Sonntag, 6. Mai 2012

Das Jahrmarktsfest von Golgatha – Pieter Bruegels „Kreuztragung“


Pieter Bruegel d.Ä.: Kreuztragung (1564); Wien, Kunsthistorisches Museum (für die Großansicht einfach anklicken)
Pieter Bruegel d.Ä. (1525/30–1569), der bedeutendste niederländische Maler des 16. Jahrhunderts, hat 1564 ein Bild gemalt, das von einem wahren Menschengewimmel bevölkert wird. Worum genau es auf diesem Gemälde geht, ist auf den ersten Blick gar nicht so leicht zu erkennen. Die eigentliche Hauptfigur des Bildes muss inmitten der unübersichtlichen Volksmenge gesucht werden: Christus, in einfachem Gewand und mit Dornenkrone auf dem Haupt, bricht unter der Last seines Kreuzes zusammen. Bruegel nutzte das Zentrum seiner Bilder öfter, um einem Detail oder bestimmten Figuren durch diesen herausgehobenen Ort besonderes Gewicht zu verleihen. Dennoch ist es alles andere als einfach, den geschundenen Erlöser ausfindig zu machen: „Die vielfarbige Scheckigkeit der öden Landschaft mit ihren locker verteilten Wiesen-, Erd- und Schattenflächen hilft dem Betrachter zur Orientierung so wenig wie die Desorganisation der Figurengruppen, die in Ermangelung einer sichtbaren Straßenführung querfeldein über den Bildgrund verstreut ihren Weg zu suchen scheinen“ (Brückle/Müller 2000, S. 608).
Vorne links zwingen Henkersknechte den sich sträubenden Simon von Kyrene, das Kreuz für Christus zu tragen. Seine Frau steht ihm energisch zur Seite; zu ihren Füßen hat sie einen großen Krug und ein an den Beinen gebundenes Lamm abgelegt, um eingreifen zu können. Allerdings haben vermutlich zwei Plünderer, die in unterschiedliche Richtungen mit weißen Säcken davonrennen, die Situation bereits schamlos ausgenutzt. Menschen treten zurück, und ein Berittener macht den Weg frei, damit der Widerspenstige zu Jesus geschleift werden kann. Für alle Umstehenden ist diese Streitszene interessanter als der gestürzte Christus. Durch das Spalier von Schaulustigen und Soldaten schafft es der Maler trotz jahrmarktartigen Andrangs, die beiden Figurengruppen aufeinander zu beziehen.
Im Schnittpunkt der Diagonalen
Bruegels Bild zeigt eine weite landschaftliche Fläche, die sich in einem Bogen von der Stadt links im Hintergrund um einen Felsberg mit Windmühle herum nach rechts zur Gerichtsstätte in der Ferne erstreckt. Golgatha, der Hinrichtungsort, ist hier nicht als Berg dargestellt, sondern als Wiese am Rande der nächsten Stadt, die rechts hinten am Horizont liegt. Am rechten Bildrand weist ein Radgalgen, unter dem ein Pferdeschädel liegt, darauf hin, welches Ziel der Menschenzug in der Bildmitte ansteuert: Die Rundung des Wagenrades entspricht dem Menschenkreis, der sich bereits in Erwartung der Hinrichtung im Hintergrund gebildet hat. Die ersten beiden Kreuze sind schon errichtet, für das mittlere wird gerade ein Loch gegraben.
Ein Spektakel, das keiner verpassen will
Für die Volksmenge – insgesamt mehr als fünfhundert Figuren sind dargestellt – handelt es sich um ein Spektakel, das man nicht verpassen sollte. Hausierer, Tagediebe, vergnügte Hirten, Kinder und Hunde sind mit auf dem Weg, geradezu festtäglich gestimmt. Zu gaffen gibt es überall etwas. Die kleinen Episoden am Rand des Aufmarsches vervollständigen das allgemeine Schauspiel zum herrlichsten Zeitvertreib und lenken die Schaulustigen von Jesus ab. Bauern und Händler bringen ihre Waren in Körben oder Säcken in Richtung Stadt; ein Mann nimmt ein Kind auf die Schultern genommen, um es durch eine große Wasserlache zu tragen; ein anderer rennt seiner Mütze hinterher, die ihm der Wind vom Kopf geweht hat; Kinder schlittern auf einer zugefrorenen Pfütze am Fuß des Windmühlenfelsens – es entsteht der Eindruck eines wilden Durcheinanders. Dennoch ist die Bewegungsrichtung der Menschen erkennbar, vor allem durch die Abfolge der Soldaten, die in ihren roten Wämsen von links nach rechts durch den  Mittelgrund gleichsam den „roten Faden“ des Zuges bilden.
