Jan Vermeer: Junge Briefleserin am offenen Fenster (um 1657-59); Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (für die Großansicht einfach anklicken) |
Gedämpftes Sonnenlicht fällt von links durch das weit geöffnete
Fenster auf Gesicht und Oberkörper des Mädchens sowie den Brief, den sie in
beiden Händen hält. Dieses Licht erzeugt auf den Faltenhügeln des Teppichs wie
auf der Oberfläche der Früchte in der chinesischen Porzellanschale ein intensives
Farbenspiel. Vermeer erzielt es, indem er einzelne leuchtende, helle Farbflecken
in pointillistischer Manier aneinandersetzt. Ähnlich pastos gemalte Lichtpunkte
finden sich auch auf dem mit schwarzen Streifen abgesetzten Satinärmel und im
Haar des Mädchens, im leicht geknitterten Papier des Briefes sowie auf den
Kreuzungspunkten der Fensterstege.
Kräftiges Licht, das offensichtlich einer
außerhalb des Bildraumes befindlichen Quelle entspringt, fällt zudem auf den
illusionistisch gemalten Vorhang und lässt ihn in einem hellen Gelb-Grün
aufleuchten. Seine leicht gebauschten, voluminösen Faltenbahnen, die unten mit einer Fransenborte abschließen, entfalten dabei eine haptische Wirkung. Der Effekt einer Augentäuschung stellt sich sofort ein: Der Vorhang gehört einer außerbildlichen, dem Betrachterraum zuzurechnenden Ebene an. Für einen Moment nur scheint er nach rechts gezogen worden zu sein, um uns den Blick auf die intime Szene zu ermöglichen. Der spanische Stuhl mit seinen geschnitzten Löwenköpfen wird
ebenfalls vom Licht gestreift und wirft einen Schatten auf die Wand. „Diese
subtile Lichtbehandlung verleiht der dargestellten Figur ebenso wie den
Objekten eine beinahe tastbare Körperlichkeit“ (Neidhart 2010, S. 68). Sie ist
ein Beleg für Vermeers außergewöhnliche Fähigkeit, Licht in Malerei umzusetzen.
Der quer zur Bildfläche liegende Teppich, der den Zutritt zum dargestellten Innenraum mehr oder weniger verstellt, gehört zu
den konstanten Merkmalen von Vermeers Gemälden. Das Bild wird so zu einem Ort der Zurückgezogenheit, an dem
die menschliche Figur präsent, ja nah ist, jedoch geschützt vor jeder
unmittelbaren Begegnung, jeder direkten Kommunikation. Von Vermeers 26 erhalten
gebliebenen Interieurs lassen nur drei den Raum frei, der den Betrachter von
dem Modell trennt, das der Maler abbildet.
Vermeer hat das Mädchen, dessen Kopf sich exakt in der Bildmitte
befindet, direkt vor dem zweiteiligen Fenster positioniert, über das effektvoll
ein roter Vorhang geschlagen ist. Das geöffnete Fenster erlaubt keinen Blick ins Freie, „es signalisiert lediglich das Außen, woher der Brief kommt“ (Hammer-Tugendhat 2009, S. 280/281). Der Vorhang rechts gehört nicht zu dem
vergleichsweise engen Zimmer der Briefleserin, sondern eindeutig zu einer
anderen, dem Betrachter wesentlich näheren Bildebene. Er ist mittels zwölf
kleiner Ringe an einer Messingstange aufgehängt. Scheinbar soeben zur Seite
gezogen, gibt dieser Vorhang – das einzige Trompe-l’œil in Vermeers erhaltenem
Werk – nun dem Betrachter den Blick auf eine Szene frei, die ihm sonst
verborgen ist. Die in sich abgeschlossene Szene mit der bewegungslos
verharrenden, in sich gekehrten jungen Frau wirkt wie ein erlesenes Stillleben,
dessen Kostbarkeit durch diesen Trompe-l’œil-Vorhang noch gesteigert wird.
Die
Spiegelung der jungen Frau in der Fensterscheibe ermöglicht dem Betrachter einen
indirekten Blick auf ihr ansonsten nur im Profil sichtbares Antlitz. Doch weder
Haltung und Kopfneigung des Mädchens noch Haartracht und Halsausschnitt stimmen
mit dem Spiegelbild genau überein. Strahlendiagnostische Untersuchungen haben
gezeigt, dass Vermeer die Figur der Briefleserin in einer ersten Fassung ein
wenig kleiner und weiter in Rückenansicht gedreht angelegt hatte. Als er die
Position des Mädchens nachträglich veränderte, hat er offensichtlich darauf
verzichtet, das Spieglbild im Fensterglas ebenfalls zu korrigieren.
Jan Vermeer: Stehende Virginalspielerin (um 1670-72); London, National Gallery (für die Großansicht einfach anklicken) |
Seit 1979 weiß man, dass an der Wand hinter der Briefleserin ursprünglich auch ein großformatiges Gemälde hing, das
einen stehenden Cupido zeigt. Damals wurde vermutet, Vermeer habe den Liebesgott in einem späteren Arbeitsschritt selbst wieder übermalt, weil er ihn als störend empfand. Doch heute steht fest, dass der Cupido erst nach 1700 aus der Komposition getilgt wurde: Bei den 2017 begonnenen gründlichen Restaurierungsmaßnahmen zeigte sich, dass unter der später aufgebrachten Deckschicht, die den durchs offene Fenster einfallenden Lichtschein auf der kahlen Wand simuliert, der originale Firnis Vermeers erhalten ist. Den trug der Meister nur auf fertige Gemälde auf. Unter der Firnis aber reckt sich der Cupido empor ... Damit werden die obere und die untere Bildhälfte jeweils von einer der beiden Figuren dominiert, denn die nackte, dralle Gestalt des Liebesgottes erreicht beinahe die Größe der hinter dem Tisch sichtbaren Dreiviertelfigur des Mädchens.
