Mittwoch, 10. Januar 2024

Sehnsucht nach Weite und Freiheit – Caspar David Friedrichs „Frau am Fenster“ (1822)

Caspar David Friedrich: Frau am Fenster (1822); Berlin, Nationalgalerie
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Die Frau am Fenster aus der Berliner Nationalgalerie ist – neben dem Hamburger Gemälde Wanderer über dem Nebelmeer – Caspar David Friedrichs wohl bekannteste Rückenfigur und zugleich das einzige Innenraumbild, das er gemalt hat.

Caspar David Friedrich: Wanderer über dem Nebelmeer (um 1817); Hamburg,
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Das Motiv erscheint anspruchslos: Eine junge Frau steht an einem Fenster und blickt hinaus, über einen Fluss hinweg auf das jenseitige Ufer, an dem eine Reihe grüner Pappeln zu sehen ist. Der Mast eines am diesseitigen Ufer liegenden Schiffes und der eines am jenseitigen verdeutlichen den Abstand. Bei der Rückenfigur handelt es sich wahrscheinlich um Caroline Bommer, die 19 Jahre jüngere Ehefrau des Malers, die er 1818 geheiratet hatte; der Fluss ist wohl die Elbe – Friedrich hatte 1820 in Dresden mit seiner Familie eine neue Wohnung in unmittelbarer Ufernähe bezogen.

Das karge, dunkle Zimmer mit seinen nackten, undurchdringlich wirkenden Wänden und Fensterlaibungen hat so gar nichts von biedermeierlicher Behaglichkeit an sich. Außer den beiden Flaschen und dem Glas auf einem Tablett enthält es nichts, zumindest nichts, was wir sehen könnten. Die breiten Dielen des Bodens verstärken noch den Eindruck der Leere. Die vertikalen Ecklinien der Wände und die seitliche Rahmenbegrenzung des Bildes verengen diesen Raum so sehr, dass die junge Frau fast wie eingesperrt wirkt. Trotz des geöffneten Fensters behält die Kammer den Charakter einer Klosterzelle, ja beinahe den eines Gefängnisses.

Friedrich reichte das Gemälde 1822 zur Dresdener Akademie-Ausstellung ein, und zwar mit dem Titel Des Künstlers Atelier, nach der Natur gemalt. Caroline lehnt sich also aus dem Fenster in der Werkstatt ihres Mannes, denn man erkennt die den Lichteinfall regulierende Fensterkonstruktion, wie sie auch auf den Porträtbildern von Georg Friedrich Kersting wiedergegeben sind (siehe meinen Post „Malen, was man in sich sieht“). Die beiden kleinen Flaschen und ein Glas für Pinsel bestätigen, dass Friedrich hier arbeitet. Er selbst ist abwesend. Vielleicht ist Caroline eingetreten, um den Raum zu lüften. Die elliptische Fläche zu ihren Füßen der Frau ist dunkler, abgetretener als der Rest des Holzbodens – Caroline war wohl schon oft an dieser Stelle, geht immer wieder an dieses Fenster.

Das obere Fenster wird durch ein schmales Eisenkreuz gegliedert. Dabei ist der obere Teil sicherlich nicht zufällig im Bildausschnitt niedriger als der untere. Der senkrechte „Kreuzbalken“ teilt das Bild genau in zwei Hälften und setzt sich nur minimal verschoben in dem Mast des am jenseitigen Elbufer liegenden Schiffes fort. „Das reicht, um die Vorstellung von Bewegung in dem sonst gewissenhaft nach den Gesetzen der Perspektive konstruierten Raum zu erzeugen“ (Börsch-Supan 2023, S. 149). Das leichte Schwanken der Schiffsmasten, die durch die Bewegung des Wassers hervorgerufen wird, teilt sich der Frauengestalt mit, ja sogar der Architektur: Es scheint, als sinke der Raum nach rechts ab. „Das Gleichgewicht wird durch die leichte Neigung der Frau nach der anderen Seite wiederhergestellt“ (Börsch-Supan 1987, S. 134). 

Die Anlage von Friedrichs Bild ist symmetrisch und mit einer ganzen Reihe deutlich akzentuierter senkrechter und waagrechter Linien versehen, wirkt aber dennoch nicht starr. Darin unterscheidet sich die Frau am Fenster von dem früheren Bild Frau vor der untergehenden Sonne aus Essen (siehe meinen Post „Abenddämmerung oder Morgensonne?“). Die leichten Bewegungen und Abweichungen von der Symmetrie sind bei dem Berliner Bild entscheidend für diesen Eindruck.

