Montag, 30. September 2024

Besuch aus der Hölle – Martin Schongauers Kupferstich „Der hl. Antonius, von Dämonen geplagt“


Martin Schongauer: Der hl. Antonius, von Dämonen geplagt (um 1470);
Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Zwischen Himmel und Erde schwebend, muss der Eremit Antonius Qualen erleiden, die ihm neun dämonische Mischwesen zufügen. Sie schlagen mit Knüppeln auf ihn ein, zerren an seinen Haaren und Händen, an Mantel, Skapulier und Pilgerstab und verkrallen sich in sein härenes Büßergewand. In drastischem Gegensatz dazu lässt der Heilige diese hektisch-brutalen Angriffe geduldig über sich ergehen; sein Gesichtsausdruck wirkt ergeben, beinahe teilnahmslos, sein Blick ist nach rechts in die Ferne gerichtet, ohne seine Peiniger zu beachten. Dass die wüsten Attacken Antonius nichts anhaben können, zeigt ein kleines Detail: Er hat den Fuß auf das Knie des unten weit zurückgebogegenen Dämons gesetzt, der zwar nach Kräften am Ordensgewand zieht, dem Heiligen dabei aber in Wirklichkeit als Stütze dient.
Der hl. Antonius, von Dämonen geplagt gehört zu den frühen, d. h. kurz nach 1470 entstandenen Kupferstichen von Martin Schongauer (um 1440–1491); er war schon bald danach einer seiner berühmtesten und am häufigsten kopierten Grafiken. Schongauers Kupferstich wird oft fälschlicherweise Die Versuchung des hl. Antonius genannt. Versuchungsszenen mit dem hl. Antonius zeigen jedoch Trugbilder, die der Teufel dem Eremiten vorspiegelt – sie sollen den Heiligen daran erinnern, welche weltlichen Freuden ihm wegen seiner asketischen Lebensweise entgehen. Die Überlieferung vom Leben des Antonius berichtet häufig von Ekstasen und Visionen, bei denen der Eremit Versuchungen und Peinigungen durch Teufel ausgesetzt war. Eine solch drastische Darstellung dieser Berichte, wie Schongauer sie zeigt, war in der Kunst allerdings eine Neuheit.
Hier gibts ordentlich Saures für den Eremiten
Schongauers Schreckgespenster sind aus unterschiedlichen tierischen Elementen phantastisch zusammengesetzt, bei denen ins Groteske gesteigerte echsen-, fisch- und vogelartige sowie amphibische Formen vorherrschen; aber auch ein Elefantenrüssel oder der Oberkörper eines zottigen wilden Tieres kommen vor. Mit Ausnahme des Wesens links außen sind ihre Gesichter fratzenhaft verzerrt und ihre Mäuler bedrohlich aufgerissen. Die Dämonen sind über, hinter, neben und unter Antonius angeordnet, allerdings nicht gleichmäßig: Im Bereich seines Kopfes agieren allein fünf, drei zerren links unten an ihm, und nur einer stemmt sich rechts gegen das Bein des Heiligen. Dennoch erhält die Gruppe durch die Schweife, Flügel und Keulen der Spukgestalten einen geschlossenen, ungefähr elliptischen Umriss, die in kreisender Bewegung zu zu sein scheint. Das Kreisen der Komposition wird noch dadurch unterstrichen,
„dass das Gesäß des Dämons unten rechts sich als ein zweites, groteskes Gesicht erweist, wenn man dem Impuls folgt und den Kupferstich dreht“ (Sonnabend 2022, S. 112). Rechts unten erscheinen unwirtliche Felsen, die den irdischen Bereich anzeigen, über den sich Antonius und die Dämonen erhoben haben. Zentrum der Komposition ist das bärtige Haupt des duldenden Eremiten, auf das die lange, helle Bahn des Skapuliers den Blick lenkt.
Die Figuren sind nah an den vorderen Bildrand gerückt; kontrastreich setzen sich die dunklen Gestalten gegen den hellen Hintergrund ab. Stacheln, Federn, Fell und dergleichen sind virtuos realistisch wiedergegeben – ohne Zweifel ist diese Genauigkeit von der altniederländischen Malerei übernommen, mit der sich Schongauer während seiner Wanderjahre intensiv auseinandergesetzt hatte. Sicherlich beruht die Darstellung einzelner Glieder und Körperteile auf eigenen Naturstudien, aber ihre Zusammensetzung zu solch bizarren Plagegeistern war Schongauers originale Erfindung.
Zum einen steht Antonius in Schongauers Darstellung beispielhaft für das demütige Erdulden von Anfechtungen. Zum anderen ist sein Kupferstich theologisch vor allem mit einer Stelle aus dem Epheserbrief des Paulus in Verbindung zu bringen: „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel“ (Epheser 6,12; LUT). 
Albrecht Dürer: Ritter, Tod und Teufel (1513); Kupferstich
(für die Großansicht einfach anklicken)
Lucas Cranach d.Ä.: Der hl. Antonius, von Dämonen geplagt (1506);
Holzschnitt (für die Großansicht einfach anklicken)
Schongauers Kupferstich
– sein zweitgrößter nach der Großen Kreuztragung (siehe meinen Post Die Stille im Auge des Sturms“) – machte auf seine Zeitgenossen großen Eindruck. So ließ sich etwa Albrecht Dürer (1471–1528) in seinen 1498 veröffentlichten Holzschnitten zur Apokalypse und 1513 in seinem berühmten Kupferstich Ritter, Tod und Teufel von Schongauers Einfällen inspirieren (siehe meinen Post Unbeirrt und furchtlos“). Auch Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) griff 1506 in einem Antonius-Holzschnitt auf Schongauers Vorlage zurück: Bei ihm ist Antonius in der Luft auf den Rücken gefallen und wirkt dadurch noch hilfloser; außerdem kontrastiert hier der chaotische Luftkampf deutlich mit einer stillen Landschaft, die sich unmittelbar unter der turbulenten Szene entfaltet. 
Matthias Grünewald: Hl. Antonius, von Dämonen geplagt
(Isenheimer Altar); Colmar, Musée d' Unterlinden
Auch bei den Fabelmonstern von Matthias Grünewald (1470–1528) auf dessen Isenheimer Altar und bei Hieronymus Bosch (1450–1516) sind die Auseinandersetzung und das Wetteifern mit dem Vorbild festzustellen. Im 20. Jahrhundert ist es dann Max Ernst (1891–1976) gewesen, der
Schongauer seine Referenz erweist: Auf seinem Gemälde Die Versuchung des hl. Antonius (1945)
Max Ernst: Die Versuchung des hl. Antonius (1945); Lehmbruck Museum, Duisburg
bedrängt ein Gewirr von geschnäbelten, gehörnten, geflügelten, klauenfüßigen und geifernden Mischwesen den Eremiten.

Literaturhinweise
Eissenhauer, Michael (Hrsg.): Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2021, S. 236;
Falk, Tilman/Hirthe, Thomas: Martin Schongauer. Das Kupferstichwerk. Staatliche Graphische Sammlung, München 1991;
Kemperdick, Stephan: Martin Schongauer. Eine Monographie. Michael Imhof Verlag, Petersburg 2004;
Sonnabend, Martin: Vor Dürer. Kupferstich wird Kunst. Deutsche und niederländische Kupferstiche des 15. Jahrhunderts aus der Graphischen Sammlung des Städel Museums. Sandstein Verlag, Dresden 2022, S. 112-114;
LUT = Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

(zuletzt bearbeitet am 30. September 2024)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen