Giambologna: Raub der Sabinerin (1579–1582); Florenz, Loggia dei Lanzi (für die Großanicht einfach anklicken) |
Mit Fug und Recht kann man Giambolognas
Figurengruppe als Höhepunkt manieristischer Skulptur bezeichnen, denn sie ist
„von allen Seiten gleich schön“, d. h., es gibt keine Hauptansicht. Um die
Mitte des 16. Jahrhunderts wurde in theoretischen Diskussionen immer wieder
gefordert, dass ein vollkommenes plastisches Kunstwerk zahlreiche gleichwertige
Ansichten besitzen müsse. Außerdem ist Giambolognas Raub der Sabinerin die perfekte Umsetzung der figura serpentinata. Als figura serpentinata bezeichnet
man eine sich fließend aufwärts bewegende Gestalt mit einer in sich gedrehten
Körperachse – wobei diese Drehung keineswegs durch die Handlung begründet sein
muss. Für den Bildhauer des Manierismus ist Schönheit „nicht mehr
statisch, sondern dynamisch. Ein schöner Körper ist immer noch ein
wohlproportionierter Körper. Aber die Proportion wird nicht mehr betont,
sondern in der Eleganz der Bewegung aufgelöst“ (Moser 2006). Giambolognas drei Figuren
kreisen nicht nur, sie streben auch nach oben – eine doppelte Bewegung, die den
Betrachter zwingt, seine Skulptur zu umschreiten. Und eben dadurch wird der
Eindruck von Bewegtheit nochmals verstärkt: „Die reale Bewegung des Betrachters
unterstützt die illusionistische Darstellung von Bewegung“ (Schröder 2004, S.
184).
Der Blick des Begehrens ... (für die Großansicht einfach anklicken) |
So zeigt die Ansicht von links, wie die zentrale
Figur des wohlgestalteten jungen Mannes durch ihr Gesäß den unterlegenen Älteren
regelrecht zu Boden drückt. Erst diese Perspektive erklärt dessen
gestauchte Haltung. Während das Antlitz des Älteren von dieser Seite aus gerade
nicht zu sehen ist, geraten die Gesichter der beiden anderen Figuren umso
deutlicher in den Blick: die im Profil erscheinenden Züge des Jünglings, der
mit leicht geöffnetem Mund zum Objekt seiner Begierde aufschaut, sowie die
schmerzerfüllte Miene der Frau, deren Mund wohl zum Schrei geöffnet ist und die
hilfesuchend vom Täter weg nach links außen blickt. „Dabei wird der Hals der
jungen Frau schmerzhaft überstreckt, und ihr ganzer Körper wölbt sich
konvulsivisch wie ein gespannter Bogen von den Fußsohlen bis zur Stirn“
(Schröder 2004, S. 185). Ihr verdrehter Leib weist zudem darauf hin, dass sie
sich mit aller Kraft dem Griff des Mannes entwinden möchte. Gerade der feste
Griff, der sich scheinbar in ihr weiches Fleisch eingräbt, wird von dieser
Seite aus besonders hervorgehoben. Vor allem die Figur des unterlegenen älteren
Mannes leitet den Betrachter durch die Wendung seines Körpers an, die
Skulpturengruppe von dieser Seite gegen den Uhrzeigersinn nach rechts zu
umschreiten.
... und der Griff der Begierde (für die Großansicht einfach anklicken) |
Aus der Vorderansicht wird nun der muskulöse
Körper des Jünglings mit seinem breiten Rücken sichtbar, der die Frau scheinbar
mühelos zu heben vermag. Nur noch ausschnitthaft, doch dafür umso erotischer
inszeniert, erscheint ihr Oberkörper mit der nach vorne gewölbten Brust und dem
dramatisch nach hinten geworfenen Kopf über der Schulter des Mannes. Die Arme
der Frau sind nicht gegen den Aggressor gerichtet, sondern greifen hilfesuchend
ins Leere, wobei ihr linker Arm weit nach oben gestreckt ist und so der
dynamischen Aufwärtsbewegung der gesamten Figurengruppe optisch einen Abschluss
verleiht. In der Vorderansicht wird nun auch die Mimik des unterlegenen Älteren
erkennbar, der voller Furcht und Schrecken nach oben blickt und die linke Hand
schützend vor sein Gesicht hält.