Caspar David Friedrich: Frau vor der untergehenden Sonne (um 1818); Essen, Museum Folkwang
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Unter dem verglasten Teil des Fensters ist dieses durch eine Holzkonstruktion verdunkelt, bei der die Mitte als Flügel hier geöffnet ist. Aus der Dunkelheit des Zimmers blickt man durch diese Fensteröffnung in das helle Draußen, aus dem der Raum alles Licht empfängt: Über dem flirrenden Gelbgrün der frühlingshaften Pappeln am gegenüberliegenden Flussufer breitet sich der unendliche Himmel mit seinen ruhig dahinziehenden Wolken. Die Kammer wird nebensächlich, und wir merken: Die Helle in den Öffnungen macht das eigentliche Bild aus. Wir nehmen sofort teil am Hinausschauen der Frau: Es ist ein Blick aus bedrückender Enge hinaus in ersehnte Weite und Freiheit.

Damit sind die Gegensätze benannt, die das kleine, nur 44 cm hohe Gemälde bestimmen und auch für den aufmerksamen Betrachter schnell spürbar werden. Den nüchternen, eigentlich trostlosen Innenraum sollen wir als Gleichnis verstehen „für die Enge der irdischen Welt“ (Börsch-Supan 1987, S. 134), für unser begrenztes diesseitiges Leben in all seiner Dunkelheit. Wodurch erhält es Licht? Das schmale Fensterkreuz deutet es an: durch Christus. Nur durch den Gekreuzigten hindurch gibt es Aussicht auf ein ewiges Leben, auf Beständigkeit und göttliche Fülle. Das andere Ufer, zu dem die Frau sehnsuchtsvoll hinüberschaut, wird so zum Sinnbild des Jenseits im religiösen Sinn, wie Helmut Börsch-Supan meint. Die beiden Schiffe sind – wie schon in den Kreidefelsen auf Rügen – Symbole für den Menschen, der seine letzte Reise antritt (siehe meinen Post „Hochzeitsbild oder religiöse Meditation?“). Der Fluss, so Börsch-Supan, sei der Tod: Der emporragende Mast des am diesseitigen Ufer festgemachten Schiffes und der gleichartige Mast am jenseitigen Ufer erweckten den Eindruck einer Überfahrt. „Das antike Motiv des Flusses der Unterwelt, den Charon auf seinem Nachen überquert, wird in christlichem Sinn umgedeutet“ (Börsch-Supan 1987, S. 134).

Caspar David Friedrich: Kreidefelsen auf Rügen (1818); Winterthur,
Kunst Museum (für die Großansicht einfach anklicken)

Die schlanken, geraden Pappeln hat Friedrich immer wieder wegen ihres zum Himmel strebenden Wuchses verwendet, um auf die über den Tod hinausreichende Hoffnung des Christen anzuspielen. Grün wie die Pappeln ist auch das einfache Gewand Carolines, Sinnbild ihrer Frömmigkeit und Auferstehungshoffnung.

Vilhelm Hammershøi: Schlafzimmer (1890); Kopenhagen, Den Hirschsprungske Samling

Der dänische Maler Vilhelm Hammershøi (1864–1916) hat 1890 Friedrichs Bildmotiv in seinem Gemälde Schlafzimmer adaptiert. Hammershøi kann aber die Frau am Fenster nicht aus eigener Anschauung gekannt haben, da Friedrichs Werk Ende des 19. Jahrhunderts vergessen war und sich das Bild im Besitz der Schwiegertochter von Friedrichs Bruder in Greifswald befand. Felix Krämer vermutet, dass der norwegische Kunsthistoriker und Friedrich-Forscher Andreas Aubert (1851–1913) das Bindeglied zwischen den beiden Künstlern gewesen ist – es spreche viel dafür, so Krämer, dass Aubert Hammershøi mit Friedrichs Kompositionen durch Erzählungen vertraut gemacht habe.

Neben dem Bildaufbau bestehen im Blick auf die Interieurs bei Friedrich und Hammershøi weitere Parallelen, und zwar in der reduzierten Farbigkeit und der auf wenige Elemente begrenzten Komposition – Merkmale, die grundsätzlich für Hammershøis Kunst kennzeichnend sind. Allerdings hat Friedrich seinen Innenraum auf eine Fensternische reduziert, die dem Betrachter Ausblick auf Schiffsmasten, eine Pappelreihe und zarte Wolken am sommerlichen Himmel gewährt. Hammershøi hingegen konzentriert sich darauf, die karge Einrichtung des Zimmers zu schildern. Nur schemenhaft zeichnen sich durch das geschlossene Fenster einige wenig belaubte Bäume vor dem grauen Himmel ab. Anders als bei Friedrich bietet die Landschaft keine Ablenkung. „In dem spärlich möblierten Raum wird Hammershøis Protagonistin zu einer Metapher von Vereinzelung und Verlorenheit, in der auch der Blick aus dem Fenster keine Hoffnung verspricht“ (Krämer 2007, S. 162).

