Montag, 22. Juni 2015

So harmonisch wie der Kosmos selbst – Filippo Brunelleschis Kirche Santo Spirito in Florenz


Santo Spirito, Florenz; Blick in das Langhaus (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Geburtsstätte der Renaissance-Architektur ist ohne Frage das Florenz des frühen 15. Jahrhunderts – und Filippo Brunelleschi (1377–1446) gilt als ihr eigentlicher Begründer. Sein hohes Ansehen als Architekt erwarb er sich vor allem durch die Wölbung der Domkuppel, die ich anderer Stelle noch vorstellen werde.
1434 erhielt Brunelleschi von einer Gruppe reicher Florentiner Bürger den Auftrag, die Kirche Santo Spirito jenseits des Arno zu erneuern. Begann man auch schon recht bald, die Fundamente in Angriff zu nehmen, so wurde doch erst unmittelbar vor Brunellschis Tod 1466, als die Außenmauern mit ihren Kapellen schon standen, im Innern die erste Säule aufgerichtet. Die Fassade wiederum war erst 1482 fertiggestellt. Sie ist so bescheiden angelegt, dass man kaum vermutet, innen einen der reinsten Renaissance-Räume Italiens anzutreffen.
Am Grundriss von Santo Spirito ist abzulesen, dass die Mittelschiffe der Querhausarme, der Chor und die Vierung aus einander genau gleichenden Quadraten bestehen. Im Mittelschiff des Langhauses finden wir dieses Quadratmaß viereinhalbmal. Die Breite der Seitenschiffe in Quer- und Langhaus entspricht exakt der Hälfte einer Seite dieses Quadrats. Auch der Säulenabstand folgt der halben Quadratseite. Die Seitenschiffeinheit ist also wiederum ein Quadrat, das in seiner Größe ein Viertel des großen Quadratmaßes umfasst. Es kommt sechsundreißigmal vor; mit Ausnahme des Westabschlusses (auf die ich gleich noch eingehe) zieht es sich um den ganzen Baukörper der Kirche. Im Fußboden wird die Quadratur des gesamten Gebäudes auch durch die zwischen den Ziegeln eingelegten grauen Steinbänder sichtbar.
Santo Spirito im Grundriss: ursprünglicher Bauplan von Brunelleschi (links) und letztendliche Ausführung (rechts)
Die Grundeinheit, die das Maß der Mittel- und der Seitenschiffe bildet, ist der Abstand von Säule zu Säule, d. h., für die Quadrateinheit der Seitenschiffe gilt der Säulenabstand selbst, für die der Mittelschiffe der doppelte. „Die Propotionen im Grundriß, das Verhältnis von kleiner zu großer Einheit, sind also in einem Zahlenverhältnis von eins zu vier auszudrücken“ (Gärtner 1998, S. 44). Die umlaufenden Seitenschiffe werden durch halbrunde Grabkapellen geöffnet – davon standen insgesamt vierzig „für potentielle Sponsoren des Neubaus zur Verfügung – ungleich mehr als in jeder anderen Florentiner Kirche“ (Frommel 2009, S. 26). Die Kapellen sind gegenüber dem Bodenniveau der Seitenschiffe jeweils um zwei Stufen erhöht.
Die bescheidene Fassade mit ihren drei statt urspünglich geplanten vier Portalen samt barocken Zutaten
Ein Grundriss der Kirche aus dem Jahr 1465 zeigt Santo Spirito in einer etwas anderen Gestalt als der heutigen. Die Seitenschiffe sollten offensichtlich auch um die Eingangsseite des Langhauses herumgeführt werden, ebenso der Kapellenkranz. Die Folge wäre gewesen, dass die Gläubigen die Kirche durch vier Eingänge hätten betreten können. Doch es kam anders: 1482 wurde der Entwurf von Salvi d’Andrea, dem Nachfolger Brunelleschis als Bauleiter, für die Fassade von Santo Spirito angenommen – sie erhielt nur drei Türen, dem traditionellen Schema entsprechend. Die Voluten und der Giebel an der Fassade sind Zutaten aus barocker