Durch den leicht gedrehten Oberkörper des jungen
Mannes wird der Betrachter angeregt, die Skulpturengruppe weiter nach rechts zu
umrunden. Von dieser Seite aus gerät die Schrittstellung des Jünglings in den
Blick, der über den Älteren hinwegschreitet und mit seinem kräftigen rechten
Arm die Hüfte der Frau umfasst. Zugleich gewinnt hier die Handlung noch an Dramatik,
weil der Oberkörper der jungen Frau bedrohlich über die Schulter des Mannes
hinausragt, sodass die gesamte Figurengruppe ihre Stabilität zu verlieren
droht. „Das erschreckte Gesicht des älteren Mannes erscheint in dieser Hinsicht
nicht nur als Reaktion auf die Macht des Jüngeren, sondern auch auf den möglichen
Sturz der Frau“ (Schröder 2004, S. 186).
Giambologna: Samson erschlägt einen Philister (1561/62); London, Victoria & Albert Museum |
Giambologna: Florenz triumphiert über Pisa (ca. 1575); Florenz, Bargello |
Giambologna führt im Raub der Sabinerin bereits bestehende Skulpturenkonzepte mit zwei
Figuren zusammen. Das eine lässt sich als „Unterjochung“ bezeichnen;
Giambologna hat selbst zwei Beispiele hierfür gestaltet, nämlich die Marmorgruppen Samson erschlägt einen Philister (1561/62) und Florenz triumphiert über
Pisa (ca. 1575; siehe meinen Post „Auftakt der manieristischen Skulptur“). Seine
Bronzestatuetten Herkules und Antäus (1578) sowie Frauenraub (ca. 1580) wiederum
zeigen verschiedene Hebefiguren.
Giambologna: Herkules und Antäus (1578); New York, The Frick Collection |
Giambologna: Frauenraub (ca. 1580); Neapel, Museo di Capodimonte |
Außerdem bezieht Giambologna sich auf die berühmte
antike Skulpturengruppe des Laokoon,
indem er für die Sabinerin und den älteren Mann die Söhne des Laokoon als
Vorbilder nutzt (siehe meinen Post „Das ultimative antike Meisterwerk“). Sie werden aber nicht einfach imitiert, „sondern durch
spiegelbildliche Inversion und dramatische Steigerung für das eigene Werk
adaptiert“ (Schröder 2004, S. 186). Mit der Figur des jungen Mannes griff
Giambologna auf ein weiteres prominentes Bildwerk zurück: den Farnesischen Stier (siehe meinen Post „Drama, Drama, Drama“).
Laokoon-Gruppe; Rom, Vatikanische Museen |
Farnesischer Stier; Neapel, Museo Archeologico Nazionale |
Die Form von Giambolognas Skulpturengruppe ist mit einer Flamme oder einer brennenden Fackel verglichen worden – sie verweise auf das „leidenschaftliche Verlangen“ des Jünglings. Doch bei allem ästhetischen Genuss, den Giambolognas Werk dem Betrachter bietet, gerät leicht aus dem Blick, dass dieser
Raub der Sabinerin eine bevorstehende
Vergewaltigung darstellt. Denn die junge Frau wird dem Griff des Täters nicht
entkommen. Auch die unbestrittene Attraktivität des jungen Mannes dient
letztlich der Verschleierung, weil sie die Betrachterin dazu bewegen soll, sich
„mit der hier dargestellten Form eines gewaltsamen männlichen Begehrens
einverstanden“ zu erklären (Schröder 2004, S. 189). Einen ähnlichen Zweck
erfüllt der im Nachhinein gewählte Titel der Skulptur: Er fungiert als
„verhüllender Blickschutz“ (Schröder 2004, S. 194), da die sexuelle Gewalttat auf
diese Weise durch einen höheren politischen Zweck legitimiert scheint. Denn der
Raub der sabinischen Frauen erfolgte, so der römische Geschichtsschreiber Titus
Livius (Römische Geschichte I,9,1), um den Fortbestand Roms zu sichern, und
konnte so als Tat für das Gemeinwohl des Staates verbrämt werden.
Giambolognas gefeiertes Werk forderte natürlich immer wieder Künstler heraus, sich mit dem Raub der Sabinerin zu messen. Als Erster wäre hier der niederländische Bronzeplastiker Adriaen de Vries (1556–1626) zu nennen: Bei seiner 1621 entstandenen, großformatigen Skulpturengruppe (Höhe 192 cm) ist wie bei Giambologna das dargestellte Thema (Raub einer Sabinerin oder Raub der Proserpina?) letzlich zweitrangig gegenüber der ambitionierten Komposition. Während jedoch Giambolognas pyramidal aufgebaute Figuren so angelegt sind, dass der steil in die Höhe gehaltene Frauenkörper geradezu schwerelos erscheint, veranschaulicht die Bronzegruppe von de Vries weitaus realistischer das Kräftspiele bewegter Körper.