Edward Hopper: Zimmer in Brooklyn (1932); Boston, Museum of Fine Arts

Der amerikanische Maler Edward Hopper (1882–1967) hat das Motiv einer in Rückenansicht gezeigten, aus dem Fenster blickenden Frau ebenfalls aufgegriffen. In einem 1932 entstandenen Gemälde sitzt die weibliche Figur allerdings in einem Schaukelstuhl. Drei niedrig ansetzende Fenster zeigen einen blauen Himmel sowie die oberen Stockwerke und Dächer einiger Häuser in Brooklyn; zum Schutz vor der Sonne sind im oberen Drittel der Fenster Rollos herabgezogen. Geschmückt wird das Zimmer einzig durch einen Blumenstrauß in einer weißen Vase, ansonsten gibt es keinerlei Hinweise auf weitere Personen bzw. ein Zusammenleben mit ihnen. Die melancholische Grundstimmung des Bildes lässt die Frau als Sinnbild der Vereinzelung und Vereinsamung erscheinen, denn auch in den gegenüberliegenden Gebäuden ist kein Lebenszeichen auszumachen. Doch wie so oft bei Hopper muss man vorsichtig sein: Ob sich der Blick dieser Frau sehnsuchtsvoll-traurig nach außen richtet, oder ob sie einfach nachdenklich in sich versunken ist, den Streifen Sonnenlicht genießend, in den der Maler sie taucht, wissen wir nicht.

Literaturhinweise

Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Prestel-Verlag, München 41987;

Börsch-Supan, Helmut: Caspar David Friedrich. Seine Gedankengänge. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 2023;

Hevers, Edda: Die Kunst der Wahrnehmung. Zu Caspar David Friedrichs Fensterbildern. In: Gisela Greve (Hrsg.), Caspar David Friedrich. Deutungen im Dialog. edition diskord. Tübingen 2006, S. 121-138;

Krämer, Felix: Das unheimliche Heim. Zur Interieurmalerei um 1900. Böhlau Verlag, Köln 2007, S. 153-177.

Dienstag, 2. Januar 2024

Kühle Ingenieurskunst – „Der Eiserne Steg“ von Max Beckmann

Max Beckmann: Der Eiserne Steg (1922); Düsseldorf,
Kunstsammlung NRW (für die Großansicht einfach anklicken)

In den 1920er-Jahren gehören Stadtansichten von Frankfurt zu den zentralen Bildmotiven Max Beckmanns. Beckmann lebte von 1915 bis 1937 in Frankfurt und entwickelte in dieser Zeit seinen ihn kennzeichnenden Stil zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit. Seit 1925 hatte er eine Stelle als Meisterlehrer an der Städelschule inne, die ihm direkt nach der Machtergreifung Hitlers im Zug der nationalsozialistischen Kampagne gegen die „Entartete Kunst“ fristlos gekündigt wurde.

Max Beckmann: Die Synagoge in Frankfurt am Main (1919); Frankfurt, Städel Museum
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Den Beginn von Beckmanns Stadtansichten bildet Die Synagoge in Frankfurt am Main (1919). Eine der bekanntesten Arbeiten dieser Werkgruppe ist das Gemälde Der Eiserne Steg von 1922. Dominiert wird die Komposition von der gleichnamigen Fußgängerbrücke, die, hier in steiler Aufsicht gezeigt, die Frankfurter Stadtteile Römerberg und Sachsenhausen miteinander verbindet und nur wenige Gehminuten von Beckmanns damaligem Atelier gelegen ist. Majestätisch und kühl beherrscht das 1868/69 von Peter Wilhelm Schmick erbaute Stahlgerüst die diagonale Bildachse, während die Fassade der neugotischen Dreikönigskirche einen architektonischen Akzent im Hintergrund links setzt. Kennzeichen der zunehmenden Industrialisierung, darunter das auf dem Main dahingleitende Dampfschiff und der rauchende Fabrikschornstein im Hintergrund, überragen die verloren wirkenden Gestalten der wenigen winzigen Stadtbewohner. Die Menschen sind insbesondere im Verhältnis zum Eisernen Steg minimalisiert. Sie wirken eher wie Komparsen und scheinen der hochgelobten technischen Neuerung, die damals großes Aufsehen erregte, untergeordnet. Sachsenhausen selbst ist erstaunlicherweise menschenleer.