Das restaurierte Gemälde mit wiederentdecktem Bild im Bild |
Jan Vermeer: Christus bei Maria und Martha (1654/55); Edinburgh, National Gallery of Scotland |
Vermeer hat in den ersten Jahren seines
Schaffens eine Reihe mehrfiguriger Szenen gemalt, so z. B. Bei der Kupplerin
oder Christus bei Maria und Martha. Dann aber wendete er sich der Darstellung
einer einzelnen Mädchenfigur in ihrer häuslichen Umgebung zu. In diesen Bildern
wird auf jegliche Interaktion verzichtet; die Szenen sind „geprägt von völliger
Vereinzelung, Verinnerlichung und Stille“ (Neidhardt 2010, S. 71). Die Briefleserin
in Dresden gehört zu Vermeers frühen Interieurbildern aus den Jahren 1657 bis
1659, in denen er sich darauf konzentriert, einen konkreten Innenraum wiederzugeben.
So taucht das charakteristische Fenster mit der Bleiverglasung und dem
gekehlten oberen Gewände sowohl in dem Gemälde Soldat und lachendes Mädchen
als auch im Milchmädchen auf.
Jan Vermeer: Das Milchmädchen (um 1657-58); Amsterdam, Rijksmuseum (für die Großansicht einfach anklicken) |
Vermeer zeigt eine junge Frau beim Lesen eines
Briefes – eine Beschäftigung von großer Privatheit. Die eigentliche Handlung im
Bild ist allerdings für den Betrachter nicht sichtbar, sie vollzieht sich im Inneren der
Briefleserin. Wir werden Augenzeuge eines intimen, konzentrierten Geschehens,
zu dem uns der Zugang verwehrt ist. Und Vermeer gibt uns auch keine Möglichkeit,
den Inhalt der Zeilen durch Gestik oder Mimik des Mädchens zu erahnen – wir wissen nicht, ob der Brief gute oder schlechte Nachrichten enthält. Dass es dennoch um Liebe geht, verrät, wie ich meine, die Aufmerksamkeit, mit der sich das Mädchen diesem Brief zuwendet. Dabei entspricht die junge Frau in ihrem zweiteiligen schwarz-gelben Kleid und mit ihrer raffinierten Frisur, ihrer offensichtlichen Bildung und feinen Zurückhaltung äußerlich ganz dem Frauenideal, „das in den besseren Kreisen der holländischen Gesellschaft seit Mitte des 17. Jahrhunderts als Maßstab galt“
(Neidhardt 2021, S. 180). In exakt dem gleichen Kleid und zur selben Zeit malte Vermeer eine weitere junge Frau, die er in eine vergleichbare Zimmerecke, aber in einen ganz anderen inhaltlichen Zusammenhang setzte: Das kopftuchtragende Mädchen mit dem Weinglas in dem Bild Soldat und lachendes Mädchen ist in seiner offenen Körpersprache direkt auf sein männliches Gegenüber bezogen – eine Situation, die derjenigen der brieflesenden Frau im Dresdner Gemälde unverkennbar entgegengesetzt ist.
Jan Vermeer: Soldat und lachendes Mädchen (um 1657/60); New York, The Frick Collection |
Jan Vermeer: Briefleserin in Blau (um 1662/1663); Amsterdam, Rijksmuseum |
Literaturhinweise
Alpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung.
Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. DuMont Buchverlag, Köln 1985, S.
321-343;
Arasse, Daniel: Vermeers Ambition. Verlag der
Kunst, Basel/Dresden/Berlin 1996, S. 126-133;
Büttner, Nils: Vermeer. Verlag C.H. Beck, München
2010, S. 43-51;
Hammer-Tugendhat, Daniela: Das Sichtbare und das
Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Böhlau Verlag,
Köln/Weimar/Wien 2009;
Neidhardt, Uta: „Brieflesendes Mädchen am
offenen Fenster“. Ein begabter junger Maler orientiert sich. In: Uta Neidhardt
(Hrsg.), Der frühe Vermeer. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2010, S. 66-81;
Neidhardt, Uta: Zusammenspiel
von Kunst und Leben.Vermeers Brieflesendes
Mädchen am offenen Fenster in neuer Gestalt. In Stephan Koja u.a. (Hrsg.),
Johannes Vermeer. Vom Innehalten. Sandstein Verlag. Dresden 2021, S. 165- 200;
Vergara, Lisa: Women, Letters, Artistic Beauty: Vermeer’s Theme and Variations. In: Peter C. Sutton u.a. (Hrsg.), Love Letters. Dutch Genre Paintings in the Age of Vermeer. Bruce Museum/National Gallery of Ireland 2003, S. 50-62.
Vergara, Lisa: Women, Letters, Artistic Beauty: Vermeer’s Theme and Variations. In: Peter C. Sutton u.a. (Hrsg.), Love Letters. Dutch Genre Paintings in the Age of Vermeer. Bruce Museum/National Gallery of Ireland 2003, S. 50-62.
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