Adriaen de Vries: Raub einer Sabinerin/Raub der Proserpina (1621); Berlin, Bode-Museum |
François Girardon: Raub der Proserpina (1695 vollendet); Parc de Versailles |
Der
französische Bildhauer François Girardon (1628–1715) zitiert in seinem 1677
begonnenen und 1695 vollendeten Raub der
Proserpina nicht nur Gianlorenzo Berninis gleichnamige Skulpturengruppe
(siehe meinen Post „Göttliche Gewalt“), sondern eben auch Giambolognas Figuren. Bei
Girardon schreitet Pluto mit Proserpina in seinen Armen über die am Boden liegende
Nymphe Cyane hinweg. Ovid erzählt im fünften Buch seiner Metamorphosen, dass die Nymphe den Raub Proserpinas an ihrem Weiher
zu verhindern versucht – erfolglos, denn Pluto fährt inmitten des Weihers
zusammen mit Proserpina auf seinem Pferdegespann in die Unterwelt ein.
Ein weiterer französischer Bildhauer, Pierre Puget (1620–1694), wählte ein drittes, ebenfalls berühmtes Frauenraub-Motiv für die künstlerische Auseinandersetzung mit Giambologna: Sein Raub der Helena, zwischen1684 und 1688 entstanden, verknüpft die Momente der Entführung und der Flucht aus Sparta zu einer synchronen Handlung.
Und noch Mitte des 18. Jahrhunderts erweist der italienische Bildhauer Vincenzo Foggini (um 1700–1760) mit seiner Marmorskulptur Samson und die Philister dem bewunderten Vorbild seine Reverenz.
Ein weiterer französischer Bildhauer, Pierre Puget (1620–1694), wählte ein drittes, ebenfalls berühmtes Frauenraub-Motiv für die künstlerische Auseinandersetzung mit Giambologna: Sein Raub der Helena, zwischen1684 und 1688 entstanden, verknüpft die Momente der Entführung und der Flucht aus Sparta zu einer synchronen Handlung.
Pierre Puget: Raub der Helena (1684-1688); Genua, Museo di Sant’Agostino |
Vincenzo Foggini: Samson und die Philister (1749); London, Victoria and Albert Museum |
Literaturhinweise
Beaucamp, Eduard: Der Anti-Michelangelo. Die
artistische Figurenwelt Giambolognas. In: F.A.Z. vom 23. Dezember 1978;
Cole, Michael: Giambologna and the Sculpture with No Name. In: Oxford Art Journal 31 (2008), S. 339-359;
Evan, Yael: The Loggia dei Lanzi. A Showcase of Female Subjugation. In: Woman’s Art Journal 12 (1991), S. 10-14;
Evan, Yael: The Loggia dei Lanzi. A Showcase of Female Subjugation. In: Woman’s Art Journal 12 (1991), S. 10-14;
Kommer, Björn
R. (Hrsg.): Adriaen de Vries. 1556–1626. Augsburgs Glanz –
Europas Ruhm. Umschau Braus Verlagsgesellschaft, Heidelberg 2000, S. 291-292;
Krahn, Volker (Hrsg.): Von allen Seiten schön. Bronzen der Renaissance und des Barock. Edition Braus, Heidelberg 1995, S. 374;
Krahn, Volker (Hrsg.): Von allen Seiten schön. Bronzen der Renaissance und des Barock. Edition Braus, Heidelberg 1995, S. 374;
Moser, Claus: Giambologna. Web: http://www.clausmoser.com/?p=438
(eingestellt am 7. Juni 2006);
Reuter,
Guido: Statue und Zeitlichkeit 1400–1800. Michael Imhof Verlag, Petersberg
2012, S. 90-93;
Schröder, Gerald: Versteinernder Blick und
entflammte Begierde. Giambolognas ,Raub der Sabinerin‘ im Spannungsfeld
poetisch reflektierter Wirkungsästhetik und narrativer Semantik. In: Marburger
Jahrbuch für Kunstwissenschaft 31 (2004), S. 175-203.
(zuletzt bearbeitet am 11. März 2023)
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