Sonntag, 15. Oktober 2017

Den Knaben will ich haben! – Rembrandts Radierung „Josef und Potiphars Weib“


Rembrandt van Rijn: Josef und Potiphars Weib (1634); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Die Gemahlin des ägyptischen Würdenträgers Potiphar bedrängt dessen jungen und tüchtigen Verwalter Josef immer wieder mit ihren erotischen Avancen (1. Mose 39, 1-21). Doch Josef ist nicht nur seinem irdischen Herrn gegenüber loyal, er hält sich auch Gott gegenüber an das Gebot, keinen Ehebruch zu begehen. Eines Tages schließlich packt Potiphars Frau ihn an seinem Gewand, um ihn in ihr Bett zu ziehen – Josef jedoch flieht und lässt das Kleidungsstück in ihren Händen zurück. Das ist die Szene, die uns Rembrandt (1606–1669) in seiner Radierung von 1634 präsentiert. Später wird Potiphars Frau den Rock benutzen, um Josef der versuchten Vergewaltigung zu beschuldigen – der deswegen im Gefängnis landet.
Die nur 9 x 11,5 cm große Grafik zeigt zwei erbitterte Kämpfer. Potiphars Frau liegt, schlangenhaft gewunden, auf ihrer zerwühlten Bettstatt und versucht Josef mit der linken Hand auf ihr Lager zu zerren. Dabei entblößt sie ihren fülligen Unterleib – ob das Nachthemd in ihrem Furor nach oben rutscht oder sie sich Josef bewusst lasziv darbietet, sei dahingestellt. Um sich dem Griff ihrer Hände zu entziehen, stemmt sich der Bedrängte mit dem Gewicht seines ganzen Körpers in die entgegengesetzte Richtung. Es ist wie ein Tauziehen – zwischen der Tugendhaftigkeit Josefs und der zudringlichen sexuellen Begierde seiner Herrin. Rembrandt teilt die Darstellung deutlich in eine dunkle Seite des Ehebruchs und eine helle der Standhaftigkeit. Für manche Kunsthistoriker findet allerdings auch in Josefs Innerem ein Kampf statt: „Sein Mund ist seltsam schlaff, die Augen dunkel und zusammengekniffen, als zeige sich in ihnen die Spannung zwischen Erregung und Abscheu. Soll er oder soll er nicht?“ (Schama 2000, S. 398). Josefs Gesichtsausdruck, sein Zurückweichen und Sich-Abwenden angesichts der Handgreiflichkeit seiner Herrin könnten aber ebenso die Abscheu verdeutlichen, die ihn in dieser Situation erfüllt. Jedenfalls berührt er die Frau des Potiphar an keiner Stelle ihres Körpers. Rembrandt hat Josef vor einer Tür platziert, vielleicht um anzudeuten, dass ihm die Flucht gelingen wird.
Rembrandt: Das französische Bett (1646); Radierung (für die Großansicht einfach anklicken)
Der mächtige Bettposten an der rechten Seite ist von Rembrandt deutlich phallisch gestaltet – er betont zusätzlich die Lüsternheit einer Frau, die sich einfach nehmen will, was sie haben möchte. Einen solchen Bettpfosten hat Rembrandt auch in seiner erotischen Radierung Das französische Bett (1646; siehe meinen Post Oh là là!) prominent platziert, um auf die Erektion der Hauptfigur anzuspielen ... Josefs Hände, die starke Schatten werfen, versuchen nicht, den Klammergriff seiner Herrin abzuschütteln, sie schirmen ihn vielmehr vor dem Anblick der rasierten Scham ab, die sich unterhalb des großen Bauches darbietet. Denn bedrängender noch als das gewaltsame Handeln wiegt die zur Schau gestellte Nacktheit: Potiphars Frau hat ihr linkes Bein angewinkelt und damit den Blick auf ihre Vagina freigegeben – und unsere Augen als Betrachter sind ihr offen ausgesetzt. Rembrandt führt uns auf seiner Radierung nicht nur ein Tugendbeispiel vor Augen, sondern konfrontiert uns auf diese Weise auch mit der Macht der Sexualität und unserer eigenen Verführbarkeit. Wir sehen nicht nur ein, sondern zwei Bilder: die biblische Erzählung und das weibliche Geschlecht, zwischen denen unser Blick hin und her wandert“ (Müller 2017, S. 25).
Nach Rembrandts Tod wurde seine Grafik von seinen Kritikern oft als Paradebeispiel dafür angeführt, dass er von Aktdarstellungen nichts verstehe: Er ziehe das Rohe und Naturhafte der reizvollen Gestalt, also dem klassischen Schönheitsideal vor.
Lovis Corinth: Potiphars Weib (1914); Krefeld, Kaiser Wilhelm Museum
Mit der gleichen Drastik wie sein bewundertes Vorbild Rembrandt hat Lovis Corinth (1858-1925) 1914 die alttestamentliche Geschichte ins Bild gesetzt, wobei er die Fleischeslust der nun gänzlich nackten Frau und den Schrecken Josefs nochmals zu steigern verstand.

Literaturhinweise
Bevers, Holm u.a. (Hrsg.): Rembrandt – Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen. Schirmer/Mosel, München 1991, S. 188;
Hammer-Tugendhat, Daniela: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 102-105;
Kreutzer, Maria: Rembrandt und die Bibel. Radierungen, Zeichnungen, Kommentare. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2003, S. 52;
Müller, Jürgen: Sex mit dem Sünder. Überlegungen zu Rembrandts Darstellung von Sexualität am Beispiel ausgewählter Radierungen. In: Jürgen Müller/Jan-David  Mentzel (Hrsg.), Rembrandt. Von der Macht und Ohnmacht des Leibes. 100 Radierungen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2017, S. 21-35; 
Schama, Simon: Rembrandts Augen. Siedler Verlag, Berlin 2000, S. 398-399.

(zuletzt bearbeitet am 20. November 2024)