Zeit (ebenso wie der Tabernakelaltar von Giovanni Battista Caccini im Inneren). Im heute flachgedeckten Mittelschiff hatte Brunelleschi eigentlich ein Tonnengewölbe vorgesehen. Die letzte auffällige Abweichung vom ursprünglichen Plan betrifft die Kapellen, deren Außenfronten unverkleidet bleiben sollten. Doch da sie später (1758) dennoch verkleidet wurden, sind deren Grundformen, die Konchen, heute nicht mehr erkennbar. Die Kranz der Kapellen wäre als eine Abfolge konvexer, nach außen gewölbter Ausbuchtungen in Erscheinung getreten. „Die von Brunelleschi intendierte Durchdringung von Außen und Innen ist verlorengegangen, seine bemerkenswerte Aufassung von der Wand wurde aufgegeben“ (Gärtner 1998, S. 46).
Blick in das rechte Querhaus
Mit der Gestaltung des Ostabschlusses weicht Brunelleschi entscheidend von der traditionellen Form romanischer oder gotischer Kirchen ab. Der Chor und die Querschifffarme haben die gleiche Gestalt, die Seitenschiffe sind rechtwinklig, wie ein Umgang, um alle drei Bauteile geführt, die Vierung wird von einer Kuppel gewölbt. Wenn man im Innern von Santo Spirito steht und vom Langhaus nach Osten blickt, hat man den Eindruck, man befinde sich in einem Zentralbau. „Der zentralisierende Ostabschluß ist ein Beleg für Brunelleschis Bestreben, die Zentralkomposition, das ästhetische Ideal seiner Zeit, mit dem traditionellen Langhaus zu verbinden“ (Gärtner 1998, S. 47).
Eine der insgesamt 35 korinthischen Säulen aus Sandstein
Das Innere von Santo Spirito ist von der gleichen mathematische Klarheit bestimmt, wie sie der Grundriss zeigt. So ist das Mittelschiff genau zweimal so hoch wie breit, doppelt so breit wie die Seitenschiffe, das Erdgeschoss und der Obergaden haben die gleiche Höhe, die Seitenschiffsjoche sind doppelt so hoch wie breit. Die offenen Arkaden des Mittelschiffs werden in der Gliederung der Seitenschiffswände wiederholt. Den Säulen dort stehen Halbsäulen hier gegenüber. Zur Ausgewogenheit von Santo Spirito trägt auch die Farbigkeit des Kirchenraums bei: das Rot des Fußbodens, das Hellgrau der Säulen und das Weiß der Wandflächen. Wer die Kirche betritt, ist sofort beeindruckt von der alle Bauteile erfassenden Harmonie. In ihr spiegelt sich auch das religiöse Weltverständnis der damaligen Zeit: Denn, so war man überzeugt, auch der Kosmos, die Schöpfung Gottes, ist nach genauen Gesetzen und harmonischen Maßverhältnissen geschaffen.

Glossar
Arkade: ein von Pfeilern oder Säulen getragener Bogen.
Basilika: meist nach Osten ausgerichteter Kirchenbau mit einem Hauptschiff und zwei oder vier niedrigeren Seitenschiffen; durch Fenster im Obergaden des Mittelschiffs und in den Seitenwanden der äußeren Seitenschiffe belichtet.
Konche: Einbuchtung oder halbrunde Nische mit einer Halbkuppel.
Obergaden: Fensterzone im oberen Teil des Mittelschiffes einer Basilka.
Vierung: der Bereich einer Kirche, in dem sich Lang- und Querhaus kreuzen.
Volute: spiral- oder schneckenförmiges Schmuckelement.

Literaturhinweise
Frommel, Christoph Luitpold: Die Architektur der Renaissance. Verlag C.H. Beck, München 2009, S. 25-26;
Gärtner, Peter J.: Filippo Brunelleschi 1377–1446. Könemann Verlag, Köln 1998, S. 44-53;
Markschies, Alexander: Brunelleschi. Verlag C.H. Beck. München 2011, S. 116-119; 
Paolucci, Antonio: Kirchen in Florenz. Hirmer Verlag, München 2003, S. 266-285. 

(zuletzt bearbeitet am 23. September 2019)

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