Donnerstag, 23. Juni 2016

Vom Christus victor zum Christus patiens – das ottonische Gerokreuz im Kölner Dom


Gerokreuz (Ende des 10. Jahrhunderts); Köln, Dom
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Der Kölner Dom ist immer wieder einen Besuch wert – nicht nur wegen seiner gotischen Fassade. Auch innen birgt er eine Fülle von Kunstschätzen wie z. B. das 2007 eingeweihte Glasfenster von Gerhard Richter. Eine andere Kostbarkeit ist das sogenannte Gerokreuz: Es gilt als das älteste erhaltene Großkruzifix im Europa nördlich der Alpen. Das 2,88 m hohe Eichenholzkreuz ist in ottonischer Zeit am Ende des 10. Jahrhunderts entstanden und wird als Stiftung des Kölner Erzbischofs Gero (Amtszeit 969–976) betrachtet.
Die lebensgroße Figur Christi (187 cm hoch) hängt an einem überbreiten, aus flachen Brettern statt Balken bestehenden Kreuz. Es hinterfängt den Körper fast vollständig und bildet mit seiner Farbe einen regelrechten Goldgrund für die Figur. Die Vergoldung stammt allerdings aus dem Jahr 1900; möglicherweise war die Vorderseite einst mit einem Goldblech beschlagen, worauf zahlreiche keine Nagellöcher auf den Kreuzbalken hinweisen. Auch der große, mit Halbedelsteinen besetzte Nimbus wurde erst nachträglich, wahrscheinlich im 12. oder 13. Jahrhundert hinzugefügt. Der das Kreuz umgebende Altar und die goldene Mandorla mit alternierend geformten Strahlen sind wiederum eine Zutat aus dem 17. Jahrhundert.
Wir sehen einen bereits toten Christus. Der schwere Körper hängt an den durchbohrten Händen und zieht die Arme nach unten; die Füße sind nebeneinander auf das keilförmige, nach vorne steil abgeschrägte Suppedaneum genagelt (ein stützendes Fußbrett, das den Todeskampf bei einer Kreuzigung verlängert), sodass der Leichnam mit abknickenden Beinen zur Seite sackt. Das Haupt neigt sich zur entgegengesetzten Seite und ist nach vorne auf die Brust gesunken. Die schmerzhaft herabgezogenen Mundwinkel verdeutlichen das überstandene Leiden. Der Oberkörper liegt nur an Armen und Schultern eng am Kreuz an, während Unterkörper und Oberschenkel sich bis zu Knien immer weiter davon ablösen. Erst die fast parallelen Unterschenkel führen wieder zum Kreuz zurück. „Dem gegensätzlichen seitlichen Ausweichen – Kopf nach rechts, Oberkörper nach links mit der größten Ausdehnung in Höhe der linken Hüfte, Unterschenkel nach links – entspricht ein solches nach der Tiefe: vorstoßendes Haupt, zurückliegender Thorax, vorgwölbter Bauch und zurückweichende Unterschenkel. Es herrscht keine Symmetrie mehr, sondern Ponderation“ (Wesenberg 1972, S. 11).
Die schmalen Hände sind flach ans Kreuz geheftet, die Daumen liegen vor den Handflächen und wölben sich über die Nagelwunden. Weil der schwere Rumpf an den Armen hängt, sind diese fast glatt gespannt, ohne die Gelenke hervorzuheben. Erst ab den Schultern zeigen sich einige Muskeln, die sich bis zur stark vorgewölbten Brust ziehen. „Auch wenn anatomisch nicht ganz korrekt dargestellt, so wird doch unmißverständlich gezeigt, daß die gedehnten Brustmuskeln einen Großteil des Körpergewichts tragen müssen“ (Klein 2002, S. 44). Unterhalb des Rippenbogens schiebt sich der kreisrunde Bauch weit nach vorne. Das Lendentuch bedeckt die Oberschenkel vollständig; es ist außen vergoldet und an den Innenseiten rot gestrichen. An den Knien und Unterschenkeln lassen sich Knochen, Gelenke und Muskeln deutlich erkennen. Am linken Fuß fehlen durch Bruch und/oder Verwitterung zwei Zehen, am rechten Fuß die große Zehe.
Ursprünglich blickte der Gläubige von unten direkt in das Gesicht des toten Christus
Im alten Kölner Dom war das Kruzifix sicher höher als heute angebracht, sodass der Betrachter von unten direkt in das Gesicht Christi blickte. Das Antlitz des Gekreuzigten zeigt eine gerade Nase, deren Rücken in die leicht gebogenen Brauen übergeht, darunter geschlossene, aus ihren Höhlen mandelförmig hervortretende Augen über kaum eingefallenen Wangen. Die Unterlippe des breiten Mundes tritt, durch eine tiefe Einkerbung voneinander abgesetzt, fast so weit wie das Kinn hervor, die untere Gesichtshälfte umfängt ein eng anliegender, sehr kurzer Bart. Das Haupthaar hingegen fällt lang über der hohen Stirn in dicken, von einem Mittelscheitel ausgehenden Strähnen bis über die Schultern, wo es in mehreren großen Locken ausläuft. „Dabei liegt es so eng am Kopf an, daß dessen zylindrische Form sichtbar bleibt“ (Klein 2002, S. 45).
Einst befand sich das Gerokreuz im Langhaus des Kölner Doms,
jetzt ist es zusammen mit dem barocken Altar an der Ostwand der Kreuzkapelle angebracht
Ältere großplastische Kruzifixe aus karolingischer Zeit sind zwar in Schriftquellen bezeugt, aber nicht erhalten. Soweit sich jedoch erschließen lässt, zeigten sie den Sohn Gottes als einen über den Tod triumphierenden, aufrecht stehenden, frontal dargebotenen, unbewegt-symmetrischen Christus victor. Die Darstellung des sieghaften, über allen Schmerz erhabenen Gekreuzigten reicht bis in die Frühzeit der Kreuzigungsbilder zurück. Das Gerokreuz markiert hier eine Wende in der mittelalterlichen Kunst und ihrer Monumentalskulptur: Christus wird nach Jesaja 53 als der leidende Gottesknecht präsentiert, als Christus patiens, „um unsrer Sünde zerschlagen“ (Jesaja 53,5). Die Betonung der Passion Jesu lenkt den Blick auf sein Menschsein und hat damit auch großes theologisches Gewicht: In der Leiblichkeit des gemarterten, am Kreuz sterbenden Erlösers spiegelt sich die Lehre von den „zwei Naturen“ Christi – er ist wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich. Darüber hinaus erfüllte das Gerokreuz im Kölner Dom auch eine wichtige liturgische Funktion: „Ohne die Spuren der erlittenen Passion in drastischer Darstellung zu zeigen, versinnbildlicht der Gerokruzifixus den Höhepunkt der christlichen Heilsgeschichte, den Erlösertod am Kreuz, der sich in dem auf dem Altar vollzogenen Messopfer täglich erneuert“ (Beer 2005, S. 178).
Bernwardsäule (um 1020); Hildesheim, Dom
Mit großer Wahrscheinlichkeit stand das Gerokreuz ursprünglich auf einem Sockel oder einer Kreuzsäule, wie sie sich im Essener Dom und in Hildesheim erhalten haben. Das bekannteste Beispiel dieser Art ist die große Bronzesäule Bischof Bernwards aus St. Michael in Hildesheim, die heute im Hildesheimer Dom zu sehen ist. Ihr gesamter Säulenschaft ist in Anlehnung an antike Siegessäulen mit einem spiralförmig ansteigenden, figurenreichen christologischen Relieffries geschmückt. Das ursprünglich bekrönende Bronzekreuz der um 1020 geschaffenen Bernwardsäule ist nicht erhalten.
Bernwardkruzifix (nach 1007 und vor 1022); Hildesheim, Dommuseum
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Dem Gerokreuz am nächsten steht das etwa vierzig Jahre später entstandene Silberkreuz des Bischofs Bernward. Hier wurde die Figur des sterbenden Christus mit seinem über die rechte Schulter herabgesunkenen Kopf, dem verzogenen Brustkorb und dem sich vorwölbenden Bauch als Kleinkunstwerk gestaltet; der scharfkantige Rahmen steigert noch die Bewegtheit des Körpers.

