Sonntag, 18. Oktober 2020

Die Stille im Auge des Sturms – Martin Schongauers „Große Kreuztragung“

Martin Schongauer: Große Kreuztragung (um 1475); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)

Als Martin Schongauer (um 1440–1491) sich dem Kupferstich zuwandte, steckte diese Form der Bildvervielfältigung, ungefähr 40 Jahre nach seinen Anfängen, noch in den Kinderschuhen. Um 1430 war sie am Oberrhein aus einer Technik der Goldschmiede, dem Gravieren, entwickelt worden. Zum herausragenden grafischen Verfahren aber sollte der Kupferstich erst durch Schongauer werden, der das Malerhandwerk erlernt hatte und der erste „peintre graveur“ nördlich der Alpen wurde. Schongauers berühmtester Kupferstich – neben seinem Hl. Antonius, von Dämonen gepeinigt (siehe meinen Post „Besuch aus der Hölle“) ist ohne Frage die Große Kreuztragung, mit einem Format von etwa 29 x 43 cm zugleich der größte Stich des nordalpinen 15. Jahrhunderts überhaupt.

Aus der hinten rechts im Tal liegenden Stadt Jerusalem kommend, bewegt sich ein langer und figurenreicher Zug nach vorn und biegt um eine schwarze Felsnase in der Mitte der Komposition nach links hinten. Durch diesen Richtungswechsel rückt die Gruppe um den kreuztragenden Christus nah an uns heran. Der Zug überwindet einen beträchtlichen Höhenunterschied, denn er beginnt auf dem Niveau des Meeresspiegels, wo Schongauer Jerusalem angesiedelt hat, und führt hinauf in die Berge zur Richtstätte Golgatha. Unmittelbar durch das Tor in einem Turm der Stadtmauer sind noch die letzten ausziehenden Kriegsknechte mit ihren Lanzen zu sehen. Die Überleitung zur Hauptgruppe bildet im Mittelgrund ein lanzenbewehrter Reiter: Er folgt den ebenfalls hoch zu Ross sitzenden und von Helfern umgebenen Würdenträger, die nun bereits im Vordergrund angelangt sind. Der Reiter ganz links, möglicherweise der Hohepriester Kaiphas, hält in seiner Rechten eine Schriftrolle, bei der es sich um eine Textpassage aus der Thorah handeln könnte, die mit der Verurteilung Christi in Verbindung steht.

Der dornengekrönte Erlöser ist in diesem Moment an einer Bodenwelle unter der Last des riesigen Kreuzes in die Knie gesunken. Während Christus kurz am Boden verharrt, die Schergen ihn zerren und mit einem Seil voranpeitschen wollen, haben die Reiter inzwischen zu Simon von Kyrene aufgeschlossen, der das Kreuz tragen helfen soll. Dieser ist für den Betrachter kaum sichtbar, weil er nun fast hinter dem Pferd eines Orientalen, vermutlich Pilatus, verschwindet. Simon bemüht sich anscheinend, das hintere Ende des Holzes zu halten oder es wieder vom Boden hochzuwuchten, damit es weitergehen kann. Vor dem Kreuz jedoch hat sich die Menge derweil weiterbewegt, so dass nun eine Lücke zur Haupttruppe entstanden ist. Auf dem weiteren Weg am linken Bildrand führen Soldaten die beiden gefesselten und bereits zur Kreuzigung entkleideten Schächer, einen engen Durchlass zwischen Felsen passierend, zur Richtstätte. Hinter ihnen folgen zwei Reiter in Rückenansicht, von denen der linke sich dem Geschehen in der Mitte zuwendet, während der rechte mit seinem Pferd bereits das steil abfallende Wegstück hinabsteigt. Der Schweif seines Pferdes ist kunstvoll geflochten, er selbst trägt eine kostbare Rüstung mit vielen aufgesetzten Halbmonden. Ein weiterer Reiter markiert derweil auf der Kuppe von Golgatha schon den Platz für die Hinrichtungen. Möglicherweise legt aber auch die Dreiergruppe rechts von der höchsten Erhebung gerade den Ort fest, an dem die Kreuze aufgerichtet werden sollen.