Der Blick auf das Sachsenhäuser Ufer mit der zwischen 1875 und 1880 erbauten Dreikönigskirche entspricht noch der heutigen Ansicht; der große rote Schornstein sowie die drei am Horizont auftauchenden Fabrikschlote sind eine Erfindung Beckmanns. Die grün umzäunte Badeanstalt existiert heute nicht mehr. Auf dem Main zieht ein Schlepper namens „MAINZ“ ein Floß, dessen Fahrwasserwellen ein Ruderboot mit drei Personen umspült, und am diesseitigen Ufer sind als weitere Eisenkonstruktionen ein Kran und ein Bagger abgebildet. Ebenso wie in Beckmanns Bild Das Nizza in Frankfurt am Main von 1921 ist hier weitestgehend die tatsächlich bestehende Ansicht einer Stadt zu erkennen.

Max Beckmann: Das Nizza in Frankfurt am Main (1921); Basel,
Kunstmuseum (für die Großansicht einfach anklicken)
Eine klare Z-Form verbindet die drei Ebenen der Komposition: Gebildet wird sie aus den schrägen Linien der Telegrafendrähte von links oben nach rechts, die Diagonalen der in die Tiefe fliehenden, auf vier massiven Steinpfeilern ruhenden Brückenkonstruktion, die die hintere mit der vorderen Ebene verbindet, und der Schräge in der Ecke links unten. Trotz der dynamischen Brücken-Diagonale wirkt Beckmanns Gemälde statisch. „Die klar abgegrenzten Gegenstände sind starr, isoliert, collagenhaft montiert. Die mit einem feinen Pinsel Detail für Detail glatt und exakt gemalten Gegenstände, präzise schwarz konturiert, unterstützen den Eindruck des Unbewegten“ (Harter 1990, S. 88). Die Rauchwolken, die wie „eingefroren“ und kondensiert erscheinen, entsprechen den Laubkronen am Sachsenhäuser Ufer. Der Eindruck des Erkalteten und Starren wird von dem metallischen Grau sowie den kühlen Grüntönen unterstützt. „Die Strenge der Komposition, die Isolation der Dinge, der Puppencharakter der Figuren und die »naiven« Wölkchen geben der Ansicht das Aussehen einer aus dem Holzbaukasten zusammengesetzten Spielzeugstadt“ (Harter 1990, S. 88).

Max Beckmann: Eisgang (1923); Frankfurt, Städel Museum (für die Großansicht einfach anklicken)

Der melancholische Unterton, der in Beckmanns Gemälde vernehmbar ist, tritt in der thematisch eng verwandten Folgearbeit Eisgang noch stärker in den Vordergrund. Gegenstand des Bildes ist erneut die Fußgängerbrücke über den Main, die nunmehr an einem kalten Wintermorgen vom westlichen Sachsenhäuser Ufer in den Blick genommen wird. Obgleich der Dom Sankt Bartholomäus hinter dem Eisernen Steg sichtbar ist, wendet sich das Werk ab von einer genauen Wiedergabe der Topografie zugunsten einer dramatischen Darstellung des Flusses. Von einem noch immer leuchtenden Sichelmond wird die Szenerie in ein kaltes Licht getaucht, während mächtige Eisschollen langsam den Main hinuntertreiben.

Max Beckmann: Der Eiserne Steg (1922); Radierung

Beckmann hat 1922 auch eine Radierung seines Gemäldes Der Eiserne Steg angefertigt, auf der die Bildgegenstände seitenverkehrt erscheinen, da die Darstellung nicht spiegelbildlich auf die Kupferplatte übertragen wurde.

1937 emigrierte Beckmann nach Holland, wo er die nächsten zehn Jahre in einer von Armut und Entbehrungen geprägten Exilphase verbrachte und von wo aus ihm die ersehnte Ausreise in die USA erst 1947 gelingen sollte.

 

Literaturhinweise

Harter, Ursula: Der Eiserne Steg, 1922. In: Klaus Gallwitz (Hrsg.), Max Beckmann. Gemälde 1905 – 1950.Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1990, S. 88;

Schulz-Hoffmann, Carla/Weiss, Judith C. (Hrsg.): Max Beckmann. Retrospektive. Prestel-Verlag, München 1984, S. 216.