Der Himmel im oberen Viertel des Bildes ist am linken Bildrand noch licht und blau, etwa in der Mitte beginnen sich Wolken zu bilden. Zuerst sind sie noch weiß, auf der rechten Seite haben sich dann bedrohlich dunkle Wolken zusammengezogen. Sie deuten die Finsternis an, die nach den Evangelien um die Mittagsstunde einsetzen wird (so etwa Matthäus 27,45). Raben als Todesboten gleiten über den Himmel. Zusammen mit der beginnenden Dunkelheit, den Gewitterwolken und dem bald einsetzenden Sturm in der rechten oberen Bildhälfte künden sie von einem Unheil, dass sich in den insgesamt neunzehn Galgen in diesem Bereich konkretisiert.
Im Vordergrund eine Beweinung Christi
Im Vordergrund rechts hat der Maler noch eine Figurengruppe eingefügt, die sonst eigentlich in einem eigenständigen Bild dargestellt wird: eine „Beweinung Christi“, die von der Chronologie her eigentlich nach der Kreuzigung kommen müsste. Maria sitzt, umgeben von Maria Magdalena und anderen Frauen, auf einem Plateau über dem weiten Feld der Kreuztragung. Der Ort wirkt wie eine Bühne für die Figuren, die eindringlich auf die Todesstunde Jesu verweisen. Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, stützt Maria vorsichtig am Arm. Ihre Augen sind geschlossen, die Wangen fahl und eingefallen. Die Arme hängen kraftlos über ihren linken Oberschenkel, wo sie die Hände faltet. Das höhere Niveau und der auffällige Größenunterschied gegenüber den viel kleineren Figuren im Bildmittelgrund hebt die Trauernden deutlich ab von einer Welt, die blind jeder Sensation nachhetzt.
Die Gruppe der Trauernden  ist „gotisiert“ dargestellt, also in einer mittelalterlichen Figurensprache gemalt, als wäre sie der religiösen Vorstellungswelt des 15. Jahrhunderts entnommen. Sie sind – quasi als Bild im Bild – zitierte Vergangenheit und damit Anklage gegen die Glaubensvergessenheit der gegenwärtigen Zeit, die von der in zeitgenössischer Kleidung dargestellten Menschenmenge verkörpert wird. Maria, Johannes und die anderen weinenden Frauen wissen offenbar als Einzige, was dort im Hintergrund tatsächlich vor sich geht. Nirgendwo sonst in Bruegels Bild sind tiefgehende Anteilnahme oder das Bewusstsein von der welt- und heilsgeschichtlichen Bedeutung dieser Kreuztragung erkennbar. Und gerade diese Gegenüberstellung macht deutlich, wie unangemessen die Fröhlichkeit derer ist, die lärmend zum Richtkreis stürmen. Damit wird der weltliche Charakter des dargestellten Menschenzuges sehr eindringlich betont. 
Fast schon kafkaesk: die Mühle auf einem steilen Felsen
Julia Gerth hat sich eingehender mit dem hoch aufragenden Felsen und der Mühle darauf beschäftigt. Wenn man das Bild zum ersten Mal betrachtet, fallen sie sofort ins Auge – zum einen ist die Felsformation für die ansonsten gleichförmige und eher sanfte Landschaft untypisch, zum anderen muss man den Standort der Mühle nicht nur als unpraktisch, sondern geradezu als absurd bezeichnen. Bei genauerem Hinsehen bemerkt man, dass der Fels von Menschen bearbeitet wurde. Im oberen Drittel ist ein in den Stein gehauener Durchgang zu erkennen, der durch einen Zaun gesichert wird. Noch weiter oben sind zwei kleine, fensterähnliche Öffnungen zu sehen. Folglich müsste sich im Innern eine Art von Treppenkonstruktion befinden. Was auf den ersten Blick als ein stabiler, von der Natur gebildeter Fels erscheint, wäre also von Menschenhand ausgehöhlt worden.