Dass Christus in diesem Augenblick tatsächlich verharrt, verdeutlichen der gespannte Strick, mit dem ihn ein Scherge weiterzerren will, und der brüllende Mann hinter dem Kreuzbalken, der ihm anscheinend das Holz wieder richtig auf die Schulter rückt. Durch dieses Stillstehen Jesu kann sein vom Kreuzholz gerahmtes Gesicht frontal im Typus der Vera Ikon dargeboten werden. „Als Zentrum der Komposition wird es dem frommen Betrachter Gegenstand der Verehrung und erscheint, bei seiner beträchtlichen Vergrößerung, wie ein Bild im Bild“ (Kemperdick 2006, S. 51). Dem Blickpunkt nach befinden wir uns auf derselben Höhe wie der Geschundene, niedriger als die Schergen, und teilen auf diese Weise die Leidensperspektive Jesu. „Christi direkter Blick appelliert in diesem Sinne an den Betrachter, ihm nachzufolgen und sein eigenes Kreuz zu tragen“ (Kemperdick 2006, S. 51). Eine solche Auforderung ist generell der Sinn der im 15. Jahrhundert beliebten Kreuztragungsszenen und Einzelfiguren des kreuztragenden Christus.

Bei aller kleinteiligen Fülle, allem Naturalismus im Detail, der genau wiedergegebenen Materialtexturen, strubbeligen Haare, Felle oder Nähte auf den Kleidungsstücken hat Schongauer der Christusgestalt den alten mittelalterlichen Bedeutungsmaßstab gegeben, ihn also mit vergößerten Proportionen dargestellt. Selbst wenn es auf den ersten Blick kaum auffällt, ist sein Kopf so hoch wie der Unterarm des Schergen vor ihm, sein Arm so lang wie dessen Bein. Das sichert der Erlösergestalt die Dominanz und lässt seine Peiniger im Wortsinn „klein“ erscheinen. Inmitten von Schergen und wenig mitfühlenden neugierigen Zuschauern ist Christus zugleich aber auch besonders allein. Die Hunde im Bildvordergrund links spielen dabei auf Psalm 22,17 an („Hunde haben mich umgeben“; LUT) und verweisen auf die Nachstellungen der Häscher. – Das Motiv des boshaften Knaben im Vordergrund links – wurfbereit trägt er Steine in der Rocktasche mit sich – findet sich bereits auf einem Flügel des 1437 entstandenen Wurzacher Altars von Hans Multscher (um 1400–1467).

Hans Multscher: Kreuztragung (1437), Berlin, Gemäldegalerie

Weit im Hintergrund, ohne dass Christus sie sehen könnte, sind die Mutter Jesu, mit vor der Brust gekreuzten Armen, der weinende Lieblingsjünger Johannes und drei weitere Marien zu erkennen, darunter die verzweifelt auf einen Fels gesunkene Magdalena. Die Freunde Christi sind auf dem Seitenweg, auf dem soeben eine weitere Frau auftaucht, von der Stadt heraufgekommen und sinken nun bei dem Anblick nieder, der sich ihnen aus der Ferne bietet. Ihr Pfad führt weiter zum Hauptweg nach Golgatha, und genau dort wartet eine weitere Frau, tief bekümmert und von einem Schergen mit herausgestreckter Zunge verhöhnt. Es handelt sich bei dieser Figur ohne Zweifel um Veronika, die daran erkennbar ist, dass sie das noch unbenutzte Schweißtuch über ihrem rechten Unterarm trägt. Sie wird in wenigen Augenblicken ihr Tuch entfalten und es Christus reichen, wenn dieser sich wieder aufgerichtet hat. Christi Gesicht wird dabei genau das Bild auf dem Tuch hinterlassen, das wir gerade von ihm sehen.

