Montag, 13. Juni 2016

Das Porträt eines Ärmels – Raffaels Bildnis der „Donna Velata“


Raffael: Donna Velata (um 1514/15); Florenz, Palazzo Pitti
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Raffaels berühmtes Bildnis der Donna Velata, um 1514/15 entstanden, verdankt seinen Namen dem langen, eleganten Schleier der dargestellten Dame (ital. velato = verschleiert). Die in Dreiviertelansicht präsentierte Halbfigur ist in ein kostbares Gewand aus silbergrauer Seide gekleidet; darunter trägt sie eine hellere, sorgfältig plissierte Bluse aus leichtem Leinen, die sich um den Ausschnitt herum kräuselt. Der Schwung des nah an den Betrachter herangerückten linken Ärmels ist geradezu dramatisch gestaltet und zieht sogleich alle Aufmerksamkeit auf sich. Die luxuriöse Stofffülle betört nicht nur durch ihre warmen Farbtöne, sondern auch durch die Pracht, mit der sie sich bauscht und fältelt. Raffael inszeniert Kleidung hier so glanzvoll, dass man auch vom „Porträt eines Ärmels“ gesprochen hat.
Ebenso wie die dezenten Falten des elfenbeinfarbenen Schleiers bilden die ebenmäßigen Gesichtszüge der Porträtierten einen deutlichen Kontrast zu dem opulent wogenden Puffärmel. Die Dame trägt außerdem ein goldenes Armband mit eingefassten Edelsteinen und eine Halskette, offenbar aus Bernstein oder Karneol. Beide Schmuckstücke erinnern an antik-römisches Geschmeide. Ihr Haarschmuck, je ein viereckig geschliffener Rubin und Saphir mit einem Perlenanhänger, wirkt eher zeitgenössisch. Ob der Schleier darauf verweist, dass es sich bei der Dargestellten, der damaligen Kleiderordnung zufolge, um eine verheiratete Frau und Mutter handelt, ist umstritten.
Während die linke Hand der jungen Frau von den Bildrändern angeschnitten wird, ruht ihre Rechte, teilweise vom Schleier verdeckt, auf der Brust. Dabei schiebt sich ihr Zeigefinger in den Ausschnitt der Bluse, als deute er auf das Herz oder halte das Kleid zusammen, das leicht verrutscht zu sein scheint. Konrad Oberhuber interpretiert die Geste der rechten Hand als die „einer Braut, einer Verlobten oder einer treuen Ehegattin“ (Oberhuber 1999, S. 199). In deutlichem Gegensatz dazu sieht Antonio Forcellini in dem Bildnis „nichts anderes als die Projektion männlicher Phantasien: der Schleier, der vom Kopf rutscht, der Ärmel, der die Schulter herabgleitet, das an der Brust aufgeknöpfte Kleid (...) Raffael entführt den Betrachter in das Schlafzimmer einer Frau, die im Begriff ist, sich auszuziehen“ (Forcellino 2008, S. 228). So wundert es auch nicht, dass er den prominent dargebotenen linken Ärmel als „Sinnbild der Weiblichkeit“ bzw. unmissverständlich erotisch deutet: „Die tiefen, gebauschten Falten folgen dicht aufeinander und lassen einen hellen Schimmer erkennen, sodass Hohlräume entstehen, die insbesondere mit der breiten, goldumsäumten Öffnung an die Vulva gemahnen“ (Forcellino 2006, S. 226).
Leonardo da Vinci: Mona Lisa (1503-1506); Paris, Louvre
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Die Haltung der Donna Velata greift auf Leonardo da Vincis berühmte Mona Lisa zurück (siehe meinen Post „La Gioconda“), verzichtet aber dem Vorbild gegenüber darauf, den die Figur umgebenden Raum genauer zu beschreiben. Es ist vermutet worden, dass es sich bei der Donna Velata um das gleiche Modell handelt wie bei Raffaels ebenfalls berühmtem Porträt La Fornarina (siehe meinen Post „Raffaels schöne Bäckerstochter“), das um 1518/19 entstanden sein dürfte. Die beiden Frauen sind in beinahe identischer Pose dargestellt, beide tragen die gleiche Frisur und ähnlichen Haarschmuck an exakt derselben Stelle. In der Gegenüberstellung wirken sie insgesamt wie „polarisierende Pendantstücke“ (Beyer 2002, S. 144): die eine extravagant verhüllt, die andere ihre sinnliche Nacktheit darbietend. Während die Donna Velata ihren linken Ärmel wie eine Barriere vor den Betrachter schiebt, hat La Fornarina ihre linke Hand mit gespreizten Fingern lasziv in den Schoß gelegt. „Scheint jene mit der rechten Hand ihr Gewand zu schließen, hebt diese damit die nackte Brust leicht an und präsentiert sie dem Betrachter“ (Beyer 2002, S. 144).
Raffael: La Fornarina (um 1518/20); Rom, Galleria Nazionale dArte Antica
Die Donna Velata weist darüber hinaus auch große Ähnlichkeit auf mit der Sixtinischen Madonna, der Madonna della Sedia, der Madonna Aldobrandini sowie einer Sibylle in Santa Maria della Pace (Rom). Handelt es sich in allen Fällen um das gleiche Modell, eine Geliebte Raffaels, wie der Künstlerbiograf Giorgio Vasari behauptet? Oder sind diese Frauen nichts anderes als Variationen von Raffaels
Raffael: Sixtinische Madonna (1512/13); Dresden, Gemäldegalerie
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weiblichem Schönheitsideal? Wie zu erwarten, gehen die Meinungen der Kunsthistoriker hier auseinander. Antonio Forcellino jedenfalls meint, aufgrund der so unterschiedlichen linken Ohrläppchen ausschließen zu können, dass es sich bei der Donna Velata und La Fornarina um das gleiche Modell handelt ... Mit größerer 

Raffael: Porträt des Baldassare Castiglione (1514/1515); Paris, Louvre
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Sicherheit lässt sich immerhin sagen, dass die reduzierte Farbpalette die Donna Velata zeitlich in die Nähe von Raffaels Porträt des Baldassare Castiglione rückt, das um 1514/15 datiert wird.

Literaturhinweise
Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei. Hirmer Verlag, München 2002, S. 144;
Forcellino, Antonio: Raffael. Biographie. Siedler Verlag, München 2008, S. 224-229;
Oberhuber, Konrad: Raffael. Das malerische Werk. Prestel Verlag, München/London/New York 1999, S. 199;
Plazzotta, Carol: Donna Velata. In: Hugo Chapman u.a. (Hrsg.): Raffael. Von Urbino nach Rom. Belser Verlag, Stuttgart 2004, S. 278;
Talvacchia, Bette: Raffael. Phaidon Verlag, Berlin 2007, S. 122/128.

(zuletzt bearbeitet am 10. November 2024)

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