – und auch im „Neuen Westen“, also auf der Tauentzienstraße, waren sie in
großer Zahl anzutreffen. Da in Berlin seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts
Bordelle verboten waren, sahen sich die Prostituierten gezwungen, auf der
Straße nach Freiern zu suchen. Die Polizei war befugt, diese Frauen zu
kontrollieren, da man offiziell auch die Straßenprostitution untersagt hatte.
In seiner Untersuchung „Die Prostitution in Deutschland“ (1910 erschienen)
schreibt Robert Hessen über die Berliner Polizei: Sie „beabsichtigte, eine
Prostitution spazieren zu lassen, die sich ebenso manierlich benahm wie
anständige Frauen. Darum durften die als käuflich bekannten Weiber in der
Friedrichstraße (...) unter keinen Umständen zurückblicken, oder an ein Schaufenster
treten, oder mit einem Herrn stehen bleiben, oder gar einen anreden. Sie
sollten ›ladylike‹ dahinschweben und wandelten wie von Bajonetten umgeben. Denn
bei der geringsten Übertretung war und ist heute noch, wie aus dem Boden
gewachsen, bald irgendein Detektiv der Sittenpolizei zur Stelle, schreibt die
Betroffene auf, und sie kommt ins Gefängnis“ (Hessen 1910, S. 116/117).
Um auf sich aufmerksam zu machen, trugen viele Kokotten auffällige
Kleidung: große, eindrucksvolle Federhüte und mit Federkragen geschmückte Mäntel
oder Jacken. Tagsüber und natürlich vor allem bei Nacht waren unzählige
Prostituierte unterwegs und flanierten durch die Straßen. Sie gehörten zu den
Attraktionen des Berliner Nachtlebens. Entsprechend der polizeilichen
Vorschriften gibt es aber auf Kirchners Straßenszenen keinen Blickkontakt von
seiten der Kokotten zu den männlichen Passanten. Kirchners Modelle für die
beiden Frauen waren Erna Schilling – seit 1912 seine Lebensgefährtin – und ihre
Schwester Gerda. Gerda, die Schönere, die ihr Gesicht dem Betrachter zuwendet,
verschwand wenig später für immer unauffindbar in der Berliner Unterwelt. Der
Kriegsfreiwillige Kirchner notierte 1916: „Wie die Kokotten, die man einst
malte, so ist man jetzt selbst. Hingewischt, beim nächsten Male weg“
(Briefwechsel 1990, S. 83). Dennoch sind Kirchners Prostituierte kein Symbol für
das großstädtische Elend, kein Beispiel für gesellschaftliche Randgruppen, kein
Motiv sozialer Anklage. Es geht Kirchner nicht um moralische Entrüstung –
und dennoch zeigt er uns „die raubtierhafte Versammlung von Gleichgesinnten als
Sinnbild großstädtischer Entfremdung“ (Schuster 1990, S. 246) und auf welche
Weise diese Menschen eben diese Entfremdung kompensieren. Kirchner erfasst
mit seinen Berliner Straßenszenen das Erlebnis der modernen, von wogenden
Menschenmengen, hektischem Verkehr und grellem nächtlichen Amüsierbetrieb
gekennzeichneten Metropole, und ohne Zweifel hat ihn diese großstädtische
Vitalität mit ihrer vibrierenden Bewegung sehr fasziniert.
El Greco: Die Öffnung des fünften Siegels (1608-1614); New York, The Metropolitan Museum of Art (für die Großansicht einfach anklicken) |
Ernst Ludwig Kirchner: Potsdamer Platz (1914); Holzschnitt |
Literaturhinweise
Brandmüller, Nicole: Der Expressionist in Berlin. In: Ernst Ludwig Kirchner. Retrospektive. Städel
Museum, Frankfurt am Main 2010, S. 99-105;
Dahlmanns, Janina:
Faszination, Dämonie und Melancholie der Großstadt. In: Anita Beloubek-Hammer u.a.
(Hrsg.), Brücke und Berlin. 100 Jahre Expressionismus. Staatliche Museen zu
Berlin, Berlin 2005, S. 198-199;
Hessen, Robert: Die
Prostitution in Deutschland. Verlag Albert Langen, München 1910;
Kirchner, Ernst Ludwig/Schiefler, Gustav: Briefwechsel 1910–1935/38. Belser Verlag,
Stuttgart/Zürich 1990;
März, Roland: Am
Abgrund: Kirchners Potsdamer Platz. In: Katharina Henkel/Roland März (Hrsg.),
Der Potsdamer Platz. Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens.
Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 2001, S. 33-37;
Moeller, Magdalena M.:
Ernst Ludwig Kirchner. Die Straßenszenen 1913–1915. Hirmer Verlag, München
1993;
Moeller, Magdalena
M. (Hrsg.): Ernst Ludwig Kirchner in Berlin. Hirmer
Verlag, München 2008;
Schad, Bernd (Hrsg.):
Ernst Ludwig Kirchner. Leben ist Bewegung. Katalog zur Ausstellung, Galerie der
Stadt Aschaffenburg, Aschaffenburg 1999, S. 10;
Schuster, Peter-Klaus: Kalkulierter Expressionismus. Versuch über Ernst Ludwig Kirchners »Dame mit Hut«. In: Bazon Brock/Achim Preiß (Hrsg.), Ikonographia. Anleitung zum Lesen von Bildern. Klinkhardt & Birmann, München 1900, S. 228-248;
Simmons, Sherwin: Ernst Kirchner’s Streetwalkers: Art, Luxury, and Immorality in Berlin, 1913-16. In: The Art Bulletin 82 (2000), S. 117-158;
Sykora, Katharina: Weiblichkeit, Großstadt, Moderne. Ernst Ludwig Kirchners Berliner Straßenszenen 1913–1915. Museumspädagogischer Dienst Berlin, Berlin 1996.
(zuletzt bearbeitet am 10. August 2023)
Schuster, Peter-Klaus: Kalkulierter Expressionismus. Versuch über Ernst Ludwig Kirchners »Dame mit Hut«. In: Bazon Brock/Achim Preiß (Hrsg.), Ikonographia. Anleitung zum Lesen von Bildern. Klinkhardt & Birmann, München 1900, S. 228-248;
Simmons, Sherwin: Ernst Kirchner’s Streetwalkers: Art, Luxury, and Immorality in Berlin, 1913-16. In: The Art Bulletin 82 (2000), S. 117-158;
Sykora, Katharina: Weiblichkeit, Großstadt, Moderne. Ernst Ludwig Kirchners Berliner Straßenszenen 1913–1915. Museumspädagogischer Dienst Berlin, Berlin 1996.
(zuletzt bearbeitet am 10. August 2023)
wunderschöner blog, sehr ästhetisch und objektiv geschrieben.
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