Schongauers Große Kreuztragung, um 1475 entstanden, ist eine Arbeit, für die man sich Zeit nehmen muss – sonst übersieht man so manches Detail, wie etwa die drei Nägel, die ein Lanzenträger direkt vor dem Kopfende des Kreuzes in der Hand hält, oder der dazu gehörige Hammer, den der junge Scherge auf der anderen Seite des Kreuzes am Gürtel mitführt. Das ist so gewollt von Schongauer, denn die Versenkung in das Bild soll der Meditation über das Heilsgeschehen dienen. Beeindruckend an Schongauers Grafik ist nicht nur die Fülle bewegter Figuren, sondern auch die Landschaft: Im hellen Sonnenglanz liegt hinten rechts vor spiegelglattem Meer Jerusalem als südländische Stadt. Sie wird von einer mächtigen Mauer geschützt; in ihr befindet sich ein hoher Turm, dessen Laterne ein Halbmond bekrönt. „Schongauer hat die Stadt unter dem dort wolkenlosen Himmel nur mit dünnen Strichen angedeutet, um das durch die spiegelnde Meeresfläche zusätzlich verstärkte gleißende Licht wirkungsvoll zeigen zu können“ (Schauder 1991, S. 91). Über Golgatha aber zieht sich der Himmel zu, es herrscht Gewitterstimmung. Die von links drohend ins Bild ragende Wolkenformation bedeckt etwa die Hälfte des Himmels und kündigt die bereits die beim Kreuzestod Christi sich ereignende Finsternis an (Matthäus 27,45). Im Kupferstich ist dies die erste Darstellung eines verdunkelten Himmels, der Ende des 15. Jahrhunderts selbst in der Tafelmalerei noch die große Ausnahme war. Der schwere dunkle Fels in der Mittelachse wiederum fungiert als Dreh- und Angelpunkt der Komposition: An ihm teilen sich Vorder- und Mittelgrund; deren Schwelle bildet der fast schwarze Mittelstreifen bildet, über dessen Kamm der gerüstete Soldat gerade hinwegreitet. Die Felsformation erscheint zudem als dramatisch lastendes Gewicht über Christus und bindet zugleich ihn, das Kreuz und die ihn umgebenden Häscher in einer Dreiecksform zusammen.

Lucas van Leyden: Die Bekehrung des Saulus (1509); Kupferstich (für die Großansicht einfach anklicken)
Schongauers Komposition ist ohne Frage die Inspirationsquelle für einen ebenfalls großen, querformatigen Kupferstich des niederländischen Künstlers Lucas van Leyden (1494–1533) gewesen: Die Bekehrung des Paulus von 1509 (28,5 x 40,9 cm). In ähnlicher Weise wie Schongauer zeigt van Leyden eine vielfigurige Prozession von Personen, die zu Fuß oder Pferd in den unterschiedlichsten Haltungen und Bewegungen am Betrachter vorbeiziehen. Auch die Landschaft mit ihren aufragenden Felsformationen dürfte auf Schongauer zurückgehen. Die dramatische Szene, in der Saulus von himmlischem Licht geblendet vom Pferd stürzt, ist kleinfigurig links im Mittelgrund platziert, während im Vordergrund der erblindete Saulus, ein barhäuptiger gebeugter Greis, von seinen Genossen gestützt und geführt, seine Reise nach Damaskus fortsetzt (Apostelgeschichte 22,6-11). Das Blatt ist das erste in einer Reihe von fünf Stichen, die van Leyden im damals größten Papierformat (Folio-Format) zwischen 1509 und 1519 anfertigte. Alle zeigen biblische Szenen mit einer reichen Zahl an Begleitpersonen.  

 

Literaturhinweise

Eissenhauer, Michael (Hrsg.): Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2021, S. 246;

Falk, Tilman/Hirthe, Thomas: Martin Schongauer. Das Kupferstichwerk. Staatliche Graphische Sammlung, München 1991, S. 53-55;

Kemperdick, Stephan: Martin Schongauer. Eine Monographie. Michael Imhof Verlag, Petersburg 2004, S. 51-54;

Schauder, Michael: Die große Kreuztragung. In: Hartmut, Krohm/Jan Nicolaisen (Hrsg.): Martin Schongauer – Druckgraphik. Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1991, S. 91-93;

LUT = Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

(zuletzt bearbeitet am 13. April 2022) 


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