Die Plattform, auf der die Windmühle steht, erinnert an ein überdimensionales Rad. „Das Motiv des Rades oder Kreises findet sich an verschiedenen Stellen im Bild und ist somit prägende Form der Komposition und Bedeutungsträger zugleich“ (Gerth 2010, S. 177). Weitere Kreise sind das bereits erwähnte Rad des Galgens am äußersten rechten Bildrand und das Rund der Schaulustigen um die Hinrichtungsstätte sowie die Anordnung der Reiter rechts neben dem Mühlenfelsen. Es ist aber vor allem die Kreisbewegung der gesamten Komposition, die Julia Gerth besonders ins Auge fällt: „Der Windmühlen-Fels markiert gleichsam der Nabe eines Rades das Zentrum dieses grundlegenden Bewegungsmusters. Denn denkt man die auffällige bogenförmige Schwenkbewegung des Menschenzuges von links nach rechts zu Ende, so schließt sie sich zu einem Kreis rund um die Windmühle“ (Gerth 2010, S. 177).  
Das Treiben der Menschen ändert sich durch die Jahrhunderte nicht wesentlich, es wiederholt sich immerzu, scheint der Maler uns sagen zu wollen. Sie haben nur ihre Beschäftigungen, ihren Zeitvertreib, ihre Vergnügungen im Sinn, die heute wie morgen die gleichen sind. Wie damals, zu neutestamentlicher Zeit, erkennen die Menschen auch heute nicht, wie nah ihnen das Heil ist; sie beachten es nicht und haben nur Augen für das angekündigte Spektakel. Das eigentlich Bedeutsame nehmen die Menschen nicht wahr. Nur die compassio-Gruppe auf ihrem erhöhten Plateau ist diesem Kreislauf entzogen. „Sie befindet sich außerhalb des »Mühlrades«, das durch Landschaft und Bewegung gebildet wird und das jene Menschen, die für das heilsgeschichtlich Entscheidende blind sind, zermalmen wird“ (Gerth 2010, S. 178). Aber auch der Blick des Betrachters verharrt nicht auf dem gestürzten Erlöser. Denn er folgt beinahe unweigerlich dem Zug der Soldaten nach Golgatha, und von einer Szene zur nächsten fortschreitend, lässt er Christus ebenfalls allein. Bruegels Kreuztragung zeigt weniger die körperlichen Leiden Jesu, erkennbar etwa durch Blutstropfen am Dornenkranz und Geißelspuren, als vielmehr seine Einsamkeit inmitten des Menschengewühls, also die seelische Qual, von allen verlassen zu sein. Julia Gerth erkennt darin die Absicht des Malers, im Betrachter eine über die compassio hinausgehende Gefühlsqualität zu wecken, nämlich die compunctio: „Während compassio im herkömmlichen Sinne bedeutet, sich Christus zuzuwenden, um an seinem Leiden teilzuhaben und seinen Tod zu betrauern, bedeutet compunctio, Reue darüber zu empfinden, sich von Christus abgewendet, ihn alleine gelassen und ihm durch die eigenen Sünden Leid zugefügt zu haben“ (Gerth 2010, S. 181).
Auch die beiden Schächer sind mit dabei, anachronistisch von einem Mönch begleitet
Die mit Jesus zu Tode verurteilten Verbrecher werden vor ihm in einem Holzkarren zur Richtstätte gefahren. Sie ernten neugierige und zum Teil verängstigte Blicke (und damit mehr Aufmerksamkeit als der Erlöser). Ein Mönch begleitet einen der Todeskandidaten, der mit einem Kreuz in beiden Händen betet. Spätestens bei dieser Szene, die es doch erst mit dem Beginn der christlichen Kirche geben kann, wird deutlich, dass Bruegel das biblische Geschehen aktualisiert: Er fordert den Betrachter nicht nur heraus, die eigene Gleichgültigkeit dem Gekreuzigten gegenüber aufrichtig zu bereuen; er soll vor allem neu mit der Nachfolge Christi ernst machen, und zwar nicht nur in den Stunden der Andacht, sondern auch in seinem täglichen Leben. 


Literaturhinweise
Brückle, Wolfgang/Müller, Jürgen: Der innere Christus. Zur mnemonischen Tradition der Passionsandacht und einer mystischen Vergegnwärtigung des Gekreuzigten bei Pieter Bruegel d.Ä. In: Jörg Jochen Bern (Hrsg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Böhlau Verlag, Wien 2000, S. 605-638;
Gerth, Julia: Wirklichkeit und Wahrnehmung. Hans Memlings Turiner Passion und die Bildgruppe der Passionspanoramen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2010, S. 171-182;
Müller, Jürgen: Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d.Ä. Wilhelm Fink Verlag, München 199, S. 136-142;
Vöhringer, Christian: Pieter Bruegel 1525/1530–1569. Könemann Verlag, Köln 1999, S. 70-73.

(zuletzt bearbeitet am 6. März 2021)

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