Literaturhinweise
Beer, Manuela: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Schnell & Steiner, Regensburg 2005, S. 177-180;
Beer, Manuela: Ottonische und frühsalische Monumentalskulptur. Entwicklung, Gestalt und Funktion von Holzbildwerken des 10. und frühen 11. Jahrhunderts. In: Klaus Gereon Beuckers u.a. (Hrsg.), Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2006, S. 129-152; 
Binding, Günther: Noch einmal zur Datierung des sogenannten Gero-Kreuzes im Kölner Dom. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 64 (2003), S. 321-327;
Haussherr, Reiner: Der tote Christus am Kreuz. Zur Ikonographie des Gerokreuzes. Diss., Bonn 1963:
Imdahl, Max: Das Gerokreuz im Kölner Dom. In: Max Imdahl, Gesammelte Schriften. Band 2. Zur Kunst der Tradition. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 104-146 (zuerst 1964);
Kahsnitz, Rainer: Das Bild des toten Heilands am Kreuz in ottonischer Zeit. Künstlerische und theologische Probleme plastischer Kruzifixe. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 66 (2012), S. 50-101;
Klein, Bruno: Das Gerokreuz – Revolution und Grenzen figürlicher Mimesis im 10. Jahrhundert. In: Bruno Klein u.a. (Hrsg.), Nobilis arte manus. Festschrift zum 70. Geburtstag von Antje Middeldorf Kosegarten. Dresden/Kassel 2002, S. 43-60.
Reudenbach, Bruno (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Band 1: Karolingische und Ottonische Kunst. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, S. 504-506 und 515;
Wesenberg, Rudolf: Frühe mittelalterliche Bildwerke. Die Schulen rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung. Verlag L. Schwann, Düsseldorf 1972, S. 11-15.
Sehr empfehlenswert ist auch der ausgezeichnete Wikipedia-Artikel zum Gerokreuz: https://de.wikipedia.org/wiki/Gerokreuz.

(zuletzt bearbeitet am 8. Juli 2023)

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